Yan Lianke 阎连科: Das Verlöschen der Sonne日熄.


(Amanda Kwan & Ulrich Neininger, Rezensionen chinesischer Literatur). Die Menschen in Gaotian sind mitten im Hochsommer mit dem Einholen der Ernte beschäftigt, und da bald ein Gewitter aufziehen soll, drängt die Zeit.  Vor Erschöpfung schlafen einige Bauern  auf dem Feld ein und werden plötzlich zu Schlafwandlern. Sie ernten ihr Getreide im Traum. Der Somnambulismus, der sich wie eine Seuche ausbreitet, setzt das Verdrängte und Unterbewusste frei. Bewusst werden Traumata, Ängste und Wünsche. Es kommt zu Selbstmorden, Morden, Raubzügen und Plünderungen.

Die Ereignisse eines halben Tages und einer Nacht werden von dem Dummkopf Nian Nian erzählt. Nian Nians Eltern betreiben die Neue Welt, ein Fachgeschäft für Opfergaben. Um die Toten in der neuen Welt pflichtgemäß zu versorgen, verbrennen die Familien für sie papierne Blumenkränze und Totengeld, aber auch aus Papier gefertigte Häuser, Kleidung, Autos, Schmuck, Computer und Telefone.  

Der chinesische Ahnenkult schreibt eine aufwendige Erdbestattung vor. Da die Grabstätten oft auf fruchtbarem Ackerland liegen, prangert die kommunistische Führung  den Brauch als verschwenderischen, feudalen Aberglauben an. Nun wollen die lokalen Behörden die Bauern zwingen, ihre Toten einäschern zu lassen. Die Bauern aber widersetzen sich und begraben ihre Toten heimlich weiter.

Der Krematoriumsdirektor Shao setzt die Anordnungen der Regierung rigide um. Wenn er ein heimlich angelegtes Grab findet, lässt er die Leiche ausgraben und verbrennen.

Nian Nians Vater, der Ladenbesitzer Li Tianbao, hat in seiner Jugend gegen Bezahlung die illegalen Begräbnisstätten verraten. Nachdem er aber einmal mitansehen musste, wie Shao eine Leiche aus dem Grab sprengen ließ, verzichtete er auf diese Einkommensquelle, die eigentlich dazu dienen sollte, seine Hochzeit und ein Ziegelhaus zu finanzieren.  Sein Wunsch soll dennoch in Erfüllung gehen. Die hinkende Schwester des Direktors macht ihm ein Angebot: Für die Heirat mit ihr bietet sie Li den Bau eines Hauses an. Zögernd stimmt er zu und gemeinsam eröffnen sie den Laden Neue Welt.

Beim Tod seiner Mutter muss Li Tianbao, so sehr es ihm auch widerstrebt, die Verstorbene einäschern lassen. Als Schwager des Direktors Shao kann er eine heimliche Erdbestattung, wie sie sich die Mutter gewünscht hat, nicht riskieren. Bei der Einäscherung bemerkt er, dass Öl aus dem Brennofen austritt und aufgefangen wird. Es ist Leichenöl. Als er wissen will, was damit geschieht, erklärt ihm Shao:

Verdammt, du bist mein Schwager, deshalb sage ich dir die Wahrheit. Das Öl ist sehr wertvoll, weißt du das? Falls du möchtest, kannst du es auch essen. Knoblauch und Erdnüsse, darin angebraten, schmecken sicher sehr gut. Ich verkaufe es dorthin, wo es Nachfrage gibt, nach Luoyang, nach Zhengzhou, Fabriken in allen Städten möchten das Öl kaufen. Um Seife herzustellen. Um Gummi herzustellen. Für Schmieröl. Das ist ein erstklassiges Industrieöl. Wer weiß, vielleicht ist es auch für den menschlichen Verzehr geeignet. Während der drei bitteren Hungerjahre war Kannibalismus ja auch an der Tagesordnung.

Li Tianbao bittet nun seinen Schwager, ihm künftig das wertvolle Leichenöl zu verkaufen. Doch statt das Öl gewinnbringend weiterzuverkaufen, hortete Li es in einem leerstehenden Stollen.

„Eure Familie“, sagte der Onkel, „ist die allerreichste im Ort. Würdet ihr das Leichenöl im Stollen verkaufen, so bekämt ihr ein oder zwei, vielleicht sogar zig Millionen dafür. Die Industrie kann das Öl brauchen. Sein Preis steigt so wie der Goldpreis.“ Doch mein Vater und meine Mutter wollten das Öl nicht verkaufen. Es war, als würden sie Geld in eine Bank einzahlen und es niemals wieder abheben. „Lassen wir es im Stollen“, sagte mein Vater, „uns fehlt es ja nicht an Geld. – „Lassen wir es im Stollen“, sagte meine Mutter, „es fehlt uns ja nicht an Geld.“

Damit ist Li Tianbao ein Gegenbild zu seinem profitorientierten, kühlen Schwager, dem Krematoriumsdirektor.

Das Leichenöl wird als Rest des leiblichen Daseins wertvoll. Es ist wertvoll, wie die Erinnerung an den Verstorbenen.  Li Tianbao schließt das Öl weg, um es zu bewahren. Allem Anschein nach ist sein Handeln sinnlos und grotesk. Doch das Leichenöl wird schließlich zum Heilmittel, das die Menschen rettet und das Schlafwandeln und das Morden beendet.

In China wird die Erinnerung an die Kulturrevolution und die von furchtbaren Hungersnöten gefolgte Kampagne des Großen Sprungs weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt. Die Erinnerung aber ist das Heilmittel, das die Gesellschaft braucht, um gegen den politischen Wahn immun zu werden. Das Leichenöl wird so zur Metapher für die heilsame Erinnerung des Menschen.

Als im Ort die „Schlafwandelepidemie“ ausbricht, fürchtet Li Tianbao, die Epidemie könnte eine Vergeltung  für die frevelhaften Exhumierungen und Feuerbestattungen sein. So versucht er alles, um die Menschen wach zu halten. Doch ohne Erfolg. Auch die Vertreter der örtlichen Regierung, an die er sich in seiner Verzweiflung wendet, sind selbst längst dem Schlafwandel verfallen. So träumt der Ortsvorsteher davon, der Kaiser zu sein.

Yan Lianke macht sich auch zu einer Figur des Romans. Onkel Yan, wie ihn Nian Nian nennt, ist ein von Ängsten geplagter Schriftsteller, der fürchtet, dass ihm keine Geschichten mehr einfallen. Auch er verfällt der Somnambulie, und plötzlich sprudelt wieder die Quelle seiner Inspirationen.

Schlafwandler aus den Nachbardörfern ziehen plündernd und mordend durch den Ort und kämpfen mit den einheimischen Schlafwandlern. Es sind Kämpfe wie zu Zeiten der Kulturrevolution als feindliche Fraktionen der Roten Garden einander umbrachten. Der Kampf der Rotgardisten wiederholt sich als Kampf der Schlafwandler. Dazu geht morgens die Sonne nicht mehr auf. Die Radionachrichten melden ein seltenes Wetterphänomen,  das ähnlich einer Sonnenfinsternis, das Land verdunkle.

Erschöpft schläft auch Li Tianbao ein und wird zum Schlafwandler, der davon träumt, die Welt zu retten, indem er die Sonne aufgehen lässt, um so die Menschen aus ihrem Schlaf zu reißen und dem Morden ein Ende zu setzen.

Er verspricht den vorüberziehenden Schlafwandlern lauthals eine großzügige Entlohnung, wenn sie die Fässer aus der Höhle auf eine Anhöhe im Osten des Ortes rollen und das Leichenöl in eine Mulde kippen.  Auf der Anhöhe übergießt er sich mit einem Rest Öl und springt als menschliche Fackel in den Öltümpel. Sein Handeln begreift er als eine Art Katharsis, durch die er sich von seiner Schuld reinigt:

Nian Nian, hiermit wird unsere Familie all ihre Schuld  zurückzahlen. Wenn du erwachsen bist, wirst du niemandem mehr etwas für deinem Vater  schuldig sein. Seine Stimme war heiser, glücklich wie ein weißes Blatt Papier auf einem Gräberfeld, das im Nachtwind munter in der Luft flog und tanzte.

Die Feuerlohe täuscht einen Sonnenaufgang vor, der die Menschen aufwachen und wieder zur Besinnung kommen lässt. „Die Sonne ist wieder hervorgekommen. Schreib von mir als einem guten Menschen!“ Das sind die letzten Worte, die Li Tianbao dem Schriftsteller Yan Lianke zuruft, bevor er bei lebendigem Leib verbrennt. Und wirklich geht die Sonne wieder auf und die Schlafwandelepidemie findet ein Ende.

Im Ort beginnen die Aufräumarbeiten, die Behörden nehmen den Schaden für ihre Statistik auf. In aller Stille werden die Toten begraben (das Krematorium wurde in der besagten Nacht zerstört) und Alltag und Normalität kehren wieder zurück.

Die Toten der Schlafwandelepidemie werden in einem Epilog einzeln mit Name, Alter und Todesursache aufgeführt. Li Tianbao trägt die Nummer 19:

Li Tianbao, mein Vater,  40 Jahre alt. Während des Schlafwandelns zündete er sich selbst an, damit die Sonne in der dunklen Nacht wieder hervorkommt.

Vom magischen Realismus der lateinamerikanischen Literatur beeinflusst, schafft der Autor eine unheimliche Welt voller verstörender, schöner Bilder. So beschreibt er eine schlafwandelnde Waise, die im Krematorium die Aufgabe hat, die Asche vor dem Verbrennungsofen wegzufegen und die nun im Traum das triste, furchterregende Krematorium in einen zauberhaften Ort verwandelt. Nian Nian  begegnet ihr, als er eines Abends wieder Fässer mit Leichenöl abholen will:

Als ich zum Eingang kam, sah ich, dass sie in die Ritzen neben der eisernen Tür des Verbrennungsofens Blumen und Gräser gesteckt hatte. Im ganzen Raum waren Blumen gesteckt und ausgelegt. Überall im Ofenraum hatte sie Blumen aufgehängt und ausgelegt. Die Blumen an der Wand glichen einer hängende Blumenwiese. Dort, von man am Verbrennungsofen Blumen befestigten konnte, hingen Blumensträuße. Rote, gelbe und grüne. Wilde Kamelien und Chrysanthemen. Violette Glyzinien und rote Blumea fistulosa. Dann auch Celosien und kleine Orchideen. Überall draußen vor dem Krematorium sah man die Blumen. Außerdem rosafarbene Rhaphiolepis  und kleine gelbe Blumen, deren Namen ich nicht kenne. Im Hof des Krematoriums gepflanzte Monatsrosen und chinesische Pfingstrosen. In voller Blüte stehende Zierrosen. Der Raum glich einem Blumengewächshaus. Der halb liegende, halb stehende Verbrennungsofen sah aus wie ein halb liegendes halb stehendes Blumengesteck. So war aus dem Verbrennungsraum ein Blumenraum geworden. Als ich dort auftauchte, war sie gerade dabei, in die Spalten neben den Fässern mit dem Leichenöl kleine gelbe und rote Blumen zu stecken. So als wüchsen die Blumen aus den Fässern heraus. Als wären sie aus den Fässern heraus erblüht. Ich dachte, dass mein plötzliches Auftauchen sie erschrecken würde. Doch als sie den Kopf wandte und mich erblickte, war sie weder erschrocken noch erstarrt, sondern es war, als sähe sie einen Baum. Wortlos war sie im Nu wieder damit beschäftigt, Blumen zu stecken und zu drapieren. Ich war erschrocken. Ich war erstarrt. Ich wusste, warum sie den Verbrennungsraum in ein paradiesisches Blütenzimmer verwandelte.

Der Somnambulismus ist eine Allegorie auf den Gemütszustand der Menschen unter einer autoritären Herrschaft. Die Freisetzung der verdrängten Ängste und Wünsche beim Schlafwandeln führt dazu, dass Menschen sich an eine frühere Schuld erinnern. Zugleich bekommen sie die Freiheit über sich selbst zu bestimmen. So gesteht Li Tianbao seinen Nachbarn, dass er die Gräber ihrer Verwandten verraten hat. Eine Frau träumt davon, die Geliebte des Ehemannes zu zerstückeln und dem Mann zum Essen vorzusetzen. Kollektive Träume lösen sich ab mit individuellen Träumen. Die Schlafwandler aus den Dörfern drängen in die Stadt, um sich den Besitz der Städter durch Plündern und Morden anzueignen. Es könnte ein Traum der Wanderarbeiter sein,  der hier erzählt wird. Die Ausgebeuteten und Rechtlosen aus den Dörfern holen sich mit Gewalt von dem städtischen Reichtum, von dem sie nie etwas abbekommen.

Als Li Tianbao sich verzweifelt an die Kreisregierung wendet, damit diese dem Wahn ein Ende setzt, muss er feststellen, dass auch der  Kreisrat und seine Beamtenschaft dem Schlafwandeln verfallen sind. Die Kreisregierung tritt in den Kostümen einer umherziehenden Operntruppe auf, und der Kreisrat spielt den Kaiser, der Audienzen gibt und seine Beamten empfängt. Eine Szene wie in den chinesischen Fernsehserien, die am kaiserlichen Hof spielen und  in einer antiquierten höfischen Sprache verfasst sind.  Hier wird die Szene zur Parabel auf die Lokalpolitiker, die sich in ihrem Amtsbezirk gerne als kleine Kaiser feiern lassen.

Der Romanfigur Yan Lianke gelingt es nicht, Li Tianbaos  Geschichte aufzuschreiben. Verzweifelt sucht er dessen Familie auf und verbrennt all seine Romane vor dem Totenbild von Li Tianbao. Liebevoll tätschelt er Wange und Schopf des jungen Nian Nian:

Ich schaffe es nicht, das Buch zu schreiben, das dein Vater sich gewünscht hat. Ich schaffe es nicht, von einem wärmenden Ofen im Winter und von einem kühlenden Ventilator im Sommer zu schreiben. Ich werde nie wieder an diesen Ort zurückkommen.

Mit seinem Rollkoffer verschwindet Yan Lianke spurlos.

Die Straßen waren voller Menschen. Die Sonne schien. Die Herbstsonne ließ alle Häuser und Mauern an der Straße erstrahlen. Die Bäume leuchteten, die Fenster, Türen und die Waren in den Läden leuchteten. Die Menschen, die auf der Straße Gemüse, Kleidung, Besen, Pflüge und Eggen verkauften, sie alle, alles glänzte. Die Köpfe und Schultern der Menschen, die vom und zum Markt eilten, waren durchsichtig und glänzten wie Jade und Achat. Mit einem Mal konnte man durch ihre Kleidung und durch ihre Haut ihre Adern und ihre Herzen sehen. (…)  In dieser durch das warme Sonnenlicht verwandelten Welt von Gaotian sah ich einen Mönch in gelber Robe und mit kahlrasiertem Schädel, etwas füllig, ruhig und gelassen. Irgendwie sah er ganz so aus, wie Yan Lianke, irgendwie sah er gar nicht so aus wie Yan Lianke. Doch ich kümmerte mich nicht darum und rief in die Menschenmenge auf dem Markt: „Yan Lianke, Yan Lianke! Yan Lianke, Yan Lianke!“ Kaum hatte  ich das gerufen merkte ich, dass ich ihn nicht Onkel Yan, sondern direkt beim Namen genannt hatte.

Der Gelehrte, der aus Verzweiflung über die politischen Zustände die Einsamkeit wählt, gehört seit dem Altertum zu den etablierten Figuren der chinesischen Literatur. Wenn der Autor sich aus einer schlafwandelnden Welt mit dem Rollkoffer verabschiedet, beschreibt er einen Rückzug, der mit den alten Elementen des Eskapismus spielt. Der Rückzug wird zum surrealen Spiel, nur die Verzweiflung ist echt.

Am Schluss ist es Nian Nian, der Ich-Erzähler des Romans, den Yan Lianke die Geschichte erzählen lässt.

Der Roman ist stark von der mündlichen Erzähltradition beeinflusst, mit vielen Wiederholungen und mit Worten aus dem Dialekt des Autors:

Hey, sei ihr alle da? Wer kann kommen und hören, was ich zu fabulieren habe? Hey, ihr Götter! Wenn ihr nicht beschäftigt seid, dann kommt her und hört mir zu. Wenn ich hier auf dem höchsten Gipfel des Funiu Berges knie, dann könnt ihr mich wohl hören. Ihr werdet euch wohl nicht wegen des Geschreis eines dummen Kindes genervt fühlen.

Im Chinesischen steht das Dialektwort fánfán 烦烦 für genervt und in Klammern für den nicht des Henan-Dialektes kundigen Leser der entsprechende hochchinesische Ausdruck yànfán 厌烦. An anderer Stelle heißt es:

Hey, ich bin wegen eines Dorfes hier. Wegen eines kleinen Ortes. Wegen einer Gebirgskette, für die Welt bin ich hier her gekommen. Ich knie hier vor dem Himmel, um euch von etwas zu erzählen. Ich hoffe, dass ihr geduldig meinem Geschwätz, meinem Geschrei zuhören könnt. Seid nicht genervt und ungeduldig, es handelt sich um eine große Sache!

Für ungeduldig steht das Dialektwort jífán 急烦 und in Klammern jízào 急躁, die Entsprechung in der Hochsprache .

 Als unerwünschtes Leichenöl der Erinnerung ist „Das Verlöschen der Sonne“ in den Buchhandlungen der Volksrepublik China nicht erhältlich.

Yan Lianke 阎连科 Das Verlöschen der Sonne, 日熄,  Taipei 2015.

Veröffentlicht unter China

Liu Zhenyun 刘震云: Das Zeitalter der Melonenesser 吃瓜时代的儿女们


(Nina Richter & Ulrich Neininger, Rezensionen chinesischer Literatur). Die Melonenesser, für gewöhnlich in grellen Farben als großköpfige, breitmäulige Schar von Strichmännchen gezeichnet, haben im chinesischen Internet viele Freunde.  Sie repräsentieren die User, das „Melonenesser-Publikum“ 吃瓜 群众, die passiv, aber ungemein interessiert, die im Netz ausgebreiteten Skandale verfolgen und sich an den Kommentaren und Diskussionen erfreuen. Der Begriff „Melonenesser-Publikum“ ist dabei so bekannt geworden, dass er 2016 in die Top-Ten-Liste der beliebtesten Internet-Neologismen in China schaffte.

Für die Melonenesser gibt es immer neue aufregende Ereignisse. Manche der Fälle erlangen durch eine Flut von Kommentaren Berühmtheit, andere werden ziemlich rasch durch eine um Harmonie und Stabilität besorgte Zensur der Vergessenheit anheim gegeben.

Der Autor Liu Zhenyun hat nun die Melonenesser zu Helden eines unterhaltsamen Romans gemacht.

Am meisten interessiert die Melonenesser die Korruption und ihr sichtbarer Ausdruck, der protzige Lebensstil der Funktionäre und ihrer Entourage. Finden die Behörden bei einem verhafteten Kader zwanzig Rolex-Uhren und bei der Frau Gemahlin fünfzig Louis-Vuitton-Taschen, beschäftigt der Fund das Netz für eine ganze Weile. Manche Fälle werden zur Legende, wie die Geschichte der neunzehnjährige Provinzschönheit Guo Meimei, die sich im Netz den falschen Titel „Generaldirektorin des chinesischen Roten Kreuzes“ zulegte und einen Maserati fuhr. Als Geliebte eines Politikers gehörte sie zum Heer der Xiaolaopo, die nach alter chinesischer Tradition, das Prestige des reichen und mächtigen Mannes erhöhen. Zur Tradition gehört aber auch, dass die Konkubinen sich im Hintergrund halten. Guo Meimei hingegen wurde durch ihr vorwitziges Auftreten berühmt. Als Mikro-Bloggerin brachte sie es auf zwei Millionen Follower, bis sie wegen der Ausrichtung illegaler Glücksspiele für fünf Jahre ins Gefängnis musste.

Aus diesem Milieu der Kader und Konkubinen erzählt der Roman von einem gewissen Li Anbang, der es einst eben noch zur Universität geschafft hatte. „Das Studium brachte ihm nur eine Brille ein, so kehrte er vom Dorf ins Dorf zurück.“ Mit Glück und Durchtriebenheit, steigt er, ungeachtet seiner nur bescheidenen Fähigkeiten, Sprosse um Sprosse auf der Karriereleiter nach oben und bringt es vom kleinen Dorfkader zum Vizegouverneur einer Provinz. Verheiratet mit der Tochter eines Krämers, die nach ihrer Gewohnheit über alle erhaltenen Bestechungsgeschenke akribisch Buch führt, bleibt er, was seinen Geschmack und seinen Lebensstil angeht, doch der einfache Dörfler. Sein Sohn freilich wächst zu einem der Prinzen heran, für den nichts zu teuer ist.

Gerade als der Vater zu einem weiteren Karrieresprung ansetzt und Gouverneur werden will, hat der Sohn einen Unfall. Der Siebzehnjährige rast mit dem Auto gegen einen Bagger. Er überlebt, aber seine Beifahrerin, eine nackte Prostituierte, die aus dem Wrack geschleudert wird, stirbt bei dem Unfall.

Wenngleich sich alles ein wenig reißerisch anhört, ist es doch eine Geschichte aus dem wahren Leben: Der Funktionärssohn Ling Gu raste 2012 nachts in Peking mit einem Ferrari gegen eine Betonwand. Im Unterschied zur Romanhandlung fuhren real gleich zwei nackte Frauen mit. Auch der Sohn war nackt, aber er war auch schon dreiundzwanzig. Die beiden Frauen überlebten, der Sohn hingegen starb. Es hieß, die drei wären beim Liebesspiel verunglückt.

Der Unfall gab nun viel Stoff für die Melonenesser her. Wie, fragten sie sich, konnte der Vater mit seinem bescheidenen Beamtengehalt dem Sohn einen Ferrari zum Preis von einer halben Million Euro  finanzieren? Vorhersehbarerweise verdarb die Zensur den Melonenessern schnell den Spaß, indem sie die Suche nach einer eine Reihe von Eigennamen blockte. Auch der Name Ferrari blieb für eine Weile im chinesischen Internet unauffindbar.

