Das China der Europäer (3): Die Chinesen als Automaten. Zu einem Tagebucheintrag Albert Einsteins

Einige Einträge aus dem Reisetagebuch, das Albert Einstein führte, als er sich 1922/23 in Hongkong und Schanghai aufhielt, haben im Juni 2018 Schlagzeilen gemacht:

Neuer Blick auf den Nobelpreisträger. Der Einstein-Schock: In seinen Tagebüchern offenbart das Genie rassistische Ideen. Nazi victim Albert Einstein was a RACIST – shock opinions revealed. Einstein in China: Rassismus eines Genies? 爱因斯坦是种族主义者? Les carnets de voyages d’Einstein révèlent ses pensées racistes. War Einstein ein Rassist? Einstein was a racist? His 1920s travel diaries contain shocking slurs against Chinese people.

Als Einstein am 9. November 1922 in der Kronkolonie Hongkong eintraf, war, nach den archaischen Blutorgien des Ersten Weltkriegs, das Selbstbewusstsein der Europäer schon arg angeschlagen, aber man konnte sich als Weißer noch immer zu den Auserwählten zählen. Einstein galt zudem als humanitäre Lichtgestalt, ein Ruf, der sich auf seine untadelige pazifistische Haltung gründete. Während des Krieges hatte er in Berlin zu einer Gruppe von Menschen gehört, die gegen den nationalistischen Taumel über die Jahre unverdrossen zum Friedensschluss aufrief.[1] Lichtgestalten waren nach den Massenschlächtereien von 14/18 sehr gefragt, und die Medienöffentlichkeit hielt Einstein dafür besonders geeignet. Tatsächlich war er für diese Rolle nur schlecht vorbereitet, wie sich in seinen Reisetagebüchern zeigt.

Zu seinen ersten Begegnungen in Hongkong gehören, „geplagte Menschen, Männer und Weiber, die für 5 Cent täglich Steine klopfen und Steine tragen müssen.“ Später, auf einem Ausflug zum Victoria-Peak, trifft er auf Rotten von Taglöhnern, Männer, Frauen und Kinder, die Ziegelsteine den Berg hochschleppen und für die er durchaus Mitgefühl zeigt: „Aermstes Volk der Erde, grausam mis[s]braucht und abgeschunden, schlimmer als das Vieh behandelt, Lohn der Bescheidenheit Sanftmut und Genügsamkeit.“[2] Bei allem Mitgefühl scheint er nie auf den Gedanken zu kommen, dass zwischen der Kolonialherrschaft und dem Elend der Bevölkerung eine Verbindung bestehen könnte. So überschlägt er sich fast vor Begeisterung für ein durch und durch verrottetes System.

„Die jetzige üppige Flora auf Honkong soll ganz von den Engländern angelegt sein. Diese verstehen das Regieren bewunderungswürdig. Die Polizei wird durch importierte schwarze Inder von wunderbarem Wuchs besorgt, niemals werden Chinesen verwendet. Für letztere haben die Engländer eine richtige Universität errichtet, um die in ihrer Lebenshaltung emporgestiegenen Chinesen an sich zu fesseln. Wer macht ihnen das nach?“[3]

Entschuldigend könnte man sagen, dass er in China Gast von Angehörigen der kolonialen Kaste war, und das nachbetet, was ihm die Profiteure des Systems erzählt haben. Andere Informationen hatte er wohl nicht. Freilich hätte man erwarten können, dass er bei seiner Beurteilung der Chinesen ein wenig nachdenkt, so als er schrieb:

„Alle sind im Lobe des Chinesen einig, aber auch über intellektuelle Minderwertigkeit bezüglich Arbeit im Geschäft; bester Beweis: er erhält 10 mal weniger Lohn in der entsprechenden Stelle, und der Europäer kann doch als Geschäftsangestellter erfolgreich mit ihm konkurrieren.“[4]

Das ist zumindest ein origineller bester Beweis für die Ungleichheit von Einkommen. Mit Beweisführungen jenseits seines Fachgebiets, scheint der große Gelehrte gelegentlich doch heftige Schwierigkeiten gehabt zu haben. Ein Mann, der durch eine Gleichung berühmt geworden ist, hätte eigentlich merken müssen, dass in der Gleichung Hongkong = Ausbeutung + Massenelend + Schmutz = bewundernswürdige Regierung sich irgendwo ein Fehler eingeschlichen hat.

Im „Chinesenviertel“ (Kowloon), wo die Menschen noch nicht zur Lebenshaltung der Engländer emporgestiegen waren und wo es keine kolonialen Prachtbauten und keine üppige Flora gab, beklagt er den Schmutz und den Gestank. „Fleissiges, dreckiges, stumpfes Volk. Häuser sehr schablonenhaft, bienenzellenartige gegliedert Veranden, alles zusammengebaut und eintönig.“ In Shanghai ist es dann auch nicht besser: Die Chinesen stumpf, die Straßen vor Schmutz starrend. „Überall respektabler Dreck.“

Einsteins Beobachtungen stehen ganz im Gegensatz zu denen des Arztes und Naturforschers F. J. F. Meyen, der sich 1832 unweit von Hongkong, in Kanton, aufhielt. Meyen schreibt über die Vorstadt Henan südlich des Perlflusses: „Die Strassen sind sämtlich mit langen und breiten Trottoirs belegt, und es herrscht hier überall eine Ordnung und eine Reinlichkeit, wie sie in Europäischen Städten nicht zu finden ist, obgleich auch hier, ganz ebenso wie in Canton, ein ganz innormes Treiben und Wogen der Menschenmasse stattfindet.“[5]

Hat nun einer der beiden Autoren seinen Bericht erfunden, oder ließen die Chinesen ihre Städte innerhalb von wenigen Jahrzehnten völlig verdrecken? Tatsächlich gibt es einen wesentlichen Unterschied: Hongkong und Schanghai standen unter kolonialer Herrschaft, Kanton aber war frei davon. Der Kolonialismus hat die üblen Zustände, aus denen er die Kolonisierten emporzuheben versprach, erst geschaffen. So beruhen auch Einsteins Bemerkungen über die stumpf dreinblickenden Menschen nicht unbedingt auf Vorurteilen. Menschen, die hungern oder auch nur schlecht ernährt sind, haben nun mal ein stumpfes Aussehen. Vor allem aber gab es ein ungeheures, vom Kolonialismus geschaffenes Opiumproblem.[6] Süchtige aber zeichnen sich bekanntlich nicht durch einen wachen Blick aus.

Bei seinen Spaziergängen durch Hongkong und Schanghai zeigt sich Einstein sehr beeindruckt von der großen Zahl der Chinesen. Schon seit jeher hatten europäische Reisende vermutet, dass es bei der