Im Roman versucht der Vizegouverneur Li mit Hilfe eines Vertrauten im staatlichen Sicherheitsapparat, den Unfall zu vertuschen. Als er den Kampf um das Gouver­neursamt dennoch zu verlieren scheint, wendet er sich an einen Menschen mit besonderen Eigenschaften: Der Meister Yizhong gilt als großer Kenner des Buchs der Wandlungen. Er hat eine Farbentheorie entwickelt mit der er seinen Klienten einen Weg aus allen Schwierigkeiten weisen kann. Bei Li Anbang erkennt er ein „Rotproblem“ und rät ihm Rot (die Farbe der Kommunistischen Partei), durch Rot zu durchbrechen und sich für dieses Unterfangen eine Jungfrau zu suchen. Auf der Suche gerät er an die Gelegenheitsprostituierte Niu Xiaoli, die darin geübt ist, den Männern als Unschuld vom Land mal um mal vorzugaukeln, sie hätten sie gerade entjungfert.

Niu Xiaoli, war, nachdem ihr Bruder durch eine vorgebliche Braut um sein Brautgeld betrogen worden ist,  losgezogen, die Betrügerin zu stellen. Als ihr das nicht gelingt, entschließt sie sich, unter dem Namen ihrer Feindin als Prostituierte zu arbeiten. Die Kupplerin Su Shuang, die Bauaufträge ebenso zuverlässig wie Frauen vermittelt, verschafft ihr Kontakte zu Politikern und reichen Geschäftsleuten. Li Anbang ist nur einer davon.

Eine andere zentrale Romanfigur ist als Direktor eines Straßenbauamtes mit der Vergabe von Bauaufträgen und der Unterschlagung von staatlichen Fördermitteln in seiner Kreisstadt reich geworden. Reich, aber impotent will er seine sexuellen Probleme durch das Beschlafen einer Jungfrau lösen. Su Shuang, die sich schon als Vermittlerin zwischen ihm und den lokalen Bauunternehmern bewährt hat, empfiehlt ihm Niu Xiaoli. In der manchmal schwer zu überschauenden Romanhandlung  stellt die berufsmäßige Jungfrau Niu eine Verbindung zwischen den korrupten Politikern her.

Der Direktor gerät in Schwierigkeiten, als bei einem Busunfall eine Brücke einstürzt. Ein Foto vom Unglücksort, das ihn mit einem verlegenen Grinsen und einer teuren Uhr zeigt,  kursiert bald im Netz: „Der Verantwortliche lacht über das Schicksal der Verunglückten.“ Der Autor greift hier einmal mehr reale Ereignisse auf und bleibt dabei ziemlich nahe am Geschehen. Das Foto des Direktors einer Behörde für Unfallsicherheit, der lächelnd einen ausgebrannten Bus betrachtet, setzt die  „Menschenfleisch-Suchmaschine“ in Gang. Millionen Nutzer suchen nach Bildern, die nachweisen, dass der Direktor, wie im Roman der „Uhrenbruder“ (biaoge 表哥) genannt, eine ganze Reihe von exzessiv teuren Luxusuhren besitzt. Der „Uhrenbruder“ etablierte sich in der Internet-Sprache als Begriff für die Reichen, Mächtigen und Korrupten, die eine Vorliebe für ausländische Luxusgegenstände haben.

Niu Xiaoli eröffnet in ihrem Heimatort mit dem Geld, das sie als „Jungfrau“ verdient hat, ein kleines Restaurant. Sie heiratet, führt aber eine unglückliche Ehe. Gerade als sie die Scheidung einreichen will, wird sie verhaftet. Durch ihre Verhaftung aber wird sie zu einer Berühmtheit. Auf sie wird eine Hymne gedichtet und sie erhält einen Heiligenpreis. In der Laudatio heißt es:

„Sie ist eine Jungfrau und hat dennoch mit 12 Kadern geschlafen. Ein Bettlaken war der Vorhang, der gehoben wurde, um die Bühne für den Antikorruptionskampf frei zu geben. Sie erhielt lediglich den Lohn für ihre Arbeit, aber die korrupten Kader verloren zig Millionen an Vermögen. Sie ist ein James Bond, sie wagte sich tief in die Höhle des feindlichen Tigers. Sie steht alleine und kämpft, aber wir, Tausende und Zehntausende stehen tatenlos hinter ihr und schwingen große Reden. Sie ist eine Heilige.“

In einem etwas willkürlich angehängten Schlusskapitel wird ein kleiner Beamter, ein Vizedirektor, bei einer Razzia im Massagesalon mit einer Prostituierten angetroffen. Nachdem er, um seiner Verhaftung zu entgehen, die Polizei mit 2000 Yuan bestochen hat, begegnet er noch einmal dem Zuhälter der Prostituierten. Der Zuhälter, der zugibt, dass er mit der Polizei zusammenarbeitet, entschädigt den Geprellten mit der Enthüllung eines Geheimnisses. Der Vizedirektor könne sich glücklich schätzen. Er habe nämlich Sex mit der Frau des ehemaligen Provinzgouverneurs Li Anbang gehabt, die seit ihr Mann im Gefängnis sitzt, im Massagesalon arbeitet. „Der Vizedirektor eines städtischen Umweltamtes, der nur im Rang eines Vizereferatsleiters ist, bekommt niemals in seinem Leben den Provinzgouverneur zu Gesicht, ganz zu schweigen davon, jemals mit der Frau des Provinzgouverneurs so eng in Kontakt zu treten.“ Dafür waren 2000 Yuan wirklich nicht zu viel. Zufrieden begibt sich der Vizedirektor auf die Heimreise.

Die einzelnen Episoden sind oberflächlich miteinander verknüpft, und es ist nicht einfach ,die oft zusammenhanglose und manchmal langatmige Handlung zu überblicken. Anfangs scheint es, als habe der Autor einen Erzählband vorgelegt. Dann zeigt sich aber, dass ein kompliziertes Beziehungsgeflecht die vermeintlich einander unbekannten Personen miteinander verbindet. Diese vermeintliche Zufälligkeit hat der Autor schon in früheren Werken zum Prinzip erhoben. Und bei den Melonenessern heißt es nun: „Betrachte das, was als Zufall erscheint, nicht als Zufall“. Es sind Geschichten für Melonenesser, die der Autor hier erzählt oder auch einfach nur kolportiert.

Liu Zhenyun 刘震云: Das Zeitalter der Melonenesser 吃瓜时代的儿女们, Wuhan 2017.

Liu Zhenyun 刘震云: Das Zeitalter der Melonenesser 吃瓜时代的儿女们

Die Melonenesser, für gewöhnlich in grellen Farben als großköpfige, breitmäulige Schar von Strichmännchen gezeichnet, haben im chinesischen Internet viele Freunde.  Sie repräsentieren die User, das „Melonenesser-Publikum“ 吃瓜 群众, die passiv, aber ungemein interessiert, die im Netz ausgebreiteten Skandale verfolgen und sich an den Kommentaren und Diskussionen erfreuen. Der Begriff „Melonenesser-Publikum“ ist dabei so bekannt geworden, dass er 2016 in die Top-Ten-Liste der beliebtesten Internet-Neologismen in China schaffte.

Bildergebnis für 吃瓜 群众

Für die Melonenesser gibt es immer neue aufregende Ereignisse. Manche der Fälle erlangen durch eine Flut von Kommentaren Berühmtheit, andere werden ziemlich rasch durch eine um Harmonie und Stabilität besorgte Zensur der Vergessenheit anheimgegeben.

Der Autor Liu Zhenyun hat nun die Melonenesser zu Helden eines unterhaltsamen Romans gemacht.

Am meisten interessiert die Melonenesser die Korruption und ihr sichtbarer Ausdruck, der protzige Lebensstil der Funktionäre und ihrer Entourage. Finden die Behörden bei einem verhafteten Kader zwanzig Rolex-Uhren und bei der Frau Gemahlin fünfzig Louis-Vuitton-Taschen, beschäftigt der Fund das Netz für eine ganze Weile. Manche Fälle werden zur Legende, wie die Geschichte der neunzehnjährige Provinzschönheit Guo Meimei, die sich im Netz den falschen Titel „Generaldirektorin des chinesischen Roten Kreuzes“ zulegte und einen Maserati fuhr. Als Geliebte eines Politikers gehörte sie zum Heer der Xiaolaopo, die nach alter chinesischer Tradition, das Prestige des reichen und mächtigen Mannes erhöhen. Zur Tradition gehört aber auch, dass die Konkubinen sich im Hintergrund halten. Guo Meimei hingegen wurde durch ihr vorwitziges Auftreten berühmt. Als Mikro-Bloggerin brachte sie es auf zwei Millionen Follower, bis sie wegen der Ausrichtung illegaler Glücksspiele für fünf Jahre ins Gefängnis musste.

Aus diesem Milieu der Kader und Konkubinen erzählt der Roman von einem gewissen Li Anbang, der es einst eben noch zur Universität geschafft hatte. „Das Studium brachte ihm nur eine Brille ein, so kehrte er vom Dorf ins Dorf zurück.“ Mit Glück und Durchtriebenheit, steigt er, ungeachtet seiner nur bescheidenen Fähigkeiten, Sprosse um Sprosse auf der Karriereleiter nach oben und bringt es vom kleinen Dorfkader zum Vizegouverneur einer Provinz. Verheiratet mit der Tochter eines Krämers, die nach ihrer Gewohnheit über alle erhaltenen Bestechungsgeschenke akribisch Buch führt, bleibt er, was seinen Geschmack und seinen Lebensstil angeht, doch der einfache Dörfler. Sein Sohn freilich wächst zu einem der Prinzen heran, für den nichts zu teuer ist.

Gerade als der Vater zu einem weiteren Karrieresprung ansetzt und Gouverneur werden will, hat der Sohn einen Unfall. Der Siebzehnjährige rast mit dem Auto gegen einen Bagger. Er überlebt, aber seine Beifahrerin, eine nackte Prostituierte, die aus dem Wrack geschleudert wird, stirbt bei dem Unfall.

Wenngleich sich alles ein wenig reißerisch anhört, ist es doch eine Geschichte aus dem wahren Leben: Der Funktionärssohn Ling Gu raste 2012 nachts in Peking mit einem Ferrari gegen eine Betonwand. Im Unterschied zur Romanhandlung fuhren real gleich zwei nackte Frauen mit. Auch der Sohn war nackt, aber er war auch schon dreiundzwanzig. Die beiden Frauen überlebten, der Sohn hingegen starb. Es hieß, die drei wären beim Liebesspiel verunglückt.

Der Unfall gab nun viel Stoff für die Melonenesser her. Wie, fragten sie sich, konnte der Vater mit seinem bescheidenen Beamtengehalt dem Sohn einen Ferrari zum Preis von einer halben Million Euro  finanzieren? Vorhersehbarerweise verdarb die Zensur den Melonenessern schnell den Spaß, indem sie die Suche nach einer eine Reihe von Eigennamen blockte. Auch der Name Ferrari blieb für eine Weile im chinesischen Internet unauffindbar.

Im Roman versucht der Vizegouverneur Li mit Hilfe eines Vertrauten im staatlichen Sicherheitsapparat, den Unfall zu vertuschen. Als er den Kampf um das Gouver­neursamt dennoch zu verlieren scheint, wendet er sich an einen Menschen mit besonderen Eigenschaften: Der Meister Yizhong gilt als großer Kenner des Buchs der Wandlungen. Er hat eine Farbentheorie entwickelt mit der er seinen Klienten einen Weg aus allen Schwierigkeiten weisen kann. Bei Li Anbang erkennt er ein „Rotproblem“ und rät ihm Rot (die Farbe der Kommunistischen Partei), durch Rot zu durchbrechen und sich für dieses Unterfangen eine Jungfrau zu suchen. Auf der Suche gerät er an die Gelegenheitsprostituierte Niu Xiaoli, die darin geübt ist, den Männern als Unschuld vom Land mal um mal vorzugaukeln, sie hätten sie gerade entjungfert.

Niu Xiaoli, war, nachdem ihr Bruder durch eine vorgebliche Braut um sein Brautgeld betrogen worden ist,  losgezogen, die Betrügerin zu stellen. Als ihr das nicht gelingt, entschließt sie sich, unter dem Namen ihrer Feindin als Prostituierte zu arbeiten. Die Kupplerin Su Shuang, die Bauaufträge ebenso zuverlässig wie Frauen vermittelt, verschafft ihr Kontakte zu Politikern und reichen Geschäftsleuten. Li Anbang ist nur einer davon.

Eine andere zentrale Romanfigur ist als Direktor eines Straßenbauamtes mit der Vergabe von Bauaufträgen und der Unterschlagung von staatlichen Fördermitteln in seiner Kreisstadt reich geworden. Reich, aber impotent will er seine sexuellen Probleme durch das Beschlafen einer Jungfrau lösen. Su Shuang, die sich schon als Vermittlerin zwischen ihm und den lokalen Bauunternehmern bewährt hat, empfiehlt ihm Niu Xiaoli. In der manchmal schwer zu überschauenden Romanhandlung  stellt die berufsmäßige Jungfrau Niu eine Verbindung zwischen den korrupten Politikern her.

Der Direktor gerät in Schwierigkeiten, als bei einem Busunfall eine Brücke einstürzt. Ein Foto vom Unglücksort, das ihn mit einem verlegenen Grinsen und einer teuren Uhr zeigt,  kursiert bald im Netz: „Der Verantwortliche lacht über das Schicksal der Verunglückten.“ Der Autor greift hier einmal mehr reale Ereignisse auf und bleibt dabei ziemlich nahe am Geschehen. Das Foto des Direktors einer Behörde für Unfallsicherheit, der lächelnd einen ausgebrannten Bus betrachtet, setzt die  „Menschenfleisch-Suchmaschine“ in Gang. Millionen Nutzer suchen nach Bildern, die nachweisen, dass der Direktor, wie im Roman der „Uhrenbruder“ (biaoge 表哥) genannt, eine ganze Reihe von exzessiv teuren Luxusuhren besitzt. Der „Uhrenbruder“ etablierte sich in der Internet-Sprache als Begriff für die Reichen, Mächtigen und Korrupten, die eine Vorliebe für ausländische Luxusgegenstände haben.

Niu Xiaoli eröffnet in ihrem Heimatort mit dem Geld, das sie als „Jungfrau“ verdient hat, ein kleines Restaurant. Sie heiratet, führt aber eine unglückliche Ehe. Gerade als sie die Scheidung einreichen will, wird sie verhaftet. Durch ihre Verhaftung aber wird sie zu einer Berühmtheit. Auf sie wird eine Hymne gedichtet und sie erhält einen Heiligenpreis. In der Laudatio heißt es:

„Sie ist eine Jungfrau und hat dennoch mit 12 Kadern geschlafen. Ein Bettlaken war der Vorhang, der gehoben wurde, um die Bühne für den Antikorruptionskampf frei zu geben. Sie erhielt lediglich den Lohn für ihre Arbeit, aber die korrupten Kader verloren zig Millionen an Vermögen. Sie ist ein James Bond, sie wagte sich tief in die Höhle des feindlichen Tigers. Sie steht alleine und kämpft, aber wir, Tausende und Zehntausende stehen tatenlos hinter ihr und schwingen große Reden. Sie ist eine Heilige.“

In einem etwas willkürlich angehängten Schlusskapitel wird ein kleiner Beamter, ein Vizedirektor, bei einer Razzia im Massagesalon mit einer Prostituierten angetroffen. Nachdem er, um seiner Verhaftung zu entgehen, die Polizei mit 2000 Yuan bestochen hat, begegnet er noch einmal dem Zuhälter der Prostituierten. Der Zuhälter, der zugibt, dass er mit der Polizei zusammenarbeitet, entschädigt den Geprellten mit der Enthüllung eines Geheimnisses. Der Vizedirektor könne sich glücklich schätzen. Er habe nämlich Sex mit der Frau des ehemaligen Provinzgouverneurs Li Anbang gehabt, die seit ihr Mann im Gefängnis sitzt, im Massagesalon arbeitet. „Der Vizedirektor eines städtischen Umweltamtes, der nur im Rang eines Vizereferatsleiters ist, bekommt niemals in seinem Leben den Provinzgouverneur zu Gesicht, ganz zu schweigen davon, jemals mit der Frau des Provinzgouverneurs so eng in Kontakt zu treten.“ Dafür waren 2000 Yuan wirklich nicht zu viel. Zufrieden begibt sich der Vizedirektor auf die Heimreise.

Die einzelnen Episoden sind oberflächlich miteinander verknüpft, und es ist nicht einfach ,die oft zusammenhanglose und manchmal langatmige Handlung zu überblicken. Anfangs scheint es, als habe der Autor einen Erzählband vorgelegt. Dann zeigt sich aber, dass ein kompliziertes Beziehungsgeflecht die vermeintlich einander unbekannten Personen miteinander verbindet. Diese vermeintliche Zufälligkeit hat der Autor schon in früheren Werken zum Prinzip erhoben. Und bei den Melonenessern heißt es nun: „Betrachte das, was als Zufall erscheint, nicht als Zufall“. Es sind Geschichten für Melonenesser, die der Autor hier erzählt oder auch einfach nur kolportiert.

Liu Zhenyun 刘震云: Das Zeitalter der Melonenesser 吃瓜时代的儿女们, Wuhan 2017.

Zhang Ji 张忌: Weltflucht 出家

(Nina Richter & Ulrich Neininger, Rezensionen chinesischer Literatur).

Fang Quan, ein junger Mann, der viel arbeitet, aber schlecht verdient, findet einen einträglichen Nebenerwerb: Er arbeitet tageweise als Mönch in einem buddhistischen Kloster. Nach jahrzehntelanger Unterdrückung hat sich in China wieder ein religiöses Leben entfalten können. Die Liberalisierung der Religionspolitik ist Teil der Reform- und Öffnungspolitik, die tiefgreifende wirtschaftliche und soziale Veränderungen mit sich bringt. Viele Menschen suchen in der materialistischen Gesellschaft nach spirituellen Werten, oder sie hoffen auf materielle Vorteile, die sie sich von der Anrufung der Buddhas und Götter versprechen. So besuchen sie die buddhistischen Klöster. Den Klöstern freilich, die so lange geschlossen waren, fehlt es an Nachwuchs. Die Mönche waren in die Fabriken und auf die Felder geschickt und oft auch verheiratet worden. Nur wenige der alten Mönche waren noch am Leben und kehrten ins Kloster zurück. Da lag dann die Idee nahe, dass ein falscher Mönch immer noch besser ist als gar keiner.

Der Autor Zhang Ji stammt aus der Gegend von Ningbo. Der Buddhismus ist dort, vor allem auf dem Land, noch einflussreich, und so kam der Autor auf die Idee einen Roman im buddhistischen Milieu anzusiedeln. Zunächst wusste er nicht, wie er an den Stoff herangehen sollte. Dann aber begegnete er eines  Tages in einer Filiale von Kentucky Fried Chicken einem Mönch.  Der Gegensatz zwischen dem Mann im traditionellen Mönchsgewand und dem Ambiente der amerikanischen Schnellimbisskette, inspirierte ihn zu einem Roman, der eben diesen Gegensatz, die Moderne und das Mönchtum zum Thema hat.[1]

Der Roman erzählt aus der Ich-Perspektive des Fang Quan, der, immer auf der Suche nach Arbeit, vom Land in die Stadt zieht. Manchmal helfen ihm dabei familiäre Beziehungen, dann wieder muss er sich mit Bestechungsgeschenken ein Auskommen sichern.  So trägt er für eine Verwandte Frühstücksmilch aus. Um sich noch etwas als Zeitungsausträger dazuzuverdienen, besticht er den Disponenten der Zeitung mit morgendlichen Milchanlieferungen.

Eines Tages erhält er einen Anruf aufs Handy. Sein Onkel Ahong, von dem er schon seit Jahren nichts mehr gehört hat, meldet sich bei ihm. Er hat es zum Abt eines buddhistischen Klosters gebracht, und sucht nun Aushilfen, die, als Mönche verkleidet, bei einem religiösen Zeremoniell mitwirken. Fang Quan nimmt das Angebot an.

Bei diesem ersten kurzen Eintauchen in die Klosterwelt faszinieren ihn die Pracht der Tempelanlage und die Feierlichkeit der Zeremonien. Er lernt aber auch schon, dass man als Mönch gut Geld verdienen kann.

Er denkt, nachdem er wieder in den Alltag zurückgekehrt ist, oft ans Kloster, zumal seine wirtschaftliche Lage immer schwieriger wird.  Das Geld reicht zum Überleben, als aber die Einschulung seiner Tochter bevorsteht, muss Fang Quan als Zugewanderter viel Geld dafür zahlen. Die zugewanderten Arbeiter (民工 mingong) sind nämlich nicht ins Haushaltsregister (户口 hukou) der Stadt eingetragen, und ihre Kinder haben damit keinen Anspruch auf einen Schulplatz.

Nun braucht auch Fangs Frau eine Arbeit, also muss wieder bestochen werden. Fang Quan  geht dabei mit einer gewissen Schläue vor. Dem Chef des Supermarktes, bei dem sich seine Frau beworben hat, schenkt er eine „Weichpanzerschildkröte“, angeblich eine vom Aussterben bedrohte, seltene Wildschildkröte aus den Bergen, deren Fleisch er als Potenzmittel rühmt. Seine Bestechung ist so erfolgreich, dass sie gleich neue Forderungen nach sich zieht.

Das Geld reicht freilich noch immer nicht, und Fang Quan erschließt sich eine weitere Verdienstquelle: Er fährt eine Fahrradrikscha. Als er sich als Fahrer ohne Lizenz einer Verkehrskontrolle zu entziehen versucht und mit einem Radfahrer zusammenstößt, erpresst der Radfahrer von ihm ein hohes Schmerzensgeld. Die korrupte Verkehrspolizei verhängt gegen ihn ein Strafgeld und beschlagnahmt die Rikscha, die er dann durch eine „Parkgebühr“ auslösen muss.

Die finanzielle Last, bringt ihn an den Rand der physischen und psychischen Erschöpfung: „Plötz­lich blickte ich ohne Hoffnung in die Zukunft, denn ich sah, dass ich nun an meine Grenzen gekommen war. Nur wenige Leute standen so früh auf wie ich. Ich würde auch lieber etwas länger schlafen, faulenzen. Doch ich trieb mich selbst an, wie man einen Ochsen antreibt, und ging weiter vorwärts. Doch was hatte ich von dieser harten Arbeit? Führte ich nicht immer noch ein Hunde­leben?“

Übermüdet schlägt er im Streit seine Tochter, schämt sich dafür und irrt nachts durch die Straßen. Schließlich sinkt er erschöpft auf der Schwelle eines Klosters nieder. Der Duft von Sandelholz, der ihn nun manchmal schwächer, dann wieder stärker einhüllt, erinnert ihn an sein Gastspiel als Mönch. „Gierig zog ich diesen Duft ein und fühlte mich am ganzen Körper behaglich, so als würden zwei Hände meinen Körpern berühren und ihn sanft streicheln.“

Er nimmt nun jede Gelegenheit wahr, um in Klöstern, die in Personalnot sind, auszuhelfen und als falscher Mönch dem harten Alltag zu entfliehen. Dabei lernt er immer mehr die Vorteile und Annehmlichkeiten des Klosterlebens, das gute Einkommen und das hohe Ansehen eines Mönchs, zu schätzen.  „Für die Gläubigen sind die Mönche wie Stars. Alle mögen gutaussehende Mönche und sind bereit, für diese viel Geld zu bezahlen.“

Fang Quan will freilich bald mehr sein als ein Statist in der Mönchskutte. So nimmt er sich seinen Onkel Ahong, den Abt, zum Vorbild,  der das Śūraṅgamasūtra fehlerfrei herbeten kann. Dieses Sutra, das besonders den Zen-Buddhismus beeinflusst hat, gilt wegen seiner eigenwilligen, am Sanskrit orientierten Syntax, als überaus schwierig zu rezitieren. Der falsche Mönch überrascht nun seinen Onkel, der ihm zur Vorbereitung einer Zeremonie den Kopf rasiert, mit einer Rezitation. Mühelos sagt er den Anfang des so schwierigen Texts auf.

Während der „Puja von Wasser und Land“ (水陆法会 shuilu fahui)  eines aufwändigen, mehrtägigen Rituals, erkennt er, dass das Klosterleben keineswegs ein Ort reiner Harmonie ist. Der Onkel demütigt, als Leiter des Rituals, einen Mönch, dem er vor den versammelten Mönchen und Gläubigen vorwirft, die Trommel zu laut zu schlagen. Fan Quan fürchtet nun, dass auch er vor allen anderen kritisiert und blamiert werden könnte:

„Ich stand zwischen den anderen und plötzlich kam mir alles sinnlos vor. Was machte ich hier? Warum musste ich mir hier stehen und mir das antun? War ich nicht hergekommen, weil ich den Druck in der Welt draußen nicht mochte und hier im Tempel nach einem Moment der Ruhe suchte? Draußen war ich täglich Stress und Druck ausgesetzt, doch ich begegnete dem mit einem Lächeln auf den Lippen, vorsichtig, als müsse ich auf dem Kopf eine Schale mit Wasser tragen. Ich hasste das, ich hatte genug davon. Aber wenn ich mit dem Leben draußen klarkam, warum sollte ich hier als falscher Mönch arbeiten, war es nicht dasselbe wie jede andere Arbeit draußen. Ich entschloss mich zu gehen und nicht mehr als Mönch zu arbeiten. Dieser Ort passte nicht zu mir.“

Das große Thema des Romans, das sich schon im Titel ankündigt ist die Weltflucht. Wörtlich übersetzt heißt der Roman „Die Familie verlassen“ (Chujia), wobei der Begriff Chujia  im buddhistischen Vokabular den Eintritt ins Kloster bezeichnet. Der Bruch mit der Familie verstößt aus traditioneller chinesischer Sicht gegen die Grundwerte der Gesellschaft. Der songzeitliche konfuzianische Philosoph Cheng Yi fasst die Kritik an der Weltflucht zusammen: „Die Buddhisten selbst missachten die Grundsätze der Beziehung zwischen Herrscher und Minister, zwischen Vater und Sohn und zwischen Gatte und Gattin. Überdies kritisieren sie andere dafür, dass sie es nicht ebenso machen wie sie. Sie überlassen die Pflege sozialer Beziehungen anderen, halten sich von allen fern und bilden eine eigene Kaste.“[2]

Im Konflikt zwischen dem Ideal der Weltflucht, und der Realität des Alltags mit seinen sozialen Verpflichtungen, entscheidet sich Fang Quan zunächst wieder für die Familie. Aber obwohl er nun erkannt hat, dass das Kloster keineswegs der Ort der vollkommenen Harmonie ist, denkt er bald wieder daran, durch einen Eintritt ins Kloster Ruhe zu finden und einem miserablen Leben zu entfliehen.

Der schlimmste Frevel, den, aus der Sicht der Konfuzianer, die buddhistischen Mönche mit ihrer Weltflucht begingen, war ihre Kinderlosigkeit, die zum Ende der Ahnenopfer führt. „Wenn das der Weg sein soll, Menschen anzuleiten, wird dies das Ende der menschlichen Rasse sein.“

Der alte konfuzianische Glaube,  wonach ein Sohn erst durch die Zeugung eines eigenen Sohnes seine Verpflichtung gegenüber den Ahnen erfüllt, hat sich in China über alle gesellschaftlichen Umbrüche hinweg erhalten. So will, ganz im Widerspruch zu seinen eskapistischen Neigungen, auch Fang Quan, der schon zwei Töchter hat, unbedingt einen Sohn. Als nun seine Frau wieder schwanger wird, legt er ein Gelübde ab. Er wird ins Kloster gehen, wenn seine Frau einen Sohn gebiert. Endlich bekommt er einen Sohn, zögert aber noch sein Versprechen einzulösen. Da erfährt er, dass die Ärzte bei seiner Frau einen Tumor diagnostiziert haben.

Der Onkel, der in Fang Quan einen talentierten Mönchsdarsteller sieht,  dass der Konflikt zwischen den familiären Verpflichtungen und dem Chujia, dem Verlassen der Familie, leicht zu lösen sei. Da sich als Mönch viel Geld verdienen lasse, könne der Familienvater seine Familie besser als je zuvor versorgen. So geht er dann doch ins Kloster, aber nicht ohne die Zustimmung seiner Frau „Was immer du machst“, verabschiedet sie ihn, „ich weiß, es ist für die Familie. Wenn ich weiß, dass du mich und die Kinder im Herzen trägst, dann reicht mir das.“

Der Buddhismus als Geldmaschine hat, seit der Wiederaufnahme des Klosterbetriebs, in China immer wieder für Diskussionen gesorgt. Ein herausragendes Beispiel für den Geschäftssinn der Mönche gibt der Abt des Klosters Shaolin,  der die Kampfkunst seiner Mönche vermarktet und so ein international tätiges, ausdrücklich am Erfolg von Disneyland orientiertes Milliardenunternehmen aufgebaut hat.  Die Geschichten über das Profitstreben des Abts, sein Luxusleben, die versteckten ausländische Konten und über seine Sexaffären, unterhielten 2016 monatelang die chinesische Öffentlichkeit. Daneben finden sich im Internet und in der Presse unzählige Berichte über falsche oder auch echte buddhistische Mönche, die den Gläubigen im Namen der Religion oder durch Wahrsagerei ihre Ersparnisse abschwatzen.

Es ist diese Welt in die Fang Quan gerät, und die der Autor im Roman beschreibt. Der falsche Mönch ist der wahrhaft reine Tor, der von sich sagt: „Ich bin zwar kein echter Mönch, aber trotzdem zünde ich jeden Tag vor der Buddhastatue Räucherstäbchen an und bete.“ Er ist der letzte Gläubige, umgeben von Zynikern wie seinem Onkel Ahong, der den ganzen Religionsbetrieb ganz realistisch erklärt: „Das ist ein Geschäft. Glaubst du wirklich, dass der Bodhisattva, wenn du im Tempel sitzt, Sutren rezitierst, Räucherwerk anzündest und schläfst, dein gutes Verhalten bemerkt und dir dafür deine Taschen mit Geld füllt?“

Eine altgediente Nonne, die sich in den Laienstand zurückzieht und für die der Buddhismus auch nur ein Broterwerb war, fragt Fang Quan erstaunt, ob er wirklich ans Paradies glaube. Er antwortet mit einem Glaubensbekenntnis: „Ich glaube daran. Das Paradies der äußersten Freude ist der dunkelste und der hellste Ort. Dort gibt es keine Menschen und doch sind dort überall Menschen.  Überall ist Wasser und unten in der Tiefe ist Glanz.“

Als sich ihm die Gelegenheit bietet, macht er sich unter dem Mönchsnamen Guan Jing selbständig und übernimmt den kleinen heruntergekommen Tempel der Nonne. Nun muss er wieder selbst sehen, wie er für sich und seine Familie Geld verdient. Eine stabile Einkommensquelle ist die Wahrsagerei. Als Anfänger ist er noch ein wenig unsicher im Umgang mit den Ratsuchenden. Einmal berät er die Mutter eines Bräutigams bei der Auswahl eines glücksbringenden Datums für die Hochzeit:

„Also das Orakelstäbchen sagt, dass der Tag, den Ihr Sohn ausgesucht hat mit einer vierzigjährigen Schlange kollidiert. Gibt es in Ihrer Familie jemand, der vierzig Jahre und im Jahr der Schlange geboren ist?“ ­ Die Alte schüttelte den Kopf. „Und einen fünfundzwanzigjährigen Drachen?“ Wieder schüttelte die Alte den Kopf. Mein Herz begann laut zu klopfen, wenn es so weiterginge, hätte ich bald alle zwölf Tierkreiszeichen durch. Ich biss die Zähne zusammen und beschloss, ein paar Tierkreiszeichen zu überspringen. „Und gibt es in der Familie ein dreißigjähriges Schwein?“ Da sah ich, wie die Alte die Brauen runzelte und dann sagte: „Mein Sohn ist dreißig und im Tierkreiszeichen Schwein geboren.“

Zum Klosterleben gehören die „Schutzgöttinnen“ (护法 hufa), das sind oft reiche, geschiedene Geschäftsfrauen, denen eine spezielle Beziehung zum Abt nachgesagt wird. Sie führen dem Kloster großzügige Spender zu und sorgen dafür, dass der Abt im Gespräch bleibt. Zhou Yu, auch sie eine reiche Geschäftsfrau, entdeckt nun den vielversprechenden Mönch Guan Jing und organisiert mit ihm  eine aufwändige siebentägige Zeremonie zur Feier von Buddhas Geburtstag. Den reichen Gläubigen, die nun zur Zeremonie erscheinen, preist sie ihre Entdeckung wie eine Marketingmanagerin an:

„Glaubt nicht, dass das hier nur ein runtergekommener Tempel ist. So viele Menschen wollten sich Verdienste erwerben und für die Renovierung des Tempels von Guang Jing spenden. Doch Guang Jing möchte das nicht. Meister Guang Jing ist ein echter Mönch, der seinen Abschluss an der Buddhistischen Akademie von Putuoshan erworben hat, er widmet sich ganz Buddha. Ihr denkt wohl die großen Tempel, das sind die guten? Die Räume sind zwar prunkvoll, aber die Mönche sind alle nicht echt. Das sind doch keine richtigen Tempel!“

Um ihren Mönch bekannt zu machen, hat die Schutzgöttin Zhou bereits einige Wundergeschichten über ihn in die Welt gesetzt und sich dabei von der populären Fernsehserie „Die Legende vom lebenden Buddha Ji Gong“ inspirieren lassen. Angelockt von solchen Geschichten besuchen immer mehr Gläubige den kleinen Tempel.

Fang Quan zeigt sich von dem Trubel bald angewidert. Er weist Besucher zurück, schottet sich ab, lebt streng nach den klösterlichen Regeln, arbeitet in seinem Gemüsegarten, betet, meditiert und ist für eine Weile zufrieden, um sich dann wieder nach dem Sinn des asketischen Lebens zu fragen. So beginnt er sich wieder um die Bewohner des benachbarten Dorfes zu kümmern. „Es sind diese Frauen, die in den Tempel kommen. Da sie nicht mehr gut zu Fuß sind, können sie nicht an weit entfernte Orte gehen. Der Tempel hat in Wahrheit nichts mit Religion zu tun, er hat auch nichts mit Geld verdienen zu tun. Er ist nur ein Ort, an dem sich die alten Leute des Dorfes die Zeit vertreiben, er ist eine Seniorenbegegnungsstätte.“

Der  Schluss, der arg forciert erscheint, als hätte der Autor nun endlich genug von der Schreiberei gehabt, zeigt den immer unschlüssigen Fan Quan, der abgeschreckt von der Hohlheit des religiösen Betriebs, zu seiner Familie zurückkehrt, und dann aber wieder von den Annehmlichkeiten des Klosterlebens verlockt, sich von seiner Anhängerschaft feiern lässt. „Diese sanften Blicke waren voller Freundlichkeit, Verehrung und auch voller Bitten. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben kann, sie standen aufrecht, aber ihre Blicke krochen auf dem Boden (…) Ich begann, diese kriechende Frömmigkeit zu genießen.“

Der Autor greift gelegentlich buddhistische Ideen auf, freilich ohne sie weiter auszuführen. So erwähnt er das Śūraṅgamasūtra mit seiner Lehre von der doppelten Natur des Menschen. Danach trägt ein Mensch zwei Naturen in sich, eine profane, die dem Kreislauf der Wiedergeburten unterliegt und eine Buddha-Natur, die ihm zur Befreiung aus diesem Kreislauf verhilft. Zur Sprache kommt auch die Legende von der Entstehung des Śūraṅgamasūtra, das Buddha seinem Lieblingsjünger Ananda gesandt habe, um ihn vor der Verführung durch das Dorfmädchen Matangi zu retten. Ganz zum Schluss lässt sich der Autor noch einmal von der buddhistischen Bilderwelt inspirieren: „Jählings schlug ich die Augen auf. Mein Blick glich einem wilden Tier, das plötzlich auf die Erde gelangt war, erschrocken und voller Begierden, etwas zweifelt. Wie wahnsinnig raste es mit einem Mal los, rannte, rannte schnell wie der Wind. Es lief durch Städte, über hohe Berge und Ozeane, es lief durch Zeit und Raum. Am Schluss konnte es nicht mehr weiterlaufen. Es war einen großen Kreis gelaufen und erschöpft an den Ausgangsort zurückgekehrt. In diesem Moment sah ich mich selbst, wie ich einsam auf der kalten Steinschwelle zum Dongmen-Nonnenkloster saß, wir sahen uns gegenseitig an.“

Der Roman hat beträchtliche Schwächen. Zu oft nimmt der Autor Fäden auf, die dann bald im Nirgendwo enden. Die buddhistische Thematik hätte gewiss mehr Tiefe verdient. Auch sprachlich ist Chujia nicht der ganz große Wurf. Der Text ist dennoch lesenswert als Beschreibung der Überlebenskämpfe der vom Land in die Städte zugewanderten Arbeiter.

Zhang Ji 张忌, Chujia 出家, 中信出版社, Peking 2016.

[1]  Interview vom 23. 8. 2017: 作家张忌:我写的“出家”比较实在 很多人是为了安身立命挣钱, 8. 2017; https://www.jiemian.com/article/1566265.html

[2] Cheng Yi, 程頤 (1033-1107), 程顥, 程頤, 河南程氏遗书, 中华书局 1981 : 卷二上; s. auch: Theodore de Bary u. a., Sources of Chinese Tradition, Bd. 1 :478.

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Das China der Europäer (3): Die Chinesen als Automaten. Zu einem Tagebucheintrag Albert Einsteins

Einige Einträge aus dem Reisetagebuch, das Albert Einstein führte, als er sich 1922/23 in Hongkong und Schanghai aufhielt, haben im Juni 2018 Schlagzeilen gemacht:

Neuer Blick auf den Nobelpreisträger. Der Einstein-Schock: In seinen Tagebüchern offenbart das Genie rassistische Ideen. Nazi victim Albert Einstein was a RACIST – shock opinions revealed. Einstein in China: Rassismus eines Genies? 爱因斯坦是种族主义者? Les carnets de voyages d’Einstein révèlent ses pensées racistes. War Einstein ein Rassist? Einstein was a racist? His 1920s travel diaries contain shocking slurs against Chinese people.

Als Einstein am 9. November 1922 in der Kronkolonie Hongkong eintraf, war, nach den archaischen Blutorgien des Ersten Weltkriegs, das Selbstbewusstsein der Europäer schon arg angeschlagen, aber man konnte sich als Weißer noch immer zu den Auserwählten zählen. Einstein galt zudem als humanitäre Lichtgestalt, ein Ruf, der sich auf seine untadelige pazifistische Haltung gründete. Während des Krieges hatte er in Berlin zu einer Gruppe von Menschen gehört, die gegen den nationalistischen Taumel über die Jahre unverdrossen zum Friedensschluss aufrief.[1] Lichtgestalten waren nach den Massenschlächtereien von 14/18 sehr gefragt, und die Medienöffentlichkeit hielt Einstein dafür besonders geeignet. Tatsächlich war er für diese Rolle nur schlecht vorbereitet, wie sich in seinen Reisetagebüchern zeigt.

Zu seinen ersten Begegnungen in Hongkong gehören, „geplagte Menschen, Männer und Weiber, die für 5 Cent täglich Steine klopfen und Steine tragen müssen.“ Später, auf einem Ausflug zum Victoria-Peak, trifft er auf Rotten von Taglöhnern, Männer, Frauen und Kinder, die Ziegelsteine den Berg hochschleppen und für die er durchaus Mitgefühl zeigt: „Aermstes Volk der Erde, grausam mis[s]braucht und abgeschunden, schlimmer als das Vieh behandelt, Lohn der Bescheidenheit Sanftmut und Genügsamkeit.“[2] Bei allem Mitgefühl scheint er nie auf den Gedanken zu kommen, dass zwischen der Kolonialherrschaft und dem Elend der Bevölkerung eine Verbindung bestehen könnte. So überschlägt er sich fast vor Begeisterung für ein durch und durch verrottetes System.

„Die jetzige üppige Flora auf Honkong soll ganz von den Engländern angelegt sein. Diese verstehen das Regieren bewunderungswürdig. Die Polizei wird durch importierte schwarze Inder von wunderbarem Wuchs besorgt, niemals werden Chinesen verwendet. Für letztere haben die Engländer eine richtige Universität errichtet, um die in ihrer Lebenshaltung emporgestiegenen Chinesen an sich zu fesseln. Wer macht ihnen das nach?“[3]

Entschuldigend könnte man sagen, dass er in China Gast von Angehörigen der kolonialen Kaste war, und das nachbetet, was ihm die Profiteure des Systems erzählt haben. Andere Informationen hatte er wohl nicht. Freilich hätte man erwarten können, dass er bei seiner Beurteilung der Chinesen ein wenig nachdenkt, so als er schrieb:

„Alle sind im Lobe des Chinesen einig, aber auch über intellektuelle Minderwertigkeit bezüglich Arbeit im Geschäft; bester Beweis: er erhält 10 mal weniger Lohn in der entsprechenden Stelle, und der Europäer kann doch als Geschäftsangestellter erfolgreich mit ihm konkurrieren.“[4]

Das ist zumindest ein origineller bester Beweis für die Ungleichheit von Einkommen. Mit Beweisführungen jenseits seines Fachgebiets, scheint der große Gelehrte gelegentlich doch heftige Schwierigkeiten gehabt zu haben. Ein Mann, der durch eine Gleichung berühmt geworden ist, hätte eigentlich merken müssen, dass in der Gleichung Hongkong = Ausbeutung + Massenelend + Schmutz = bewundernswürdige Regierung sich irgendwo ein Fehler eingeschlichen hat.

Im „Chinesenviertel“ (Kowloon), wo die Menschen noch nicht zur Lebenshaltung der Engländer emporgestiegen waren und wo es keine kolonialen Prachtbauten und keine üppige Flora gab, beklagt er den Schmutz und den Gestank. „Fleissiges, dreckiges, stumpfes Volk. Häuser sehr schablonenhaft, bienenzellenartige gegliedert Veranden, alles zusammengebaut und eintönig.“ In Shanghai ist es dann auch nicht besser: Die Chinesen stumpf, die Straßen vor Schmutz starrend. „Überall respektabler Dreck.“

Einsteins Beobachtungen stehen ganz im Gegensatz zu denen des Arztes und Naturforschers F. J. F. Meyen, der sich 1832 unweit von Hongkong, in Kanton, aufhielt. Meyen schreibt über die Vorstadt Henan südlich des Perlflusses: „Die Strassen sind sämtlich mit langen und breiten Trottoirs belegt, und es herrscht hier überall eine Ordnung und eine Reinlichkeit, wie sie in Europäischen Städten nicht zu finden ist, obgleich auch hier, ganz ebenso wie in Canton, ein ganz innormes Treiben und Wogen der Menschenmasse stattfindet.“[5]

Hat nun einer der beiden Autoren seinen Bericht erfunden, oder ließen die Chinesen ihre Städte innerhalb von wenigen Jahrzehnten völlig verdrecken? Tatsächlich gibt es einen wesentlichen Unterschied: Hongkong und Schanghai standen unter kolonialer Herrschaft, Kanton aber war frei davon. Der Kolonialismus hat die üblen Zustände, aus denen er die Kolonisierten emporzuheben versprach, erst geschaffen. So beruhen auch Einsteins Bemerkungen über die stumpf dreinblickenden Menschen nicht unbedingt auf Vorurteilen. Menschen, die hungern oder auch nur schlecht ernährt sind, haben nun mal ein stumpfes Aussehen. Vor allem aber gab es ein ungeheures, vom Kolonialismus geschaffenes Opiumproblem.[6] Süchtige aber zeichnen sich bekanntlich nicht durch einen wachen Blick aus.

Bei seinen Spaziergängen durch Hongkong und Schanghai zeigt sich Einstein sehr beeindruckt von der großen Zahl der Chinesen. Schon seit jeher hatten europäische Reisende vermutet, dass es bei der Fruchtbarkeit der Frauen in China nicht mit rechten Dingen zugehen könne. Das Straßenbild gleiche dem Bild einer im Marsch begriffenen Armee, heißt es in einem Lexikonartikel aus dem Jahre 1743,  „worüber auch die Portugiesen, als sie dahin kamen, dermassen erstaunten, daß sie fragten, ob etwan die Chinesischen Weiber auf einmahl 12 Kinder hätten?“[7]

Auch Einstein staunt und spekuliert auch gleich über die Ursachen der Überbevölkerung. In China bestehe nur ein geringer Unterschied „zwischen Männern und Weibern“, und er könne nicht begreifen, welchen Reiz die Chinesinnen ausüben, dass die Männer „sich gegen den formidabeln Kindersegen so schlecht zu wehren vermögen.“[8] Das Wort Weiber, im Jahr 1922 niedergeschrieben, spricht für sich. Gerade wenn es um demographische Fragen geht, schlägt die weltberühmte Menschenfreundlichkeit Einsteins leicht in Misanthropie und Misogynie um. So überlegte er, als gerade die letzten der siebzehn Millionen Leichen vom Schlachtfeld getragen wurden, ob aus Gründen der Bevölkerungsreduktion der Krieg nicht eine begrüßenswerte Veranstaltung sei. Ihn habe, schrieb er im August 1918 an Max Born, die Nachricht erschreckt, dass Europas Bevölkerung im 19. Jahrhundert von 113 Millionen auf fast 400 Millionen angewachsen ist. Das sei doch „ein schrecklicher Gedanke, der einen fast mit dem Krieg befreunden könnte.”[9]

Der Widerspruch zwischen Menschenfreundlichkeit und Menschenverachtung, der hier so offen zu Tage tritt, erklärt sich aus der Herkunft von Einsteins pazifistischer Gesinnung. Einsteins antimilitaristische Haltung ist nicht, wie es der Mythos will, ein Produkt eines tief empfundenen Humanismus. Seine Haltung nährt sich aus dem Widerwillen des süddeutschen Bürgertums gegen die preußischen Junker. Das süddeutsch Zivile, der schwäbisch-jüdische Bürger, steht in der Gestalt Einsteins gegen Preußens Gloria und eine großmäulige Militärkaste. Riskant war das für ihn nie – nicht einmal in Berlin während des Ersten Weltkrieges.[10] Dieser kostenlose Edelmut diente Einstein, nachdem er berühmt geworden war, vor allem der Pflege der Eigenmarke Albert Einstein. Dass er ohne humanistische Skrupel über Menschen als demographisch unerwünschte Masse spekulieren kann, oder dass er dem Atombombenabwurf über Hiroshima interessiert aber tatenlos entgegensieht, ist also so verwunderlich nicht.

Einstein und die Abneigung gegen die Vielen. Dass der Welt die Gelbe Gefahr droht, war seit langem eine gemeineuropäische Furcht. Kaum war das Schiff in den Hafen von Singapur eingelaufen, notierte er seine ersten Eindrücke von den Chinesen: „Die Chinesen vermögen jedes andere Volk zu verdrängen durch Fleiss, Anspruchslosigkeit, Kinderreichtum.“[11] So sah er die Chinesen schon auf dem Vormarsch. „Singapore ist fast ganz in ihren Händen“, meldete er. Nun haben sich die Chinesen aber nicht in Kolonnen über Südostasien ausgebreitet, um die Einheimischen zu verdrängen. Sie kamen, angeworben von englischen Firmen, im Kulihandel als billige Arbeitskräfte.

Eigentlich war die Gelbe Gefahr ein Schlagwort der Konservativen, das sich gegen Pazifisten wie Einstein richtete. Ein sanftmütiges, immer schwächeres, von pazifistischen Träumern verführtes Europa, so lautete die Warnung, liefere sich den Asiaten schutzlos aus. In den Worten des (von Arthur Schnitzler erdachten) k.u.k. Leutnants Gustl: „Am liebsten möchten sie gleich’s ganze Militär abschaffen; aber wer ihnen dann helfen möcht‘, wenn die Chinesen über sie kommen, daran denken sie nicht.“[12]

Die Drohung, dass die Chinesen über ihn kommen, machte Einstein auch nicht wirklich Sorgen. Er war einfach ennuyiert von der Aussicht, dass es nur noch Chinesen gibt. „Es wäre doch schade, wenn diese Chinesen alle andern Rassen verdrängten. Für unsereinen ist schon der Gedanke daran unsäglich langweilig.“[13]

Einsteins Phobien sind eingebettet in eine allgemeine Misanthropie. Die Europäer von Schanghai bezeichnet er als faul, selbstbewusst und hohl, und im selben Eintrag notiert er über einen Empfang: „jüdische und sonstige schmalzige Spiesser in Schar[r]en, übliche Händedrücke und Reden — abscheulich.“[14] Er findet also nicht nur die Chinesen unleidlich, die meisten anderen Menschen sind ihm auch zuwider. Ansonsten war er ein Vertreter seiner Epoche. Europäische Reisende der Kolonialzeit haben oft dümmere Beschreibungen der Chinesen hinterlassen und nur selten klügere.

 

2.

 

Nach einem Spaziergang durch Schanghai – herrliches Wetter, aber in den Gassen wimmelt es, es ist dreckig und stinkt – notiert Einstein: „Merkwürdiges Herdenvolk, oft respektable Bäuchlein, immer gute Nerven, oft mehr Automaten als Menschen ähnelnd.“[15]

Das Wort Herdenvolk hat er von Nietzsche entliehen, der die Sprache seiner Generation um Begriffe wie Herden-Menschheit, Herdentier-Europäer, Herdentier-Moral, Herden-Denkweise, Herden-Natur bereichert hat. Nietzsches Vokabeln waren seinerzeit in der Konversation des Bürgertums unverzichtbar, wenn es darum ging die Massengesellschaften, in Europa oder sonst wo, zu beschreiben.

Zur Beschreibung von Menschen, die Automaten ähneln, fallen einem zuvorderst Arbeiter am Fließband ein – Amerikaner, Europäer. Die Chinesen waren noch lange nicht so weit fortgeschritten. Was hat Einstein also gesehen, Menschen, die auf den Straßen herumwimmeln, oder Menschen, die sich diszipliniert wie Automaten verhalten?

Das Bild von den Automaten entsprang gewiss nicht der Beobachtung. Einstein greift hier auf eine alteingeführte Schablone zurück, die der Liberalismus, der das absolutistische Preußen mit China gleichsetzte, geprägt hatte. Danach war der chinesische (preußische) Staat ein maschinenartiges Gebilde, und die Einwohner Rädchen, die in dieser Maschinerie zu funktionieren hatten.

Für den 48er Revolutionär Johannes Scherr etwa, der sich in seinem Schweizer Exil als Kulturhistoriker etablierte, ist der „deutsch-chinesische Absolutismus und Bureaukratismus“ ver­antwortlich für die Politik der Restauration. Dabei ist China für ihn der „Automat der Weltgeschichte.“[17]

Schopenhauer, der Scherrs politische Überzeugungen keineswegs teilt, aber sich mit ihm einig ist, dass Hegel und seine Schule im Interesse der preußischen Staatsmaschinerie den Bürgern die  Freiheitsrechte verweigern wollen, schreibt: „Einige deutsche Philosophaster dieses feilen Zeitalters möchten ihn [den Staat] verdrehen zu einer Moralitäts-Erziehungs- und Erbauungs-Anstalt: wobei im Hintergrund der Jesuitische Zweck lauert, die persönliche Freiheit und indivi­duelle Entwicklung des Einzelnen auf­zuheben, um ihn zum bloßen Rade einer chinesischen Staats- und Religions-Maschine zu machen. Dies aber ist der Weg, auf welchem man weiland zu Inquisitionen, Autos de Fé und Reli­gionskriegen gelangt ist: …“[18]

Vorstellungen vom Kosmos als Maschine (Johannes Kepler), vom Staat als Maschine (Thomas Hobbes) und vom Menschen als Maschine (René Descartes) hatten schon lange das europäische Denken beschäftigt, als die Aufklärer sich für China zu interessieren begannen, die Korrespondenz der Jesuiten aus Peking auswerteten, und dann meinten einen Staat gefunden zu haben, der tatsächlich wie eine Maschine funktioniere.

Die preußische Regierung unter Friedrich dem Großen zeigte sich von diesen Interpretationen beeindruckt. „Ein wohleingerichteter Staat“ erklärte Mitte des 18. Jahrhunderts der  Kameralist und spätere preußische Staatsbeamte J.H.G. von Justi „muß vollkommen einer Maschine ähnlich sein, wo alle Räder und Triebwerke auf das genaueste ineinanderpassen, und der Regent muß der Werkmeister, die erste Triebfeder oder die Seele sein, wenn man so sagen kann, die alles in Bewegung setzt.“[19]

Als Rädchen im Räderwerk funktionierten die, nach chinesischem Vorbild durch ein rationales Examenssystem ausgewählten Beamten.[20] Statt wie bis dahin die familiären (aristokratischen) Verbindungen, sollten künftig eine Fachausbildung und bestandene Examina über die Besetzung eines Amts entscheiden. Friedrich der Große gründete dazu eine „Oberexaminations­kommission“, die Aspiranten mit Universitätsabschluss in einem mehrstufigen Prüfungsverfahren auf ihre Eignung für den Staatsdienst prüfte.[21] Friedrichs zeitweiliger Hofphilosoph Voltaire, der dem König lange Episteln über die politische Weisheit der Konfuzianer schrieb, befand, dass in Preußen ein Idealstaat nach chinesischem Muster entstehe, und er lobte Friedrich, der so weise regiere wie der Kaiser in Peking.[22]

Einige Jahrzehnte lang konnten sich die Preußen über den Vergleich mit China freuen. Nach der Französischen Revolution aber veränderte sich das europäische Chinabild schlagartig. Mit Jean-Jacques Rousseau hatte sich das Ende der China-Begeisterung angekündigt. Rousseau sah die  chine­si­sche Gesellschaft einer versteinerten Etikette unter­worfen, prunksüchtig, intrigant und geschwätzig – genau wie die Rokoko-Gesellschaft: „Gelehrt, feige, Heuchler, Scharla­tane, Vielredner ohne etwas zu sagen, voll Geist doch ohne ein Genie, reich an Riten, aber unfruchtbar an Ideen, höflich zuvor­kommend, gewandt, betrügerisch und schurkisch, sieht es alle seine Pflichten in der Etikette, alle Moral in der Ziere­rei, kennt es keine andere Humanität als Grüßen und Reverenz.“[23]

Gleich in den Anfangsjahren der Französischen Revolution nennt Herder den chinesischen Staat eine in sich selbst gegründete, zu jeglicher Veränderung unfähige Maschinerie, deren Räderwerk selbst nach einem dynastischen Umsturz wie eh und je weiterlaufe. So hätten die Mandschuren bei der Eroberung Chinas den Staat als „Lehnstuhl kindlicher Sklaverei“ vorgefunden, auf dem sie es sich dann nur bequem zu machen brauchten. „Dagegen die Nation in jedem Gelenk ihrer selbsterbaueten Staatsmaschine so sklavisch dienet, als ob es eben zu dieser Sklaverei erfunden wäre.“[24]

Die Feinde der preußischen Autokratie kamen bald auf den Kunstgriff, China zu beschreiben, wenn Preußen gemeint war. Die Lyriker insbesondere beherrschten dieses Spiel souverän.

Heinrich Heine persifliert die Verhältnisse am Berliner Hof unter Friedrich Wilhelm IV. und lässt den chinesischen Kaiser sagen: „Sobald ich getrunken meinen Schnaps/ Steht China ganz in Blüte./ …  Ich selber werde fast ein Mann,/ Und meine Frau wird schwanger./ … Die Mandarinenritterschaft,/ Die invaliden Köpfe,/ Gewinnen wieder Jugendkraft,/ Und schütteln ihre Zöpfe.“[25]

Der reaktionäre Staat ist immer auch Polizeistaat. Als Kaiser von China war Friedrich Wilhelm IV. der Monarch, der seine Untertanen permanent überwachen lässt: „Sagen Sie, mein grundgelehrter/ Herr Professor, wissen Sie:/ Welche, auf der ganzen Erde/ Ist die frei’ste Monarchie?/ China ist’s! Daß Sie’s nicht wußten!/ Und es liegt wahrhaftig nah‘!/ Der Beschränkteste von allen/ Menschen ist der Kaiser da.“[26] (Adolf Glaßbrenner, Verbotene Gedichte, 1851). Georg Herwegh schließlich schreibt Spottverse über die Zeit „als noch kein Asiate, an der Spree gehaust“ am Hoangho schon Tee getrunken wurde: „Und wo ihn tranken mehr als drei/ Chinesen, kam die Polizei.“[27]

Die nicht von der Hand zu weisende Beobachtung, dass China ein Polizeistaat ist, verbindet sich mit der Behauptung, China bleibe sich ewig gleich. Die Chinesen seien, sagt Schelling, „eine bloße Menschheit, die sich selbst nicht etwa für eines der Völker, sondern gegenüber von allen Völkern als die eigentliche Menschheit ansehen (worin sie auf gewisse Weise Recht haben, inwiefern sie eben kein Volk sind wie die andern).“[28]

Das Bild von der chinesischen Staatsmaschinerie fand Eingang in die populären Enzyklopädien und gehörte bald zum Bestand der bürgerlich-liberalen Weltanschauung. So heißt es in Meyer’s Universum (1860), die Gesetzgebung Chinas sei ihren Prinzipien nach das vollendetste Muster zur Völkerbeglückung. „Aber in ihrer bisherigen Praxis ist sie gerade das Gegenteil von Dem, was sie seyn sollte, –  sie ist eine Maschine, die Civilisation zum Stillstehen zu zwingen, die Völker zu Rotten von Heuchlern und Sklaven zu machen, oder sie zu schlafenden Winterthieren  zu entwürdigen.“[29]

Diese verquere Sentenz nimmt Einsteins China in seiner ganzen Eigentümlichkeit vorweg. Die Chinesen, bemerkt der Reisende beim Anblick der Arbeiter, die für 5 Cent täglich Steine klopfen, werden „für ihre Fruchtbarkeit von der fühllosen Wirtschaftsmaschine hart gestraft. Ich glaube, sie merken es kaum in ihrer Stumpfheit, aber traurig zu sehen ist es.“ Einsteins fühllose Wirtschaftsmaschine, die Strafen für Fruchtbarkeit verhängt, ist eine ebenso seltsame Konstruktion wie Meyer’s Maschine zum Anhalten der Zivilisation. Wie die Zivilisationsstillstands­maschine und die Fruchtbarkeitsbestrafungsmaschine funktionieren, bleibt letztlich ein Rätsel. Eindeutig aber ist, dass für die Ausbeutung der Hongkonger Arbeiter die bewundernswürdige englische Kolonialregierung verantwortlich war.

Das Wort stumpf fehlt selten, wenn Einstein die Chinesen beschreibt, die sich, von wie Vieh behandeln ließen. In einem einzigen Satz seiner Aufzeichnungen klingt freilich das Unwahrscheinliche an: Die ewig Sanftmütigen könnten sich wehren. „Sie sollen übrigens vor einiger Zeit mit merkwürdig guter Organisation einen Lohnstreik erfolgreich durchgeführt haben.“[30] Die schlafenden Wintertiere? Wirklich?

 

Kanton, im August 2018

[1] Hubert Goenner, Einstein in Berlin 1914-1933, München 2005: 68 ff.

[2] The Collected Papers of Albert Einstein, Bd. 13, The Berlin Years: Writings and Correspondence, January 1922- March 1923, Princeton 2012 :545.

[3] Einstein, Collected Papers, Bd. 13 :541.

[4] Einstein, Collected Papers, Bd. 13 :541.

[5] Meyen, F.J.F., Reise um die Erde ausgeführt auf dem Königlich preussischen Seehandlungs-Schiffe Prinzess Louise, commandirt von Capitain W. Wendt, in den Jahren 1830, 1831 und 1832, Bd. 2, Berlin 1835 :369.

[6] Das 1911 geschlossene Abkommen, in dem sich die Briten verpflichteten,  kein Opium mehr in Provinzen zu liefern, die für  „clean“ erklärt worden waren, galt nicht für Schanghai. Pan Ling, In Search of Old Shanghai, Schanghai 1982 :28.

[7] Zedlers Grosses Universallexicon, Halle 1743, Bd. 37, Artikel Sina :1560.

[8] Einstein, Collected Papers, Bd. 13, Eintrag vom 3. Nov. 1922.

[9] Hubert Goenner, Einstein in Berlin 1914-1933, München 2005 :81.

[10] Der pazifistische Kreis, dem Einstein im Ersten Weltkrieg angehörte, blieb weitgehend unbehelligt. Dazu: H. Goenner, Einstein in Berlin :75 ff. Ob Einstein sich auch in Frankreich, wo er als Landesverräter ins Gefängnis gegangen wäre, zum Niederlegen der Waffen aufgerufen hätte, darf angesichts seines Verhaltens im Sommer 1945 bezweifelt werden.

[11] 3. Nov. 1922, Einstein, Collected Papers, Bd. 13 :540.

[12] Schnitzler, Leutnant Gustl, in Meistererzählungen, Frankfurt 1972 :152.

[13] Einstein, Collected Papers, Bd. 13 :541.

[14] Einstein, Collected Papers, Bd. 13, Eintrag vom 1. Jan. 1923.

[15] Einstein, Collected Papers, Bd. 13 :542.

[17] Johannes Scherr, Geschichte deutscher Cultur und Sitte: in drei Büchern, Leipzig 1852 :599.

[18] Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, (1840) Werke, Hg. L. Lütkehaus, Zürich 1988, Bd. 3 :574.

[19] Johann Heinrich Gottlob von Justi,  Gesammelte politische und Finanzschriften über wichtige Gegenstände der Staatskunst, der Kriegswissenschaften und des Kameral- und Finanzwesens, Bd. 3, Kopenhagen 1764 :87.

[20] Schon Friedrich Wilhelm I. (1713-1740), der zwar stets behauptete nur aus der Erfahrung zu schöpfen, orientierte sich bei der Modernisierung des Staatsapparates offenkundig am chinesischen Vorbild. Dazu: Gerhard Oestreich, Friedrich Wilhelm I. Preußischer Absolutismus, Merkantilismus, Militarismus, Göttingen 1977 :112.

[21] John C. G. Röhl, Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 1987 :143.

[22] W. R. Berger, China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, Wien  1990 :71, Anm. 58; dazu Engemann, Walter, Voltaire und China – Ein Beitrag zur Geschichte der Völkerkunde und zur Geschichte der Geschichtsschreibung sowie zu ihren gegenseitigen Beziehungen, Diss., Leipzig 1932 :91 ff. u. Guy, Basil, The French Image of China before and after Voltaire (Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, Bd. 21), Genf 1963 :283 f.

[23] Rousseau, zit. in Ursula Aurich, China im Spiegel der Literatur des 18. Jahrhunderts, Berlin 1935 :32.

[24] Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit,  3. Teil, Riga und Leipzig 1790 :22.

[25] Heinrich Heine, Neue Gedichte (Der Kaiser von China, 1844), Hamburg 1844,  (H. Heine, Sämtliche Werke, Bd. 2, Hg. Hans Kaufmann, München 1964 :56).

[26] Adolf Glaßbrenner, Verbotene Gedichte (annonym in Bern, 1851, als Gedichte erschienen). Ernst Rose, Blick nach Osten: Studien zum Spätwerk Goethes und zum Chinabild in der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts (Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur) 1981 :105 f.

[27] Ein neuer Leich vom Himmlischen Reich, 1866,  Herweghs Werke, Berlin/Weimar, 3. Aufl. 1977 :243.

[28] Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Mythologie, Bd. 2, Darmstadt 1976 (Nachdruck v. Stuttgart +1857,) :522

[29] Meyer’s Universum (1860), Bd. 8 :18.

[30] Einstein, Collected Papers, Bd. 13 :541.

The Legend of the Venetian Knight-Errant at the Court of Kublai Khan, and the True Story of the Busy Official Marco Polo, how he Grew Rich in China and what he Kept Secret from his Readers

Readers of his book often called Marco Polo’s credibility into question.1 How could he have been in China, they asked, when he failed to report on so many conspicuous things? He did not mention the Great Wall, which nobody can easily overlook, nor did he describe the tea or the peculiarities of the Chinese writing. Moreover, instead of Chinese place names, his report often uses Persian and Turkish names, as written by a Muslim traveller. At one point, he claimed to have been governor of Yangzhou, then one of the largest and richest cities in China. His critics say, quite rightly, had he assumed such an important office, his name should appear in the records of the Yuan Dynasty. However, the documents of the Yuan never mention him. These ambiguities led readers to suspect that Marco Polo had his report copied from a Persian source somewhere in the Middle East to present it as “Wonder of the World” to a European audience.

There are good arguments to refute these doubts: In the 13th century the Great Wall was a dilapidated earthen wall, which barely resembled the impressive construction, erected by the Ming emperors 200 years later. Wherever Marco Polo traveled on the ancient Silk Road, he must have met Mongols drinking tea. In addition, Chinese communities resided in West Asia, as in all the trading centres of the empire. That Marco Polo fails to mention the tea appears to posterity, because this beverage has become so important in Europe, as a major oversight. For him, however, tea-drinking was only one of many peculiar habits – and he could not describe all those customs. Moreover, he understood the Chinese language well. Without mentioning the characters in their particularity, he speaks of the great diversity of dialects, noting that different regions nevertheless have a common language and “one uniform manner of writing.2

How Marco Polo became “Governor of Yangzhou”, is a special story, more on which follows below.

Early in the nineteenth century a knowledgeable, but ultimately misguided critic calls Marco Polo’s report a “clumsily composed” Christian propaganda text “to boost the zeal for the conversion of the Mongols”, invented “to redound to the benefit of both the clergy and particularly the merchant class.” Uncle, father and son Polo did accordingly not get further than to Bukhara “whither then, many Italians journeyed.” What is told of the countries east of the Mongol Empire, “are memories of common talks and travel stories by local traders.”3

The pious stories that Marco Polo weaves into his text were also missionary propaganda. Above all, they had a protective function as religiously correct passages in a secular text that came at a time when the Church  was eradicating Waldensians, Cathars, Joachimites and other Luciferiansin pious zeal. Back then, the pyres burned everywhere in northern Italy. A traveller, who reported on his services for the Great Khan, could easily fall into the suspicion of being a tool of hell. Many medieval theologians considered the ruler of the Tartars (ex tartarus = from hell) as Lord of Hell.4 Acts of the Saints, transcribed from devotional literature and interpolated in the travelogue, served as the repeated assertion that a faithful Christian, and not a secret idolater, wrote the text. To give weight to his position, Marco Polo does not shy away from passing off the most bizarre stories as historical events. He tells of a poor shoemaker, who the cruel caliph of Baghdad forced to prove that the Christian faith could move mountains. Of course, the mountain moved. “The khalif and all those by whom he was surrounded, were struck with terror, and remained in a state of stupefaction. Many of the latter became Christians and even the khalif secretly embraced Christianity, always wearing a cross concealed under his garment, which after his death was found upon him; and on this account, it was that, they did not entomb him in the shrine of his predecessors.”5

Pagan rulers who are crypto-Christians, secretly professing Jesus Christ, or even hovering on the brink of conversion together with all their nobles and the people, were common in missionary propaganda. Thus Kublai Khan himself was regarded as a future Christian. Allegedly, he instructed the brothers Maffeo and Nicolo on their first trip to China to ask the pope for able scholars to instruct him and his people in the true Christian faith.6 Moreover, he ordered oil from the lamp of the Church of the Holy Sepulcher in Jerusalem.7 Unfortunately, the dispatch of the 100 priests required failed. “If the Pope had sent out persons”, the writer regrets, “duly qualified to preach the gospel, the grand khan would have embraced Christianity, for which, it is certainly known, he had a strong predilection.” The absence of priests is particularly unfortunate, because the emperor has so many subjects.8 The reference to the many Chinese, who are more numerous than all the rest, was in itself for Marco Polo an argument to give things a unique importance.

 



Neimeng, Lioaning 202

 

Shangdu (Xanadu). Ruins of the palace   © U. Neininger



 

The Beginnings of a Legend  



The matter with the oil from the lamps at the Holy Sepulcher however, proved to be hugely satisfying. When Maffeo, Nicolo and Marco delivered the requested vials in 1275 after reaching Kambalu (Beijing), the ordered vials, the young Marco – he was only 21 years old – caught the attention of the Great Khan, who thought that he was virtuous and of a humble kind (“tugendhafftig vnd von diemütiger art”) and immediately knighted him. The Khan kept him in honour like one of his princes, and the “young knight” swiftly learned the languages of the Tartars, and quickly adopted their habits, as if he were a native (“eyn geporner mann des lands”).9

From a literary standpoint, the vial of oil of the Holy Sepulcher is an elegant insertion in the fashion of the time. Around the year 1190 Chrétien de Troyes‘ Story of the Grail was published, and soon became immensely popular via adaptations and translations all over Europe. Poets did not quite agree on the Grail. Wolfram von Eschenbach regarded it as a stone, but the majority of poets described it as a vessel containing a mysterious substance, which some said was the blood of Christ. The hero of the legend of the Grail is Perceval, who as a naive young man moved out into the world to become a noble knight of the Round Table of King Arthur.

In Italy, the poet Rustichello of Pisa eulogised  the feats of King Arthur and his knights in Old French. The poet met Marco Polo in 1298 in Genoa, where both men were prisoners of war. Since Marco had been barely 17 years old when he set off for his journey to China, he certainly possessed only little formal education. He was, in the words of his most influential editor, Ramusio, “without any regular training in the art of composition.”10 Thus, he probably wrote in the dry style of a shopkeeper. It does not seem that he had ever thought of recording his experiences in a book before he met Rustichello. Now the Venetian had found a poet who could write down all the marvels he had experienced to make sure “that the great wonders and deeds of the almighty God remain not unsaid and not hidden.”11 The Pisan, however, had met the knight-errant, whose adventures he could glorify. In the prologue, he recommended the book to the emperors and kings, the dukes and counts. Definitely, he had a clear idea of its readership. No man was ever born, he praised his hero, “who searched and saw more in this world than the gallant knight Marco Polo.”12 Collaboration must have proved difficult between the poet and the merchant, the man of the past, who rewrote the Celtic legends from early European history, and the man of the future, whose travels were a prelude to the Age of Discovery. 

Kublai Khan, it is said at one point, sent his Venetian courtier “in an important affair of state” to Karazan (Yunnan). Marco behaved “with so much wisdom and prudence in management of the affairs entrusted to him that his services became highly acceptable.”13 Here Rustichello set the solemn tune, but also the narrator clearly does not lack self-confidence. It is noticeable that he does not say a single word about the important affair of state – certainly not out of modesty.

A contradiction characterises the whole book: our young knight Marco resides at the court of Kublai Khan, advises the ruler, travels on his behalf all over the country and shows up in high places. However, what is he doing in China in the first place? Only on two occasions does he make this clear. According to Ramusio’s edition, he served as governor of Yangzhou.14 Furthermore, towards the end of his stay in China, he took command over a flotilla. At that time, Princess Kogatin was attempting to travel to Persia as a royal bride. However, wars blocked the road to the realm of her groom, and the princess and her entourage had to turn back as a result. 

“About the time of their reappearance, Marco Polo happened to arrive from a voyage he had made, with a few vessels under his orders, to some parts of the East Indies and reported to the grand khan the intelligence he brought respecting the countries he had visited, with the circumstances of his own navigation, which, he said, was performed in those seas with the utmost safety.”15

The commander set sail with his flotilla and just happened to return in time to reassure the beautiful princess that she could travel safely to India. Certainly the young Marco knew his way around the East Indies. Even on the wide ocean he was the knight errant, moving through the world, from one place to another, always on the lookout for new adventures. 

In general, he is a hero who wanders aimlessly. He often vanishes over many chapters, disappearing from the text until he reports back as the narrator: “Marco Polo, in travelling through the province, has only noted such cities as lay in his route, omitting those situated on the one side and the other, as well as many intermediate places, because, a relation of them all would be a work of too great length, and prove fatiguing to the reader.”16 When he talks about himself, it is mainly to corroborate the accounts with the stamp of his authority. For example, he writes about the defeat of the Caliph of Baghdad: “I judge that our Lord Jesus Christ herein thought proper to avenge the wrongs of his faithful Christians, so abhorred by this khalif.”17 In addition, considering the marvel of the countless ships on the Yangtze he remarks “I, Marco, have to tell you quite honestly: In the whole world are not so many ships as in this country or on the river Quiam.”18 On the other hand, when he describes the rain of arrows in a battle: “I, Marco Polo, saw with my own eyes a heaven covered with arrows, going from one side to the other, as water raining from heaven.”19

The erratic description of the hero partly results from Rustichello’s literary weaknesses. However, the main cause of the erratic storytelling is a serious flaw in the narrative material. Although Marco Polo claims, that he “diligently and regularly” wrote down all the knowledge he acquired personally or by hearsay 20, he reveals to his readers nothing about his activities in China. He conceals his doings on purpose and quite systematically. His text raises many questions. However, the key question is not: “Was Marco Polo in China?” The question is: “What was he doing in China?”

 

Traveling here and there


For European readers, it may have seemed quite logical that the  knight errant and great voyager would receive a personal reward from the Emperor after his arrival. From a Chinese standpoint, however, the Polos were three strangers in a crowd of strangers who ended up in China. In the wake of the Mongol conquest, foreigners came in large numbers to the Far East as merchants, soldiers and enslaved prisoners of war. There were plenty of Turks, Christian Alans, Russians, Persians, Syrian Nestorians and other residents of the Mediterranean in China. Once Marco Polo mentions a German who built a catapult for the Mongols during the siege of a Chinese city.21 In the vast and indistinguishable mixture of foreigners living under Mongol rule, coming from afar, from Venice, was not enough to become an adviser to the Emperor. On the other hand, there were many opportunities for a young intelligent foreigner to enjoy at least a modest career as a Chinese official. 

The imperial bureaucracy at the time was already a venerable institution that followed longestablished rules. However, the Mongol invaders abolished the examinations, a substantial part of this institution. The sons of the steppe warriors, who had conquered the kingdom on horseback, had no chance against the sons of the native Confucian elite in the traditional examination system. Thus, ethnic criteria became crucial for selection. The Mongols divided society into four classes.22  They reserved the highest rank for themselves. The Semuren 色目人 (the „people of special class“ = the foreigners) followed them. The Hanren 漢人 (the northern Chinese and the former nomadic peoples who as conquerors and settlers had lived already for a long time in northern China) formed the third class. The last were the Nanren 南人 (the southern Chinese), pejoratively called Manzi 蠻子.23 Offices were assigned according to this order, but also according to aristocratic rank, military merit, loyalty and, less importantly, intellectual abilities. In order to monitor the effectiveness of their bureaucracy, the Mongol invaders retained the routine evaluation (kao ). Every three years – or every 30 months in the capital – they evaluated an official’s performance. Afterwards, the court decided on his transfer, promotion or demotion.  As rulers of South China, the land of Mangi, the Emperor appointed nine “viceroys”. One of these nine governors ruled in Hangzhou. He also received his post “like all other public officials” for three years only. 24 The rotation system worked reasonably well, although it occasionally led to abuse of power.25

In order to get – literally – on Marco Polo’s trail, we have to follow his travel routes. He seems to have travelled in a straight line. The graphical representation of his journeys in China comprises two lines: one route from Beijing to Yunnan, the other in a south-easterly direction from Beijing to Zayton (Quanzhou). The places he visited appear like beads on a string. Thus, one has the impression that Marco only undertook two major journeys in China (apart from his arrival). 

Marco Polo himself says quite the opposite. He claims to have travelled widely: “When the grand khan sent me, Marco, to fulfill an order in distant lands of his kingdom, I often stayed four months on the trip, and explored all the things I met with diligence, traveling here and there.”26 He travelled often, he says, here and there, in every part of the empire. 

The chapter on the distances from Beijing to Yunnan and Beijing to Quanzhou usually begin with the indication of the distance from one place to the next. Taken by itself, the initial sentences create an itinerary, similar to the topographic descriptions used by the travelling merchants in Southwest China until very recently.27  The itineraries record the distances from place to place, the bridges, fords, fountains and mountain passes, the predatory and welcoming villages, and in general, all points a traveller should know. Regular updated and revised, the itineraries preserved the travel experience of several generations of traders.

Marco Polo undoubtedly owned such itineraries and brought them back to Italy. Therefore, itineraries must have been among the records he requested from Venice when he wrote his book in Genoa.28 The information on distances and facts were surely a great help in outlining the text. That explains the schematic beginning of the chapters: “At the end of ten days’ journey from the city of Gouza, you arrive (as has been said) at the kingdom of Ta-in-fu …” (chapter 29). “Leaving Ta-in-fu, and travelling westward, seven days‘ journey, through a fine country in which there are many cities and strong places, where commerce and manufactures prevail, and whose merchants, travelling over various parts of the country, obtain considerable profits, you reach a city named Pi-an-fu …” (chapter 30).  “In a western direction from Pi-an-fu there is a large and handsome fortress named Thai-gin …” (chapter 31). “Upon leaving the fortress of Thai-gin, and travelling about twenty miles, you come to a river called the Kara-moran …” (chapter 32). “Having crossed this river and travelled three days’ journey, you arrive at a city named Ka-chan-fu … “ (chapter 33).29

The breakdown by itineraries reinforces the impression of an awkwardly patched, “clumsily composed” work. Thus, it partly resembles a logbook. 1st day: Arrival in Ta-in-fu. 2nd day: Continue to Pi-an-fu. 3rd day: Stay in Thai-gin. 4th day: Continue to Kara-moran. 5th day: Arrival in Ka-cian-fu. This pedantic structure interferes constantly with the romantic momentum Rustichello tries to give the text. Almost completely absent from the mundane reports and the far-flung storytelling is the personal, realistic narrative. Descriptions as of the bridge that became famous in Europe under his name are rare: “Upon leaving the capital and travelling ten miles, you come to a river named Pulisangan, which discharges itself into the ocean, and is navigated by many vessels entering from thence, with considerable quantities of merchandise. Over this river there is a handsome bridge of stone, perhaps unequalled by another in the world. Its length is three hundred paces, and its width eight paces, so that ten men can, without inconvenience, ride abreast.”30

This textual structure has led commentators to assume that Marco Polo only undertook two long trips in China. They usually ignored his own claim that he had travelled over the whole country. Certainly, he never travelled back and forth across China, and once again it was Rustichello who was responsible for maintaining that the Khan had sent Marco Polo “to confidential missions in every part of the empire. Undoubtedly, he travelled extensively in China, but always in areas where he had some ordinary work to do. He was active in the coastal area of the southeast, on the Grand Canal and in the mountainous regions of the southwest. The text describes his doings implicitly, as a knight errant travels “in lands faraway to kings and lords”31 and not from government department to government department.

If a nobleman, a highly honored courtier, an adviser to the Emperor is in charge, then he sails across the sea as a commodore.  Residing in a city, however, he must be at least a governor, personally appointed by the Emperor. Certainly, it was not a careless copyist, who elevated Marco Polo from a simple official to governor. The editors just refused to believe that an “Honorary Companion of the Emperor” when he deigns to hold office, does not govern at least a Province. The Creussner-Edition however, notes here soberly:

“I, Marco Polo, ordered by my master, the great Khan, was three years in the service of the governor and captain of the land Mangi.”32

He had taken a typical Chinese officials career where dislocations in three-year intervals were the norm. Exceptional however, and a common occurrence in the Mongol period only, was the fact that a foreigner could make a career in the Chinese bureaucracy.

 



How Marco became an official


Below Rustichello’s high-spirited descriptions, on the realistic layer, the text explains how the young man from Venice gained access to the civil service. Marco Polo rarely mentions personal names, and then only in historical contexts. An exception is his travelling companion Zufficar, about whom we learn that he was a Turkish merchant and a baron33, and a “great master of the ores or mines”, responsible for mining in the province Chinugiatasal, where he had stayed for three years.34  On his way back to the capital, he met Marco.

His fellow traveller’s knowledge certainly impressed the master of ores and mines. Marco could tell him about Armenia, where they used oil as fuel, or Kerman in Persia, where they used mining zinc to produce an eye ointment (sormeh) and medicine to treat skin diseases. Despite his limited formal education, the young man proved to be an able inquirer into geological and chemical phenomena: 

“They take the crude ore from a vein that is known to yield such as is fit for the purpose, and put it into a heated furnace. Over the furnace, they place an iron grating formed of small bars set close together. The smoke or vapour ascending from the ore in burning attaches itself to the bars, and as it cools becomes hard. This is the tutty; whilst the gross and heavy part, which does not ascend, but remains as a cinder in the furnace, becomes the spodium.”35

In Afghanistan, he was interested in the mining of rock salt with iron tools.36 His observations about the salt mining in particular, must have been very useful for his later career as an official.

On the way to Beijing, Zufficar explained the production of asbestos to him. In ancient times, merchants had introduced asbestos cloth from the Roman Orient to China. Because of its fire-resistance, it became the subject of many miracle stories. The Europeans believed asbestos being the hair of the salamander, living in the fire.37 In China, the famous alchemist, Ge Hong, described asbestos as the hair of a white rodent that feels quite comfortable in the flames.38

In 1267, the Minister Ahmed39 petitioned Kublai Khan to access the asbestos deposits in his realm.40 Until then, the Chinese had regarded asbestos as an exotic commodity. Zufficar was certainly very familiar with asbestos production, and may even have supervised the mining. Marco Polo summarizes the master’s knowledge as follows:

“The fossil substance procured from the mountain consists of fibres not unlike those of wool. This, after being exposed to the sun to dry, is pounded in a brass mortar, and is then washed until all the earthy particles are separated. The fibres thus cleansed and detached from each other, they then spin into thread and weave into cloth. In order to render the texture white, they put it into the fire, and suffer it to remain there about an hour, when they draw it out uninjured by the flame, and become white as snow.”41

Marco calls asbestos “a substance of the nature of the salamander”, but he adds to his definition: “And you may know in truth that salamander of which I speak is not a beast nor serpent, for it is not true that those cloths are of the hair of an animal which lives in fire, as one says in our country …  No beast nor any animal can live in fire, because each animal is made of the four elements, namely air, water, fire & earth, so that an animal of any kind has in it heat, moisture, cold, & dryness.“42 Berthold Laufer explains: “Marco Polo, with his keen power of observation and his large share of common sense, was the first to shatter the European superstition.”43 Neverthe­less, people believed until modern times that asbestos was the hair of the salamander.44

The young Marco, who now approached the imperial capital, had to contemplate finding work in China.  As there was only a slim chance to become a personal adviser to the Emperor, he had to consider a more common career. In a situation like this, it was extremely useful to know a “good fellow”, who held a senior position in the administration of the imperial mines.

Zufficar had noticed his companion’s scientific interests. As Marco came from a family of merchants, he certainly also had a good head for figures. That was another huge advantage for his future profession. The Turkish mining official obviously recommended the talented young man to the salt distribution agency.45 The salt authority in Yangzhou had merged with the department of transportation and developed into a second tax office. The officials of the salt distribution authority were therefore a kind of tax officials. Semuren largely managed the finances of the Yuan, as the Mongol invaders mistrusted their subjects particularly in tax matters.46

Marco was a perfect choice for the agency. His life in the service of the salt distribution authority differed completely from the world of secret state affairs, which the romance writer Rustichello envisioned for him. Nevertheless, the narrator and his poet successfully created a text, in which both levels had their own place. Indeed, their cooperation was a stroke of luck: The chivalric romance, which enlivened the otherwise dry text, made the success of the book possible. Very fast, it became popular in a variety of transcripts, translations and adaptations. Marco Polo was not the only European who visited China at the time, and certainly, other returnees had as well many interesting things to talk about. Oderico of Pordenone, who a few decades later, from 1323 to 1328, was travelling in China, remarks on Hangzhou, he would not dare to speak of the gigantic proportions of this city, had he not “met at Venice people in plenty who have been there.”47 All those travellers vanished into oblivion because none of them had found his Rustichello.48

Even the masterful description written by William of Rubruk, who had visited the Mongol capital Karakorum 1253-54, only survived  by accident. Just three manuscripts of his Itinerarium fratris Willielmi de Rubruquis were preserved, all in England, where Roger Bacon used the text of his Franciscan frater to study the tales on Gog and Magog.49

Marco Polo repeatedly reports about salt, salt production and salt transport. These dry topics certainly displeased Rustichello.  It would have been a comfort to him had he known that later editors of the text, whose original has been lost, busily promoted the legend of the knight errant and at the same time pruned the passages about the realities of his life in China. Thus, most editions abbreviate the descriptions of salt production in the province Kaindu. The Ramusio edition, however, reproduces the passage in full in 1559: 

“In this country there are salt-springs, from which they manufacture salt by boiling it in small pans. When the water has boiled for an hour, it becomes a kind of paste, which is formed into cakes of the value of twopence each. These, which are flat on the lower, and convex on the upper side, are placed upon hot tiles, near a fire, in order to dry and harden. On this latter species of money the stamp of the grand khan is impressed, and it cannot be prepared by any other than his own officers. Eighty of the cakes are made to pass for a saggio of gold. But when these are carried by the traders amongst the inhabitants of the mountains and other parts little frequented, they obtain a saggio of gold for sixty, fifty, or even forty of the salt cakes, in proportion as they find the natives less civilized, further removed from the towns, and more accustomed to remain on the same spot; inasmuch as people so circumstanced cannot always have a market for their gold, musk, and other commodities.”50

The salt monopoly guaranteed the state a higher income than all the other kinds of taxes.51 Yunnan was particularly important. As a border region with troubled neighbours, it enjoyed a special status. The tax remained in the province, which was ruled by a grandson of Kublai Khan. There are, said Marco Polo, “salt-springs, from which all the salt used by the inhabitants is procured. The duty levied on this salt produces a large revenue to the king.” Because the few factories and the few transport routes were easy to control, the salt tax was continuously increased as a secure source of income. In particular, it helped to cover the immense costs of warfare for the Mongol armies. In Yunnan, reported Marco Polo, salt is so expensive that only “persons of the higher class” could afford it. They prepared raw meat by cutting it into small pieces and putting it in a spicy pickle of salt. The poorer people “only steep it, after mincing, in a sauce of garlic, and then eat it as if it were dressed52

In line with the bureaucratic routine, Marco must have spent at least three years in Yunnan. Considering the wealth of material, he probably held two or three posts successively in the southwest. His career then took him to southeast China. He travelled to Yangzhou, and one can say with certainty that he stayed in the city of Hangzhou, which he so accurately describes, for three years. As an official of the governor of “Mangi” (i.e. South China), he was probably involved in moving the government department from Yangzhou to Hangzhou.53

The central salt authority supplying large parts of the country with the commodity supervised 29 salt offices54, most of which were located in the area between the coast and the Grand Canal. However, the most profitable saline area was Cangzhou in the north. The city on the Grand Canal was a trade centre for eight salt mines and is still a centre of salt production in China today.55 As Marco Polo again describes the production comprehensively, we can presume that he held office in Cangzhou. As so often in his description of a city, the narrator enumerates a few platitudes: 1. The inhabitants worship idols. 2. They burn bodies. 3. They use paper money. Then he goes into detail:

“In this city and the district surrounding it they make great quantities of salt, by the following process: in the country is found a salsuginous earth; upon this, when laid in large heaps, they pour water, which in its passage through the mass imbibes the particles of salt, and is then collected in channels, from whence it is conveyed to very wide pans, not more than four inches in depth. In these it is well boiled, and then left to crystallize. The salt thus made is white and good, and is exported to various parts. Great profits are made by those who manufacture it, and the grand khan derives from it a considerable revenue.”

The Yellow River, which at that time flowed south of the Shandong Peninsula into the sea, formed the boundary between Cathay and Mangi. Right from the southern shore, Marco reported, they manufacture salt in large quantities “sufficient for the supply of all the neighbouring provinces. On this article the grand khan raises a revenue, the amount of which would scarcely be credited.”56

 

After making a fortune, the tax official is getting in trouble and returns home


After 17 years in China and making a fortune, Marco Polo was in trouble. According to Creussner’s edition:

“When the young knight, Master Marco Polo was with his father altogether seventeen years at the court of the great emperor of Cathay, he was kept in such a great honor that the Lords became somehow envious. By now he thought with increasing frequency of an honorable departure, as he was fearful that the Lords in the long run would not tolerate him.”57

The knight errant therefore asked the Emperor for a discharge. In the version by Ramusio, however, it is solely homesickness that makes him decide to leave China: “Our Venetians having now resided many years at the imperial court, and in that time having realized considerable wealth, in jewels of value and in gold, felt a strong desire to revisit their native country, and, however honoured and caressed by the sovereign, this sentiment was ever predominant in their minds.” Yet, Kublai proves to be extremely affectionate and very concerned for his Venetians: Such a trip is still dangerous, he warns, and in general, if money is the question, that problem can be solved. He offers them to double their wealth. When they still insist on leaving, he simply denies them their wish. 58

Rustichellos romantic masterpiece is the description of the parting of uncle, father and son from China.

Every chivalric romance must include a beautiful damsel (“ein schöne iunckfrawen”) who needs the protection of the gallant knight and who in the right moment comes to his aid.59 Marco had found such an exemplary young Lady, “seventeen years old and well built”.60 Princess Kogatin was on her way to her future husband Arghun, the “King of India”. (Arghun ruled only over Persia, but India he would have loved to have.)  The Persian envoys, who “heard the Latin knight praised and knew about his virtue” promised to support his wish to travel back to Venice. The “young queen” personally pleaded with the emperor for permission to sail across the sea in company of the knight Marco.61 This request the magnanimous ruler could not deny.  As a farewell gift, Kublai presented his Venetians “with many rubies and other delicious gems of great value.” However, they had to promise that they would soon return to China. 

One thing seems to be indisputable: uncle, father and son Polo had become rich in China. “In the enjoyment of health and abundant riches”, they reached their home.62 Ramusio describes how they unstitched the hemlines of their clothes once they arrived back in Venice and took out incredible amounts of jewels.63

Bureaucrats in China regularly amassed a fortune while in office. Of course, they did not become rich through receipt of personal gifts from the Emperor. An emperor who presents his officials with a box full of emeralds and rubies only exists in Rustichellos chivalric romances. Officials at the salt administration usually acquired a fortune because they embezzled a considerable part of the duties and taxes. Yunnan, where the taxes were high and the transport routes easy to monitor, was a good place for a greedy official. The costs for consumers, Marco Polo reports, went up “in proportion as they find the natives less civilized, further removed from the towns, and more accustomed to remain on the same spot; inasmuch as people so circumstanced cannot always have a market for their gold, musk, and other commodities.”64 He argues here like a modern social scientist writing about the exploitation of the periphery by the metropolis.

In Yunnan and the neighbouring borderlands of Burma, people paid for their salt and the salt tax with precious stones and pearls. It is very likely that part of the jewels the three Polos carried to Venice were earned by  Marco as a tax official in the southwestern corner of the Mongol empire. 

The misappropriation of tax revenues was quite common.65 Thus, an official lived in permanent fear of a corruption complaint. To insure himself against such a twist of fate, he needed a circle of friends as helpers in need.

If his circle was too weak to compete with other circles in the bureaucracy or an individual became isolated within his circle, the government confiscated the assets he had accumulated, sent the offender into exile or had him executed. A prudent official therefore always had to be on his guard against intrigue. In his long career, Marco Polo had had many opportunities to study the uncertainties of a civil servant’s life. When he realised that some powerful people around him had “become envious”, he was experienced enough to seek his dismissal from the service. 

In short: Marco Polo was working as an official for the state’s salt monopoly. He, like others, amassed a fortune in his office. Why did he not tell his readers about this?

First, there was the influence of Rustichello who needed for the hero’s part of the text a glorious knight at Kublai Khan’s Round Table, and by no means a middle level civil servant. More important however was the stigma resting on the tax collector in the Middle Ages, which precluded Marco Polo from confessing to his profession. Christianity considered the “publican”, as well as the moneychangers, usurers, pawnbrokers and other professions involved in financial transactions, to be dishonorable.66 The New Testament, in the Middle Ages the supreme authority in matters of ethics, told the story of the forgiving Jesus, who, sitting at a table with publicans and other sinners, becomes the scorn of his enemies. In the famous parable of the Pharisee and the Publican, the Pharisee considers the tax collector worse than the extortioners, the unrighteous and the adulterers.67

This explains why the traveller writes explicitly about salt, the salt tax, general finance and the monetary policy, and seems to be quite uninvolved, as if he had received this information by chance, such as when he reported from Quinsai (Hangzhou): “The account being made up in the presence of Marco Polo, he had an opportunity of seeing that the revenue of his majesty, exclusively of that arising from salt, already stated, amounted in the year to the sum of two hundred and ten tomans (each toman being eighty thousand saggi of gold), or sixteen million eight hundred thousand ducats.”68 He boasts about his firsthand knowledge, and maintains he acquired it accidently.

The Chinese bureaucracy was never reputed to give outsiders an opportunity to add up its figures. Here speaks a man who was involved in the operation. The image of the famous traveller may now lose a bit of its lustre. He was not a famous court official of Kublai Khan. He was not involved in important state affairs. However, there can be no doubt that he was in China.

Beijing, June 2012  

English version: Berlin, November 2016  

© 2016 Ulrich Neininger     u.neininger@hotmail.com

Veröffentlicht unter China

Die umherirrenden Seelen von Myitkyina. Notizen zu einer gescheiterten Heimholung

Hervorgehoben



Amanda Kwan & Ulrich Neininger, Notizen zur Politik, Gesellschaft und Kultur im Grenzgebiet von China, Birma und Laos (5).

 

Nach Hause zu kommen, das ist die Sehnsucht vieler umherirrender Heldenseelen. 时代周报 ( Wochenzeitung Das Zeitalter) vom 25. Jan. 2013.

Zu den immer wieder beschworenen Gründungsmythen der Volksrepublik China gehört der Krieg gegen die Japaner. Der entscheidende Anteil der Kuomintang-Truppen im Kampf gegen die Invasoren blieb dabei lange verschwiegen. Unbeachtet blieb dann auch der Kampf der Kuomintang in Birma an der Seite der Amerikaner und Engländer. Chinesische Händler, die in den achtziger Jahren, nach einer langen Unterbrechung der Handelsbeziehungen, wieder in die Nachbarländer reisten, berichteten aus Birma von Kriegsgräbern, an die sich in China niemand mehr zu erinnern schien.

Die Japaner waren im Frühjahr 1942 in Birma einmarschiert. Sie eroberten Rangun und standen kurz danach schon vor den Ölfeldern von Yenangyaung, wo sie siebentausend Soldaten der Kolonialmacht einkesselten.1 Den Eingeschlossenen gelang der Ausbruch erst, nachdem ihnen der Kuomintang-General Sun Liren mit seinen Truppen zu Hilfe kam. Die Japaner aber rückten weiter nach Norden bis nach Myitkyina im Kachin-Staat vor. Damit war die Kuomintang, die von Südwestchina aus den Krieg gegen die japanische Besatzung führte, vom Nachschub über Land abgeschnitten. Das amerikanische Rüstungsmaterial, das die Chinesen dringend brauchten, musste nun über eine Luftbrücke vom indischen Assam nach Kunming in Yünnan transportiert werden.

Der von Chiang Kaishek ernannte Generalstabschef der Kuomintang-Armee, der Amerikaner Joseph Stilwell, zog im Frühjahr 1944 chinesische und amerikanische Einheiten zur Rückeroberung von Myitkyina zusammen. Eigentlich waren seine Truppen dafür zu schwach, aber Stilwell, der die Briten hasste und ihren Oberbefehlshaber in Birma, Louis Mountbatten, als „einfältigen Arsch“ verachtete2, wollte von den „Limies“ keine Verstärkung anfordern, zumal er ihnen nachtrug, dass sie ihn in Birma formal Mountbattens Kommando unterstellt hatten.3

Die Berichte der „Newsboys“ von Readers Digest und Time hatten den eigenwilligen General in den USA populär gemacht. So war seine Ankündigung der Kampf um Myitkyina solle einen „American flavor“ erhalten4, gewiss auch von dem Wunsch getragen, den vielen Bewunderern daheim eine Freude zu bereiten. („Great stuff for the newsboys.“)5 Die als Merrill’s Marauders bekannt gewordenen amerikanischen Truppen, die schon auf dem Weg durch feindliches Gebiet schwere Verluste erlitten hatten, wurden bei der dreimonatigen Belagerung von Myitkyina fast völlig aufgerieben. Die Masse der gefallenen Belagerer bestand indes aus Chinesen. Die Japaner räumten schließlich ihre Stellung, ihr General beging Selbstmord, und seine Soldaten durchbrachen den Belagerungsring und zogen sich weiter nach Süden zurück.

Im kommunistischen China waren diese Ereignisse unbekannt geblieben, bis die neu erwachten Nationalisten sich an die gefallenen Landsleute zu erinnern begannen. Die Kuomintang in Taiwan war mittlerweile eine von Peking hofierte Kraft, und das einst sinophobe birmanische Militär war nun der Regierung in Peking, die so viel Verständnis für die Generäle zeigte, freundschaftlich verbunden.

II.

Im November 2015 bewegte sich eine lange Fahrzeugkolonne der in Shenzhen residierenden patriotischen Longyue Wohltätigkeitsstiftung6 auf Myitkyina zu. Die Stiftung beabsichtigte, die sterblichen Überreste von vorerst 347 chinesischen Soldaten in sechs Reisebussen nach Yünnan heimzuholen. Im Kreis Shidian sollte dann ein Empfangskomitee die Heldenseelen mit Salutschüssen und brennenden Kerzen begrüßen.7

Die Knochen der Soldaten wurden im Haus der Yünnaner Landsmannschaft gelagert. Dahin waren sie auf ungewöhnliche Weise geraten: In den fünfziger und sechziger Jahren hatte die birmanische Armee die chinesischen Kriegsgräber einebnen lassen.8 Als 1963 die Bagger die Grabstätten der 40. und 50. Kuomintang-Division in Myitkyina zerstörten, sammelten ortsansässige Chinesen des Nachts die überall verstreuten Knochen ein, begruben sie an anderer Stelle oder verwahrten sie in Verstecken.9

Der Glaube, dass Tote ohne ordentliches Grab keine Ruhe finden, ist in der chinesischen Tradition tief verwurzelt. Dass die ruhelosen Toten von Myitkyina im Kampf gegen die Japaner gefallen sind, bereitet den chinesischen Nationalisten zusätzlichen Kummer. Die Seelen der Gefallenen jagen des Nachts in wilden Scharen über das Schlachtfeld. Ein ganzer Trupp von ihnen, so schilderte es ein einheimischer buddhistischer Mönch, sei einmal laut klagend auf ihn zu gerannt, um sich zu beschweren, dass die Nachwelt die Gefallenen völlig vergessen habe. Als ein Repräsentant der patriotischen Stiftung von diesen Klagen erfuhr, bat er den Mönch, den Toten auszurichten: „Wir haben euch nicht vergessen, wir werden kommen, um euch nach Hause zu bringen.“10

Bei ihrer Ankunft in Myitkyina erlebte die patriotische Abordnung indes eine Enttäuschung. Die Landsmannschaft, die Verwalterin der Knochen, hatte den Zugang zu ihrem Versammlungshaus versperrt und wollte sich keineswegs von den Toten trennen. Myitkyina, wo einige Tausend Chinesen wohnen, war zur Kaiserzeit ein Zufluchtsort für die Mitglieder von Geheimgesellschaften gewesen.11 Im Bezirk siedelten sich auch schon sehr früh chinesische Händler und landlose Bauern an. Die meisten chinesischen Einwohner kommen aber aus Familien ehemaliger Kuomintang-Soldaten.

Die Landsmannschaft schickte die Kolonne unverrichteter Dinge zurück nach China und gab eine Presseerklärung heraus, in der sie die mangelnde Legitimität der Stiftung, ihre undurchsichtigen Entscheidungen und die kostspielige Geltungssucht ihrer Träger rügte. Es solle hier sehr viel Geld für die Umbettung von Toten ausgegeben werden, deren Nachfahren das Geld viel dringender brauchen könnten. Kritisiert wurde insbesondere das großspurige Gehabe der Stiftung. Die riesige Wagenkolonne erwecke den Eindruck „man würde der staatlichen Souveränität Birmas nicht genug Beachtung schenken.“12 Im Übrigen wies die Landsmannschaft darauf hin, dass sie ein eigenes Grabmal plane, und die Knochen dafür brauche.

Eigentlich sei es doch, hieß es nun in der Presse, Aufgabe der chinesischen Regierung, sich um die Gefallenen zu kümmern. Umso mehr weil es hier gilt, sich an den Japanern zu messen. Zu den wenigen chinesischen Gefallenen, die eine würdige Ruhestätte gefunden haben, gehörten die Taiwaner, die von der japanischen Besatzungsmacht eingezogen, für Japan gestorben waren. Die Japaner haben sogar ihren Militärpferden ein Monument errichtet. Ein in der Nähe von Mandalay aufgestellter Gedenkstein nennt die Namen von 763 auf dem Feld der Ehre gefallenen Rössern.13

III.

Der Eifer der Patrioten bringt die Regierung in Peking in eine schwierige Lage. Die Engländer und Amerikaner hatten in Birma den westlichen Imperialismus gegen die Japaner verteidigt, und die Chinesen hatten sie dabei unterstützt. Auch hatten sich unter der Fahne der Kuomintang nicht nur reine, edle Freiheitskämpfer versammelt. Beim ihrem Abzug waren die chinesischen Soldaten als Plünderer derart gefürchtet, dass die Bauern entlang der Rückzugsroute die Dörfer räumten und sich mit ihren Habseligkeiten und ihren Haustieren in die Wälder flüchteten.14

Für die Birmanen gibt es also keine chinesischen Helden zu feiern. Pompöse Zeremonien und die Errichtung von großartigen Denkmälern sind da nicht erwünscht und könnten, wie es die Landsmannschaft angedeutet hat, als Missachtung der birmanischen Souveränität verstanden werden.

Die Regierung in Peking weiß um diese Empfindlichkeiten und hat ihren Botschafter in Birma erklären lassen: „Wir billigen nicht, dass irgendwelche Personen oder Organisation über die sterbliche Überreste der chinesischen Soldaten im Birma verfügen.“ Die Stiftung gab sich nun kleinlaut und bekannte, sie habe „die Risiken falsch eingeschätzt.“15 Die Heimholung der Seelen ist also bis auf weiteres verschoben. Die nun bereits in mehreren patriotischen Vereinigungen zusammengeschlossen Protektoren der Heldenseelen werden freilich weiter die chinesische mit der japanischen Kriegsgräberfürsorge vergleichen und enttäuschte alte Kämpfer zitieren, wie jenen Kriegsveteranen, der auf dem Sterbebett sprach: „Im Zweiten Weltkrieg waren die Chinesen in Birma die Sieger, aber nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Japaner die Sieger.“16

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Berlin, im April 2016     © 2015 Amanda Kwan & Ulrich Neininger (u.neininger@hotmail.com)

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Veröffentlicht unter China

Oberbirma 1907: Wie die Deutschen einen Markt übernahmen und sich einen Krieg einhandelten. Zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs. Ein Fallbeispiel

Hervorgehoben



Amanda Kwan & Ulrich Neininger, Notizen zur Politik, Gesellschaft und Kultur im Grenzgebiet von China, Birma und Laos (4).

Must get those old glasses of mine set right. Goerz lenses six guineas. Germans making their way everywhere. Sell on easy terms to capture trade. Undercutting.

James Joyce, Ulysses (Bloomsday, 16. Juni 1904)


Archibald Ross Colquhoun, ein führender britischer Kolonialpolitiker, veröffentliche 1885 ein Buch, das schon im Titel keinen Zweifel daran zuließ, worauf es in Birma ankommt: Burma and the Burmans or „The best unopened market in the world.“1

England hatte bereits in zwei Kriegen die birmanischen Küstengebiete und den Hafen Rangun annektiert. Oberbirma mit der Hauptstadt Mandalay war freilich noch unabhängig. Der König Thibaw galt als schwacher Monarch, der, wie es hieß, unter der Fuchtel seiner Frau Supayalat stehe. Der ehemalige buddhistische Mönch kaufte nicht nur alle Sklaven in der Hauptstadt frei, er war auch exzentrisch genug, seine Religion ernst zu nehmen und das Töten und die Käfighaltung von Tieren in seinem Reich zu verbieten.2

Einige Jahre zuvor, 1878, hatte eine Palastclique, um Thibaws Herrschaft zu sichern, ohne Wissen des Königs eine Anzahl möglicher Thronprätendenten festnehmen und ermorden lassen.3 Die britische Kaufmannschaft in Rangun verbreitete ihre eigene Version der Vorgänge. Die Geschichte vom finsteren König Thibaw und seiner blutrünstigen Gemahlin Supayalat, die hohnlachend zusehen, wie gedungene Mörder kleine Prinzen gegen die Kerkerwand werfen, sollte die britische öffentliche Meinung auf eine Annexion Birmas vorbereiten. Es war nämlich ein langgehegter Wunsch der Kaufleute, dass das birmanische Volk befreit und der erleuchteten Herrschaft der Kolonialregierung in Indien unterstellt werden möge.4 Die englische Regierung indes zeigte sich an einer Invasion vorerst nicht interessiert, zumal sie sich an der Nordwestgrenze ihrer indischen Besitztümer in einem Krieg mit den russlandfreundlichen Afghanen befand.

Freilich stand der Hof von Mandalay fortan unter genauer Beobachtung. Colquhoun äußerte sich dazu so:

„Es ist kein allzu großes Problem, den birmanischen König zur Vernunft zu bringen; da braucht es nur eine ein bisschen strengere Behandlung (a little firm handling). Das hätte schon längst geschehen sollen, aber der gegenwärtige Zeitpunkt eignet sich nicht besonders für drastische Maßnahmen. Es ist alles machbar, ohne dass man gleich zur Annexion schreiten oder ein Protektorat errichten muss; aber je länger es dem ignoranten, schwachen und boshaften Herrscher, der nun auf dem Thron sitzt, gestattet ist, unsere Macht zu missachten und seine dauernde Misswirtschaft fortzusetzen, desto mehr wird er für ausländische Intrigen zugänglich sein, die gegen unsere und gegen seine eigenen Interessen gerichtet sind, und desto schwieriger wird es, damit fertig zu werden.“5

Colquhouns Text gehörte zu einer nun bald erfolgreichen Kampagne, mit der die britische Wirtschaft, vertreten durch ihre Handelskammern, auf eine „Marktöff­nung“ drängte und dabei behauptete, ohne Hinterland sei der Kolonialbesitz an der Küste ein Verlustgeschäft. Und wer kann sich schon Verlustgeschäfte leisten? Oberbirma brauche also englische Waren, und England brauche die Rohstoffe, das Teakholz, das Erdöl und die Edelsteine, an denen das Land so reich ist. Außerdem versprachen sich die Chambers of Commerce vom Zugang zu den südwestchinesischen Provinzen, die an Birma grenzen, einen weiteren gewaltigen Absatzmarkt.6 Man plante auch schon eine Eisenbahn, um Waren, aber auch chinesische Arbeitskräfte für die Plantagen, die Häfen und die Bergwerke des Empire, transportieren zu können. Auch der britische Opiumhandel, der seit längerem unter einem Überangebot und dem daraus resultierenden Preisverfall litt, würde durch die Erschließung der Märkte in Oberbirma, aber vor allem der im benachbarten Südwestchina, wieder profitabler.7 Dazu musste dann nur das schon von König Mindon erlassene, allen Grundsätzen des Freihandels widersprechende Opiumverbot, aufgehoben werden.

Zusätzlichen Antrieb erhielt die Kampagne durch die Furcht vor den Franzosen, die nach Birma und Yünnan vordringen, und sich dann „all die wertvollen Produkte, die auf diesen jungfräulichen Feldern des Handels zu haben sind“, aneignen könnten.8

Die Birmanen hatten keine eigenen Zeitungen und auch sonst kaum Möglichkeiten, sich in der Welt Gehör zu verschaffen. So hatten die englische Wirtschaft und die ihr verpflichtete Presse von keiner Seite Widerspruch zu erwarten, als sie den gebildeten, nachdenklichen und friedfertigen König als shocking fellow, „grausamer als Nero“, porträtierte9 und sein Volk als unterdrückte, auf die englischen Befreier wartende Masse darstellte.10

Anfang des Jahres 1885 hatte eine birmanische Delegation in Paris über den Bau einer Eisenbahnlinie und über die Gründung einer Nationalbank verhandelt und einen Freundschaftsvertrag geschlossen. Es war auch von einem Geheimvertrag die Rede, mit dem sich die Franzosen Schürfrechte in den Edelsteinminen, Holzkon­zessionen und Zollrechte gesichert hätten.11 Ausländische Intrigen, „die gegen unsere und gegen seine eigenen Interessen gerichtet sind“, schienen beim König und am Hof von Mandalay doch tatsächlich Gehör zu finden.12

Nun war Gefahr im Verzug. So war Colquhouns Buch beim Erscheinen auch gleich wieder überholt, denn a little firm handling reichte offenbar nicht mehr aus, um die kolonialen Interessen durchzusetzen. Und es gab auch schon einen Anlass für drastische Maßnahmen. Die Bombay Burmah Trading Corporation, die mit Holz, Erdöl und Tee handelte, hatte sich die Konzession zur Abholzung der Teakstämme in den Wäldern von Ningyan, einem Gebiet, das ans britische Kolonialgebiet grenzte, gesichert und den birmanischen Staat bei der Abrechnung über Jahre hinweg um beträchtliche Summen betrogen. Nachdem das königliche Kabinett (Hlutdaw) in Mandalay die Konzessionäre zu einer Strafzahlung verurteilt hatte, wollten die den Fall vor ein britisches Schiedsgericht bringen.13 Das Kabinett aber bestand auf seiner Entscheidung und deutete an, es könne die Konzession ja künftig an ein französisches Konsortium vergeben. Die Briten hielten nun das nun für eine besondere Boshaftigkeit. Der Hof in Mandalay war offenkundig derart heruntergekommen, dass er, wie es in ihrer diplomatischen Korrespondenz heißt, „unfähig war dem Druck und der Versuchung durch die Franzosen“ zu widerstehen.14

Die Kolonialregierungen in Kalkutta und Rangun rieten dazu König Thibaw abzusetzen, aber zur Wahrung des schönen völkerrechtlichen Scheins einen Marionettenkönig zu installieren und Birma so zum Protektorat zu machen. In London hingegen betrieb Lord Randolph Churchill, der für Indien zuständige Minister, einen Anschluss an die indischen Besitzungen, der schnell und ohne die übliche Berufung auf die zivilisatorischen Errungenschaften des Abendlandes und die ewigen Werte der Menschheit, ganz unkompliziert als gewöhnlicher Raubzug durchgeführt werden sollte.

Im November 1885 vereinten die Briten unter ihrem General Harry North Dalrymple Prendergast elftausend Mann zum Marsch auf Mandalay. Sie erreichten die Hauptstadt ohne auf viel Widerstand zu treffen. Der König kapitulierte kampflos, und die britische Armee brannte noch in der Nacht nach ihrer Ankunft das Staatsarchiv nieder und räumte, teils auf eigene Rechnung15, dann aber auch zugunsten der englischen Krone, den Palast aus. „Ein später und unfreiwilliger Aussteller in South Kensington“, vermerkt der Daily Telegraph im folgenden Jahr verschmitzt zur Eröffnung einer Londoner Kunstausstellung, „ist der abgesetzte König von Birma, dessen aus dem Palast von Mandalay geplünderte Schätze in neun Schaukästen präsentiert werden … Ihre Majestät (Königin Victoria), so wird angedeutet, soll schon gebeten worden sein, einige der ausgewählten Beispiele, die sich nun in ihrem Besitz befinden, der Ausstellung zu überlassen.“16

Die nachhaltige Ausbeutung des Landes gestaltete sich unerwartet schwierig. Für eine erfolgreiche Marktöffnung brauchte es Eisenbahnen, Straßen, Lagerhäuser und Verwaltungsgebäude, die nun erst einmal gebaut werden mussten. Zu diesen einkalkulierten Investitionen in die Infrastruktur kamen gewaltige Kosten für einen Dschungelkrieg, den das widerständige Volk gegen die Besatzer führte.17

Nach dem Selbstverständnis der Kolonialmächte, stand ihnen „so lange die Sonne am Himmel scheint“, die Herrschaft über die annektierten Territorien zu.18 So gerechnet wären die hohen Anfangsinvestitionen vertretbar gewesen, vorausgesetzt natürlich, die Marktöffnung zahlt sich in erster Reihe für die Investoren aus. Das war aber nicht so sicher, denn schon in den ersten vier Wochen nach der Annexion wird ein deutscher Handlungsreisender in Mandalay gesichtet.19 In China waren die Deutschen zur selben Zeit schon so auffällig geworden, dass ein amerikanischer Diplomat seinen englischen Kollegen warnte: Wenn wir nicht aufpassen, „wird der Teutone uns an die Wand drücken.“20 Die Briten hatten das „Age of Commerce“ ausgerufen, und das sollte natürlich ein britisches Zeitalter sein und keineswegs ein deutsches.

An diesem Punkt unserer Notizen soll Mrs. Leslie Milne zu Worte kommen, die zwei, noch immer äußerst lesenswerte, ethnologische Werke über die Bewohner der Schan-Staaten in Oberbirma verfasst hat.21 Ihr Buch Shans at Home enthält die Beschreibung eines von Schan, Kachin und Palaung frequentierten Markts im Jahr 1907. Es gäbe hier, bedauert die Autorin, außer ein paar Nadeln und ein paar Rollen Garn keine britischen Waren zu kaufen. Man könne zwar Schuhe und Streichhölzer aus Japan, Baumwollstoffe aus Indien und auch Küchengeräte und Porzellan aus China kaufen. Aber –

„Alle anderen Waren, die nicht aus einheimischer Herstellung sind, sind Made in Germany. Es gibt Reihen über Reihen von Buden, in denen nur Artikel aus deutscher Produktion verkauft werden. Die Kachin können hier den billigen roten deutschen Flanell zum Schmuck ihrer Jacken kaufen und scharlachrote Borten … einfache Glasperlen … Gürtel, Kerosinlampen, Federmesser, Scheren, Bleistifte … Notizbücher mit dem Porträt der Queen Victoria auf der Rückseite und der Aufschrift Made in Germany; Wolle zum Weben, gefärbt mit deutschen Anilinfarben …. deutsche Seiden- und Samtstoffe, Hemden und gewebte Unterwäsche, gestrickte Kindermützen in scheußlichen Farben; Umschläge und Briefpapier, glasierte Keramik, Spiegelglas, winzige Metallschachteln (von den Schan als Bettelnussbehälter benutzt), Decken, Porzellantassen (die Schan benutzen keine Untertassen) und Milchkännchen, purpurfarben und schlecht vergoldet, Knöpfe aus Bein – alle diese Artikel und viele andere mehr, gemacht und verarbeitet in Deutschland und von dort exportiert, füllen die Schan-Märkte und kommen ins Land als Fracht von Händlern, die nach Yünnan unterwegs sind.“22

Die Industrieproduktion habe, klagt Leslie Milne, die traditionelle Handwerkskunst zerstört. „Dinge, die einst die Schan herstellten, werden nun aus Deutschland eingeführt.“ Die Tatsache wiederum, dass die Deutschen die Profite einstreichen, wo doch die Briten den Markt geöffnet haben, ist ihr ein besonderes Ärgernis. Sie verweist auf die Arbeitslosigkeit in England und fragt: „Warum können nicht unsere Kaufleute diese Waren liefern, sodass unsere östlichen Besitzungen dem britischen Handel und nicht den deutschen Gütern als Absatzmarkt dienen?“23

Die Behauptung der Autorin, die deutschen Exporteure verdrängten nicht nur in den Schan-Staaten, sondern überall in „unserem indischen Empire“ die Briten von ihren Märkten, lässt sich, aus Mangel an statistischem Material nicht belegen. Es fehlt an Studien, die sich mit der Handelskonkurrenz auf dem Weltmarkt in den Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs beschäftigen. Dass die Deutschen sich damals immer größere Anteile am Weltmarkt sicherten, ist freilich bekannt, wobei einzelne Zahlen durchaus überraschend sind. So etwa Zahlen aus Japan, die zeigen, dass die deutschen Einfuhren von 1889 bis 1896 sich fast verdoppelten, während die englischen Einfuhren in dieser Zeit um knapp ein Drittel zurückgingen.24

Bei der Erkundung der Kriegsursachen ist die Frage nach den objektiven statistischen Größen ohnehin nur von untergeordneter Bedeutung, denn für die anti-deutsche Stimmung, die sich in England gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts aufbaute, brauchte es keine genaue Kenntnis der Außenhandelszahlen. Die Feindseligkeit resultierte vielmehr auf einem allgemeinen subjektiven Unbehagen an der rasch wachsenden deutschen Wirtschaftsmacht und ihrem Repräsentanten, dem aggressiven deutschen Handelsmann.

II.

Die Furcht vor Intrigen, das heißt die Sorge vor Rivalen, die den Erhalt und die Vermehrung der Beute gefährden könnten, verfolgte die Briten in Asien und Afrika. Natürlich waren auch die Franzosen vor den Briten in Sorge. Sorgen mussten sich die Briten auch um die Russen machen, die an die indische Grenze heranzurücken drohten. Die Russen hingegen sorgten sich um Afghanistan und die Intrigen der Franzosen und Briten im Vorderen Orient. So jedenfalls war die Lage im November 1885 als Prendergasts Truppen nach Mandalay zogen, um den weltbesten unopened market für das Empire zu erobern.

Es war die Zeit der letzten kolonialen Raubzüge in Asien, als es kaum noch virgin fields gab, in die ein Vordringen gelohnt hätte. Nun galt es die Beute (die Besitzungen) zu sichern. Die Einfluss-Sphären wurden klar aufgeteilt und die Erwerbungen genau demarkiert, und es schien, als könnten die Kolonialmächte fortan in Ruhe die Früchte ihrer Anstrengungen genießen. Schließlich hatte auch das spät gekommene Deutsche Reich sich noch einen, wenn auch nur bescheidenen Anteil der Beute sichern können.

Vorerst hielten die kolonialen Rivalitäten das Verhältnis zwischen England, Frankreich und Russland weiter in Spannung. Aber nach und nach gelang es den drei Mächten, ihre Konflikte durch die gegenseitige Anerkennung ihrer Besitzstände vertraglich zu lösen. 1898 kam es (über Faschoda) ein letztes Mal zur offenen Konfrontation zwischen England und Frankreich. 1904 aber, mit dem Zusammenschluss zur Entente Cordiale waren alle Streitpunkte zwischen den beiden Ländern geregelt. 1907, im Vertrag von Sankt Petersburg, einigte sich England dann auch mit Russland.

Grenzen konnten durch Verhandlungen festgelegt, konnten vermessen und kartographiert werden. Territoriale Konflikte waren also lösbar, ein Konflikt um Märkte hingegen entzog sich einer vertraglichen Lösung, war doch der Free Trade, die Freiheit des Warenverkehrs, ein Dogma, auf das sich die koloniale Politik bei ihren Annexionen immer wieder berief. So begründete Randolph Churchill, beraten von Freunden aus der Londoner City, die Eroberung Birmas mit der Notwendigkeit für immer die Handelsbarrieren zu beseitigen, mit dem der native court in seiner Arroganz und Barbarei das Königreich abgeschottet habe.25

Erstes Sprachrohr der Bellizisten war die einflussreiche Saturday Review. Als die Zeitschrift (zu deren Autoren, neben vielen anderen Berühmtheiten, William Gladstone zählte) 1894 eine Kampagne gegen „Englands traditionell pro-deutsche Politik“ begann, galt die Haltung der Herausgeber nach ihrer eigenen Einschätzung als reichlich exaltiert. Kaum jemand hätte sich damals einen Krieg zwischen den beiden großen protestantischen Mächten „so alike in temperament and genius“ vorzustellen vermocht. Aber schon 1897 konnte sich die Zeitschrift über einen Wandel in der öffentlichen Meinung freuen. Ihre Parole Germania est delenda (Deutschland muss ausgelöscht werden) fand nun viel Beifall.

Die Saturday Review analysiert die Lage in großer Offenheit aus der Sicht des Gentleman-Kapitalisten, der von seinen Renten und Aktieneinkünften lebt und den eigenen Hausierer (pedlar) nicht weniger als den deutschen Höker (bagman) verachtet. Dabei werden die Deutschen sogar recht freundlich beurteilt. Sie seien „Fleisch vom selben Fleisch und Blut vom selben Blut, mit geringerer Willenskraft, aber vielleicht schärferer Intelligenz.“ England, so heißt es, habe freilich den Vorteil, einer „langen Geschichte erfolgreicher Aggression und der wunderbaren Überzeugung, es verbreite durch die Wahrnehmung der eigenen Interessen, Licht unter den im Dunkeln hausenden Völkern.“26

Bei aller Verachtung für die heuchlerischen Krämerseelen war sich die upper class doch auch bewusst, dass sie die Annehmlichkeiten ihres Daseins den manufacturing and trading classes verdankte. Verdrängen nun die deutschen Höker die englischen Hausierer auf dem Weltmarkt, so schrumpfen auch die Einkünfte des Gentleman-Kapitalisten, ein misslicher Umstand, der bedauerlicherweise zum Krieg führen wird.

„Wo immer es gilt eine Mine auszubeuten, eine Eisenbahnlinie zu bauen, einen Eingeborenen von der Brotfrucht zum Büchsenfleisch und von der Enthaltsamkeit zum Gin zu bekehren, streiten sich ein Deutscher und ein Engländer darum, Erster zu sein. Eine Million kleinlicher Streitereien wachsen sich zum größten Kriegsgrund aus, den die Welt je gesehen hat. Würde Deutschland morgen ausgelöscht, gäbe es übermorgen keinen Engländer, den das nicht reicher gemacht hätte. Staaten haben jahrelang um eine Stadt oder eine Thronfolge gekämpft, und da sollte einer nicht um ein Handelsvolumen von zweihundert Millionen Pfund kämpfen?“27

Wenn man von Gentleman zu Gentleman in kühler Berechnung zum Ergebnis kommt, dass ein Handelsvolumen von zweihundert Millionen Pfund einen Krieg unbedingt lohnenswert macht, ist diese Erkenntnis für sich genommen nicht viel Wert. Da werden doch nur wieder Verdächtigungen laut, bestimmten Leuten gehe es nicht um das Wohl der Nation, sondern nur um die eigenen Profite. Und das Versprechen, dass ein Krieg jeden Engländer reicher machen wird, hilft dann auch nicht weiter. Mit ihrem unaufhaltsamen Vordringen auf den Märkten hatten die Deutschen zwar den „größten Kriegsgrund der Welt“ geschaffen, aber es stand zu befürchten, dass die englische Öffentlichkeit das nicht so richtig begreifen wird.

Dazu brauchte es eine massenwirksame Kampagne. Freilich taugte der Handelsmann mit seinem Musterköfferchen nicht zum populären Schurken.28 Die Bellizisten entschieden sich, psychologisch überaus geschickt, für einen Rollentausch. Mit seiner Pickelhaube als unverwechselbarer Ikone, ersetzte der preußische Infanterist, der gefährlich wirkte, aber für das Inselvolk keine wirkliche Gefahr darstellte, den deutschen Kaufmann, der so harmlos aussah, aber als Konkurrent brandgefährlich war.29

Die Massenpresse, der die Aussicht auf einen Krieg eine erwartungsvolle Leserschaft und also eine Auflagenstei­gerung garantierte, brachte den notwendigen Schwung in die Kampagne.30 So wurde die Wahrnehmung der durchaus realen wirtschaftlichen Bedrohung von der Angst vor einer irrealen militärischen Bedrohung, die sich bald zur Hysterie steigerte, überlagert.31 Erstaunlich ist dabei nur, dass der Krieg erst im August 1914 ausbrach.

Berlin, Dezember 2015

© 2015 Amanda Kwan & Ulrich Neininger (u.neininger@hotmail.com)

 

Veröffentlicht unter China

Eine unkonventionelle Grenzziehung

Hervorgehoben



Amanda Kwan & Ulrich Neininger, Notizen zur Politik, Gesellschaft und Kultur im Grenzgebiet von China, Birma und Laos (3).

Die Grenze zwischen China und Birma verlief über weite Strecken nur im Ungefähren, als die britische Kolonialverwaltung und die chinesische Regierung beschlossen, das Grenzgebiet gemeinsam zu vermessen und den Grenzverlauf  zu kartographieren. Im März 1894 kam ein erster Vertrag zustande, der jedoch einen zweihundert Meilen breiten Abschnitt des gebirgigen Territoriums unbe­rücksichtigt ließ.1 Dort siedelten die Wa, ein als unleidlich verrufenes Volk, das seine Felder mit abgeschlagenen, auf Stangen oder in Baumkronen zur Schau gestellten Köpfen markierte.2

Um die Jahrhundertwende versuchten Briten und Chinesen dann, ihre Ansprüche auf möglichst große Teile des umstrittenen Gebiets durchzusetzen. Die Briten versuchten, die Dorfältesten der Kopfjäger für sich zu ge­winnen, und die Chinesen stellten erst einmal einen Grenzstein auf, den die Briten bald wieder ab­transportierten.

Zu den politischen Ideen, die der Kolonialismus nach Ostasien brachte, ge­hörte die Vor­stellung von einer exakt zu definierenden Staatsgrenze. Traditionell kannten die politischen Zentren in China und in Birma nur Grenzgebiete, über die sie manchmal mehr, meist aber weniger Kontrolle hatten. Um mehr Kontrolle ausüben zu können, hatten die Chinesen Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts in den südwestlichen Grenzgebieten ihres Reiches ein System der Vasallenschaft, das Tusi zhidu 土司制度, eingeführt. Mächtige Stam­mes­oberhäupter wurden vom Kriegsministerium in Peking zu Territorial­kommandeuren (Tusi) ernannt. Die kaiserliche Ernennungsurkunde, das Dienstsiegel und der offizielle Rang verliehen ihnen zusätzliches Prestige. Als Gegenleistung verlangten die Chinesen die jährli­che Entsendung einer Tribut­gesandtschaft und einen symbolischen Steuerbetrag.3 Zur Vor­bereitung auf das patrilinear vererbte Amt sollte der älteste Sohn des Territorial­kom­man­deurs zur Schule gehen und eine konfuzianische Erziehung erhalten.4 Wichtig war der chi­ne­si­schen Regierung dann vor allem noch, dass sich die Kommandeure verbündeten, um so ein ge­schlossenes be­friedetes Territorium zu schaffen, das sich bis an die Reichsgrenze aus­dehnen sollte.

Die „Wilden Wa“, die zu beiden Seiten der Grenze siedelten, widerstanden frei­lich allen Anstrengungen, sie unter Kontrolle zu bringen, und so blieb ihr Gebiet Nie­mands­land. Das alte konfuzianische Kaiserreich konnte sich damit abfinden. Dann aber wurden unter westlichem Einfluss Grenz­fragen zum Gegenstand der nationalen Heilslehre. Die Verteidigung unserer heiligen Erde bis zum letzten Blutstropfen! Dazu muss einer natürlich genau wissen, wo die Grenze verläuft. Für Niemandsländer war da kein Platz mehr.

Auf der birmanischen Seite der Grenze waren die Verhältnisse traditionell noch unüber­sichtlicher als in China. Jenseits des Gebiets der Wa lagen die von Fürsten (Sawbwa) regierten Staaten der Shan, die dem birmanischen König Tribut schuldeten, aber ansonsten ihre Unabhängigkeit bewahrten. Mit der Vertreibung des letzten Königs (1885) und der folgenden Annexion der Shan States durch die Engländer zerbrachen die alten Arrangements.  Die neuen Herren drängten gleich nach ihrer Machtübernahme auf eine klare Grenzziehung.

Der Vizekommissar des Distrikts Myitkyina, W. A. Hertz, der mit der Wahrnehmung der britischen Interessen beauftragt war, schrieb in einem vertraulichen Bericht, das chinesische Anrecht auf das Wa-Gebiet sei „nicht sehr stark, aber es ist stärker als das unsere, denn wir haben gar keines …“5

Im Februar 1934 entsandte die Kolonialregierung einen Trupp Soldaten zu den Silberminen von Lufang, um den Gouverneur von Yünnan an der Wahrnehmung der Schürfrechte zu hindern, die er sich bei den Wa von Banhong gesichert hatte. Die Wa widersetzten sich den Briten und erhielten dazu Waffen aus Yünnan.6 Die Regierung in Nanking unter Chiang Kai-shek, die auf die britische Unterstützung  gegen Japan hoffte, suchte eine Eskalation zu verhindern und verständigte sich nun mit der Kolonialregierung darauf, die Grenzziehung einer Kommission zu übertragen, deren Vorsitzender vom Völkerbund ernannt werden sollte.

Die Kommission unter dem Vorsitz des Schweizer Militäringenieurs Frédéric Iselin begann im Dezember 1935 mit Vermessungsarbeiten. Im Frühjahr 1937 waren die Arbeiten dann abgeschlossen. Ein erster Vorschlag Iselins, das Territorium als Einheit zu erhalten und dazu eine „offizielle Grenze“ und eine „politische Grenze“ anzuerkennen, wurde von den Engländern abgelehnt, denn faktisch wäre das umstrittene Gebiet damit ganz an China gefallen.7

Durch den Ausbruch des chinesisch-japanischen  Krieges und die folgenden politischen Umwälzungen kamen die Verhandlungen zu keinem Abschluss. Erst im Oktober 1960 kam dann ein Vertrag zustande, der die Grenzziehung zwischen Birma und China endgültig festlegte.

Für die Vermessung des unzugänglichen Territoriums war ein Heer von Lastenträgern und Maultiertreibern notwendig. Bei den Nachvermessungen waren allein auf der birmanischen Seite der Grenze 5.600 Träger und 2.400 Maultiere im Einsatz.8

In einer Sammlung von Interviews9, in der Pferdetreiber (Mafu 马夫) und Karawanenführer (Maguotou 马锅头) von den alten Zeiten erzählen, erinnert sich Zhao Haiqing, der in den dreißiger Jahren am Transport der Ausrüstung für die Vermessungs­trupps beteiligt war:

Zhao: „Ich war mit der Pferdekarawane von  Ma Yaochun unterwegs. Ich kochte für die Karawane. An Einzelheiten kann ich mich nicht mehr erinnern. Die Oberbosse waren Mitglieder der neutralen Kommission (中立委员) , alles hohe Tier aus China, Birma und England. Wenn man chinesisches Gebiet verlässt, ist man auf englischem Gebiet. Beide Länder haben um das Land gestritten, deshalb sollte die Grenze gezogen werden, sodass jeder weiß, was ihm gehört.

 Interviewer (Ma Cunzhao): „Wie hat man den Grenzverlauf festgelegt? Nach welcher Methode?“

 Zhao: „Es gab viele schlaue Leute (能人), die bei der Grenzziehung beteiligt waren. Sie waren für verschiedene Sachen zuständig: eine Gruppe für die Vermessung der Berge und Flüsse, andere kletterten auf die Berge, um den Stand der Sterne zu markieren. Wir waren mit dabei, als die Grenze beguckt wurde. Zuerst leitete ein Mitglied der neutralen Kommission eine Sitzung und man beschloss, den Grenzverlauf durch das Schlachten eines Rindes zu ermitteln. Dann wurde ein flaches Stück Land ausgesucht und  dann wurde erklärt, von wo bis wo das Stück Land reichte. Nachdem man das Rind getötet hatte, schaute man, in welche Richtung der Rücken des Rindes fiel und in welche Richtung die Füße.  Zeigte der Rücken nach China und die Füße nach England, so  gehörte das Stück Land zu China.  Zeigte der Rücken in Richtung England und die Füße in Richtung China, musste China dieses Stück an England abtreten.“

 Interviewer: „Ist diese Methode denn genau?“

 Zhao: „Na, das war nicht so wie bei der Aufteilung von Familienbesitz, wo es viel Streiterei und großes Gezeter gibt.  Die Kala10 hassten die Engländer auch. Die Wa haben die Rinder geschlachtet und dabei das Rind an Kopf und Schwanz festgehalten und mit einem einzigen Schnitt getötet. Immer wenn der Rücken in Richtung England zu fallen drohte, zogen sie es in Richtung China rüber. Wir haben ihnen auch dabei geholfen, weil es Spaß machte.“11

Berlin, im Januar 2015

© 2015 Amanda Kwan & Ulrich Neininger (u.neininger@hotmail.com)

 

Ein chinesischer Beamter und sein Gefolge bei der Grenzziehung 1899. Foto: James George Scott

 

Veröffentlicht unter China

Zhang Yihe 章诒和: Eine Frau namens Zou 邹氏女

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(Amanda Kwan & Ulrich Neininger, Rezensionen chinesischer Literatur). Nach den Romanen Eine Frau namens Liu und Eine Frau namens Yang hat die chinesische Autorin Zhang Yihe nun den dritten Band eines vierbändigen Werkes fertiggestellt, das von Frauen im Arbeitslager handelt. Der Roman Eine Frau namens Zou erzählt aus der Sicht der Gefangenen Zhang Yuhe von der Beziehung zweier Frauen unter den Bedingungen des Lagerlebens.

Zhang Yihe ist als Verfasserin autobiographischer und biographischer Schriften bekannt geworden. Autobiographisch sind nun auch ihre Romane, wie schon der wenig verfremdete Name – Zhang Yuhe – erkennen lässt. Zhang Yuhe ist wie  Zhang Yihe zur Umerziehung verurteilt worden, weil sie sich über die Modellopern lustig gemacht hatte, die von Jiang Qing, der  Ehefrau des Vorsitzenden Mao, auf die Bühne gebracht worden sind. Auch sonst stimmt der Lebenslauf der Autorin in vielen Einzelheiten mit dem ihrer Romanfigur überein.1

Die Lager zur „Umerziehung durch Arbeit“ (laogai 劳改) wurden in den fünfziger Jahren errichtet, um „Konterrevolutionäre“ zu läutern. Die ersten Gefangenen waren Kleinkriminelle, Prostituierte, Vagabunden und sonstige Individuen, die sich nicht in die wohlorganisierte, sozialistische Ordnung fügten. Bald waren es vor allem politische Gefangene, die als „Rechtsabweichler“ (youpai 右派) die Lager füllten. Den Titel „Rechtsabweichler Nr. 1“ trug Zhang Bojun, ein Minister im Kabinett Maos, der 1957 ein Mehrparteiensystem mit demokratischen Wahlen forderte. Zhang Yihe ist die Tochter des 1969 verstorbenen Politikers.

1970, während der Kulturrevolution, kam Zhang Yihe als konterrevolutionäres Element ins Arbeitslager, wo sie bis 1979 blieb.  In dieser Zeit gab es keine formalen Gerichtsverfahren. So wurden Gefangene aus den unterschiedlichsten Gründen durch Beschlüsse der „Volksmassen“ zur Umerziehung durch Arbeit verurteilt. Gewaltverbrecher fanden sich nun ebenso wie politisch missliebige Personen in den Lagern. Für alle galten die gleichen harten Regeln, die unter anderem vorschreiben, dass die Gefangenen nicht miteinander reden dürfen. Im ersten Band (Eine Frau namens Liu 刘氏女。广西示范大学出版社, Guilin 2011) berichtet die Erzählerin, wie sie dieses strikte Verbot durchbrechen konnte. Die Frauen müssen immer wieder erneut ihre Verbrechen bekennen. Da sie aber meist zu ungebildet sind, einen Text selbständig abzufassen, wird die gebildete Zhang Yuhe abkommandiert, ihnen beim Schreiben der Bekenntnisse zu helfen. So hilft sie der Frau namens Liu aufzuschreiben, wie sie ihren Ehemann ermordet und die Leiche zerlegt und eingepökelt hat. Die Geschichten, die Zhang Yuhe erfährt, erscheinen ihr wie die Handlung eines Theaterstücks, die unweigerlich auf ein Verbrechen zutreibt.

Das zweite Buch (Eine Frau names Yang 杨氏女。广西示范大学出版社, Guilin 2012) handelt von der schönen Yang Fenfang, die auf Drängen ihrer Verwandten einen viel älteren Kader heiratet. So geht sie eine Ehe ein, von der sie sich ein besseres Leben verspricht, obwohl sie in den Nachbarsjungen verliebt ist. Sie schläft mit dem Jungen und verweigert sich ihrem Mann. Als ihr Mann sie erniedrigt und vergewaltigt, verteidigt ihr Liebhaber sie mit dem Messer. Das gilt als Mordversuch. Der Junge, der wegen seines „schlechten Klassenhintergrunds“ nicht auf Milde hoffen kann, wird zum Tode verurteilt.  Yang Fenfang erhält zwanzig Jahre Haft.

Zu den Nebenfiguren, die in allen drei Romanen erscheinen, zählen Chen Huilian, die von  der eigenen Tochter verraten und ins Gefängnis geschickt wurde. Sie sagt dazu „Menschen, die keinen Glauben haben, sind zu allem fähig.“ Schwer krank und müde nimmt sie sich das Leben. Vor ihrem Tod vermacht sie Zhang Yuhe ihre persönlichen Schätze: schöne weiße Stoffe und als Wertvollstes zwei Schachteln mit getrockneten Maisbrötchenscheiben. Eine der Nebenfiguren ist die Christin Jiang Qidan, die es wagt, die  Unmenschlichkeit im Lager anzuprangern. Im zweiten Buch  steckt sie Zhang Yuhe heimlich ein selbstgemachtes Blechkreuz zu, als diese auf der Krankenstation ist, weil sie die körperliche Züchtigung einer Mitgefangenen nicht mitansehen kann und in Ohnmacht gefallen ist. Diese Geste ist für Zhang Yuhe ein großer Trost.

Mit einem Brief, den Zou Jintu aus dem Gefängnis an Zhang Yuhe schreibt, beginnt der Rückblick auf die Umstände, unter denen die Frau namens Zou zur Strafgefangenen wurde.

Zou Jintu, Tochter einen Apothekers und Grundbesitzers, die in behüteten Verhältnissen aufwächst, hat eine enge Beziehung zum Haus- und Kindermädchen Liu Jiu. Liu Jiu  ist mehr als nur eine wichtige Stütze der Familie: Sie hat eine, vom Vater gleichmütig tolerierte, homoerotische Beziehung zur Mutter des Mädchens.

Die Situation der Familie verschlechtert sich abrupt, als nach der kommunistischen Machtübernahme der größte Teil ihres ländlichen Grundbesitzes enteignet und die Apotheke verstaatlicht wird. Zudem wird der Vater im Verlauf einer politischen Kampagne wegen Korruption verhaftet. Nach der Haftentlassung psychisch und physisch ruiniert, wendet er sich auf dem Sterbebett an Liu Jiu und bittet sie, die Verantwortung für seine Familie zu übernehmen.

Die beiden Frauen ziehen wenig später als Paar mit Zou Jintu auf ihren ehemaligen Landbesitz, der nun einer Volkskommune gehört. Die Familie bekommt die Aufgabe, den Pflugochsen der Kommune zu hüten. Die wirtschaftliche Lage wird immer schwieriger, Mensch und Tier leiden Hunger, und der alte Pflugochse erkrankt und verendet. Zou Jintu nimmt dafür die Verantwortung auf sich. Als „Tochter eines reichen Bauern“ (so ihre offizielle Klassenzugehörigkeit) zählt sie zu den Feinden, gegen die Mao gerade wieder den Kampf verschärft hat. So wird sie in einem Schauprozess der Sabotage beschuldigt, als Klassenfeindin zu 20 Jahren Haft verurteilt und ins Arbeitslager M. verschickt.

Dort begegnen  sich  Zhang Yuhe und Zou Jintu.  „Zou Jintu wirkte auf alle sehr ungewöhnlich: Sie war kräftig wie ein Mann und dabei  geschickter als alle anderen Frauen. Auf dem Weg zur Arbeit ging sie an der Spitze. Mit riesigen Schritten, doppelt so lang wie die der anderen Frauen. Auf dem Rückweg von der Arbeit marschierte sie immer noch vorne weg. Die anderen waren völlig erschöpft, aber sie war frisch und munter.“  Besonders ist Zhang Yuhe von Zou Jintus Stickkünsten fasziniert. Doch die Gruppenleiterin warnt sie: „Nimmt dich vor ihr in Acht. Sie ist wie eine Nadel, wenn sie dich erst einmal auffädelt hat, lässt sie dir keine Ruhe mehr.“ Zhang Yuhe spricht aus, was die Gruppenleiterin nur andeutet: „Sie ist wohl lesbisch, oder?“

Einige Zeit später muss Zhang Yuhe mitten in der Nacht an einer Kampfversammlung teilnehmen.  Zou Jintu und ihre Freundin Huang Junshu erhalten vor allen Gefangenen eine Strafe, die eigens für zwei Frauen oder zwei Männer vorgesehen ist, die bei Intimitäten erwischt werden. Die Mandarin-Ente ist in China das Symbol des trauten Ehelebens. Bei der „Mandarin-Entenfessel“ werden die Gefolterten Rücken an Rücken so eng aneinander gefesselt, dass Hände und Beine blau anlaufen.

Immer wieder  taucht Zou Jintu in Krisensituationen auf und hilft Zhang Yuhe. So im Herbst, als  die Gefangenen das Dornengestrüpp auf der Hochebene wegschneiden müssen. Als Neuling im Arbeitslager muss  Zhang Yuhe mit einer stumpfen Sichel gegen das Gestrüpp ankämpfen. Zou Jintu aber wirft ihr heimlich ihre eigene, scharfe Sichel zu und erleichtert ihr diese verhasste, unendlich mühsame Arbeit.

Die Frauen kommen sich langsam näher. Als Zhang Yuhe einmal nachts unter Bauchkrämpfen leidet,  schlüpft Zou Jintu zu ihr ins Bett. Zhang Yuhe sieht zuerst  eine Hand unterm Moskitonetz, die einen weißen Seidenfaden hält. Das Seidengarn hat Zhang Yuhe für Zou Jintu aus der Kreisstadt mitgebracht und ihr heimlich geschenkt. Solche Gesten unter den Gefangenen sind eigentlich verboten. Zou Jintu kniet sich hinter Zhang Yuhe aufs Bett, umfasst sie mit den Armen und ist so eine Stütze für Zhang Yuhe. Durch eine Bauchmassage lindert Zou Jintu ihre Schmerzen. Vor Anstrengung rinnt Zou Jintu der Schweiß über das Gesicht. „Zhang Yuhe konnte das Gefühl der tiefen Dankbarkeit und des brennenden Mitleids, das in ihrem Herzen verschlossen war, nicht zurückhalten. Sie drückte ihr tränenüberströmtes Gesicht an das von Schweißperlen bedeckte Gesicht Zou Jintus. Alles wurde leise und erstarrte, es gab nur noch den Herzschlag des anderen.“

Als Zhang Yuhe mit einem Trupp Gefangener Baumstämme über einen Berg schleppen soll, steht sie Todesängste aus. Die Stämme sind auf dem Rücken festgezurrt, sodass ein einziger Fehltritt den Tod bedeuten kann. Auch hier hilft ihr Zou Jintu. In dieser Extremsituation  wirft  sich Zhang Yuhe voller Lebenshunger in Zou Jintus Arme. So wir der leidenschaftliche Liebesakt zur Schlüsselszene: „Die anfängliche Scham und der Hass wurden langsam undeutlich, lösten sich auf. Menschen fürchten nichts mehr als ohne Liebe zu sein“.

Die Unterdrückung von Sexualität, Zuneigung, Mitgefühl, Menschlichkeit und Solidarität ist das große Thema des Romans. „Lebt man unter äußerst niederdrückenden Umständen“, heißt es dazu, „dann sind alle Gefühle zerbrechlich, abnormal und auch extrem.“ Extrem ist dann der Gefühlsausbruch, in dem Zhang Yuhe vor ihrer Entlassung aus dem Umerziehungslager ihre Dankesschuld gegenüber Zou Jintu zu erkennen gibt. Sie nimmt  Zou Jintus Sichel, schneidet sich vor den Augen der Mitgefangenen in den Arm und ruft: „Zou Jintu, in Zhang Yuhes Adern fließt auch Blut.“

Der Hunger ist eine der schlimmen Plagen im Arbeitslager. Als Zhang Yuhe von der Leitung des Arbeitslagers zu Besorgungen in die Kreistadt geschickt wird, nützt sie die Gelegenheit sich in einem Restaurant satt zu essen. Wie in einem Rausch bestellt sie eine Unzahl von Gerichten:

Essen, was man essen möchte. Die Erfüllung dieses  menschlichen Urbedürfnisses machte Zhang Yuhe zufrieden. Diese Gelegenheit gab es so einfach nicht, und sie wußte nicht, wann es sie wieder gäbe. Früher waren die Schulnoten von großer Wichtigkeit, jetzt versetzte sie ein voller Magen in große Freude, früher litt sie unter der geringsten Kritik ihres Lehrers und nun freute sie sich über  ein Spiegelei. Was war der Mensch doch für ein pragmatisches „Wesen“! Diese Essen konnte durchaus ihr „letztes Abendmahl“ sein. Zhang Yuhe war aller Anstand egal, auch was ihr Magen und Darm ihr sagten: Wieviel konnte ihr Bauch fassen? Wieviel konnte sie noch essen?  Sie aß und aß, aß weiter, schlang herunter. Bis sie nicht mehr essen wollte. Als sie noch einen Teller gebratenen Reis bestellte, kamen alle Kellner angelaufen, um mit eigenen Augen die Frau zu sehen, die sich bis zum Platzen von Magen und Darm zu Tode fraß.

Auch nachdem Zhang Yuhe entlassen wird, bleibt sie dem Lager verhaftet. Sie begnügt sich freiwillig mit einem Drei-Ohne-Zimmer (ohne Toilette, ohne Küche, ohne Sonnenlicht) im Wohnheim ihrer Arbeitseinheit und freundet sich, weil im Lager Beziehungen zum Küchenpersonal sehr nützlich sind, mit der Küchenhilfe an, die in der Kantine das Essen austeilt.

In den beschreibenden Passagen gebraucht Zhang Yihe im schroffen Kontrast zur Vulgärsprache des Lagers eine von der chinesischen Hochliteratur beeinflusste Schriftsprache. Fast jedes Kapitel endet mit einem kurzen, poetischen Satz, der wie der Schlussakkord  eines Musikstücks wirkt.  So heißt es am Ende des Kapitel, in dem  der Vater der Erzählerin verstirbt: „Sein Körper war schneeweiß und  er schwebte heim.“ Und am Ende des Romans, als Zou Jintu das Grab ihres Vaters besucht, neben dem auch auf wundersame Weise ihre Mutter begraben ist, lautet der letzte Satz: „Der Himmel wurde blau, die Erde war still, die Bäume in der Ferne warfen keine Schatten.“

Die Autorin greift oft auf Opernmotive zurück. So erinnert ihre Darstellung der Zou Jintu und ihres Kindermädchens an die klassische Konstellation vom Fräulein und der Zofe aus dem aristokratischen Haushalt. Von der Oper beeinflusst sind auch die sexuellen Anspielungen.

Zhang Yihe hat am chinesischen Operninstitut studiert, später wurde sie an die Sichuan-Operntruppe versetzt. Nach ihrer Haftentlassung arbeitete sie in einer für die Oper zuständigen Abteilung des Kulturamtes der Provinz Sichuan und dann bis zur ihrer Pensionierung am Institut für chinesische Oper an der chinesischen Kunstakademie. Zhang Yihe in Gestalt der Zhang Yuhe erzählt: „Ich interessiere mich sehr für die Fälle der Mithäftlinge. Bevor ich ins Gefängnis kam, habe ich mich mit der Oper beschäftigt. Die Rechtsfälle sind nichts anderes als eine Oper.  Alle sozialen Konflikte, finanzielle Probleme in der Familie und persönliche Gefühle finden sich dort wieder. Wenn diese sich ins Extrem entwickeln, kommt es zum Verbrechen.“

Sie habe, sagt Zhang Yihe in einem Interview mit der Wochenzeitung Nanfang Zhoumo, die Sprache der Gefangenen im Roman stark verändert. In der Realität sei die Sprache noch rauer gewesen. Diese Rauheit fände sich noch am ehesten in der Ausdrucksweise der Yi Fengzhu. So auf der Kampfversammlung, als Zou Jintu und ihre Freundin sich ausziehen sollen: „Dann können wir sehen, ob die stinkenden Mösen der beiden Weiber schon vom Reiben Hornhaut gekriegt haben.“ Die wohlerzogene Zhang Yuehe geht sogar zu ihr in die Schule, um das Fluchen zu lernen und erst nach langem Üben kommt ihr  ein „Fick Deine Mutter!“ über die Lippen.

Im Unterschied zu den ersten beiden Bänden darf „Eine Frau namens Zou“ nicht in China erscheinen. Grund dafür sind wohl nicht die Passsagen über die Homosexualität, die zu den noch immer unerwünschten, aber nicht mehr verbotenen Themen gehört. Seit 1997 gelten homosexuelle Handlungen nicht mehr als Straftat, 2001 wurde Homosexualität von der Liste der Geisteskrankheiten gestrichen. Die Formulierung der konservativen Meinung zum Thema überlässt die Autorin einem Aufseher im Männerumerziehungslager: „Die Beziehung zwischen dir und Zou Jintu bezeichnet man als Homosexualität. Das ist besonders unter den Soldaten, die umerzogen werden, verbreitet. Nicht nur Männer treiben es mit Männern, sondern auch Menschen mit Tieren. Darüber weiß ich viel mehr als du. Das ist nichts Seltsames, so ist der Mensch! Aber du musst wissen, so was ist in unserem Land ein Verbrechen mit dem Namen Sodomie. Solchen Leuten  muss  der Schandhut aufgesetzt werden, und man nennt sie üble Elemente. Kurzum, das muss strikt unterbunden und bekämpft werden.“

Im Nachwort zur Frau namens Zou erzählt Zhang Yihe, dass sie schon früh mit dem Thema „Homosexualität“ in Berührung gekommen ist, zuerst durch ein lesbischen Paar, dass in ihrer Nachbarschaft lebte und dessen Geschichte sehr an die Beziehung zwischen Zou Jintus Mutter und dem Hausmädchen erinnert. Vor allem aber durch ihre Beschäftigung mit der chinesischen Oper, in der für gewöhnlich Männer die Frauenrollen übernahmen, wird sie mit dem Thema vertraut. So forscht sie über die Tangzi 堂子, die Gemeinschaftsunterkünfte der Opernschüler, die in der Qingzeit auch Vergnügungsstätten waren.  Die jungen, oft sehr femininen Operneleven sangen dort für die männlichen Gäste. Umgangssprachlich bekam das Wort „Tangzi“ nicht ohne Grund die Nebenbedeutung „Bordell“. Gegen Ende der Kaiserzeit freilich wurde die Institution reformiert und die künstlerische Ausbildung gefördert. Berühmte Operndarsteller wie Mei Lanfeng erhielten in den Tangzi ihre Ausbildung.

Zhang Yihe zitiert in ihrem Nachwort die Begründerin der Sexualwissenschaft in China, Li Yinghe: „Wenn es in unserem Leben Dinge gibt, die wir überhaupt nicht verstehen können, dann liegt es daran, dass wir nichts darüber wissen. Der Grund dafür ist, dass wir nicht wirklich etwas  darüber wissen wollen. So wußten wir zum Beispiel früher nichts von der Existenz von Homosexualität, weil wir heterosexuell sind. Wir verstehen nicht, warum die Menschen auf dem Land unbedingt viele Kinder haben möchten, weil wir Städter sind. Anthropologie und Soziologie aber geben uns nun Auskunft. Wenn wir etwas wissen wollen, so können wir es wissen.“

Für die Zensoren, die den dritten Bandes verboten, war wohl entscheidend, dass es sich bei der Hauptfigur um eine politische Gefangene handelt. Die Hauptfiguren der vorherigen Romane waren wegen Gewaltverbrechen ins Lager gekommen. Dagegen wird Zhang Yuhe als Dissidentin verurteilt.  Auch Zou Jintu wurde Opfer einer politischen Kampagne. Eine andere Figur ist Christin und wurde als ausländische Spionin gebrandmarkt.

Unerwünscht ist der Roman vor allem deswegen, weil er vom  Machtmissbrauch, der Korruption und der Willkür im Arbeitslager erzählt. Eine der Aufseherinnen, die zu Hause  schöner wohnen will, setzt die Frauen zum Holzfällen ein und lässt von den Männern in einem anderen Lager aus den Edelhölzern Möbel schreinern. Alles natürlich unentgeltlich. Zhang Yuhe, deren Mutter eine bekannte Ärztin ist, wird von einer Aufseherin erpresst: Sie soll eine Behandlung für den Mann der Aufseherin organisieren, ansonsten wird ihre Affäre mit Zou Jintu bekannt gemacht, sodass auch ihr auch die Mandarin-Entenfessel droht.

Die Lageraufseher wissen ihre kleinen Vorteile zu nutzen. Wirklich gut aber verdient der Sicherheits­apparat, der mit den Häftlingen über ein Heer von nur nominell bezahlten Zwangsarbeitern gebietet. Der Apparat hat also nicht nur ein Interesse daran alle widerständigen Elemente und die Feinde der etablierten Ordnung ohne den lästigen Umweg über ein Gerichsverfahren festzusetzen. Mehr noch sind es die Profitinteressen, die alle Bestrebungen die Adminstrativhaft (Haft ohne Gerichtsbeschluss) abzuschaffen, scheitern lassen.

Der Roman erschien im April dieses Jahres in Hongkong und wird, wie andere verbotene Texte zuvor, in der Volksrepublik viele Leser finden. Er ist somit auch ein Beitrag zur gegenwärtigen Debatte um die Arbeitslager. Zwar gibt es seit 2001 keine „Anstalten zur Umerziehung durch Arbeit“ mehr, aber eine auf vier Jahre begrenzte Administrativhaft besteht unter dem Namen „Erziehung durch Arbeit“ (laojiao 劳教) weiter. Nach einem unlängst gefassten Parteitagsbeschluss soll nun auch das Laojiao-System abgeschafft werden. Ob die vom Sicherheitsapparat so hochgeschätzte Administrativhaft künftig einfach unter neuem Namen weitergeführt wird, bleibt abzuwarten. Vielleicht greift die Reform wirklich. In dem angekündigten vierten Band ihres Romanwerkes über die Lagerwelt würde Zhang Yihe dann einen historischen Stoff behandeln. Ihr und ihrem Land wäre das zu wünschen.

章诒和:邹氏女。牛津大學出版社,  Hongkong 2013.

Berlin, im November 2013      © 2013 Amanda Kwan & Ulrich Neininger (u.neininger@hotmail.com)

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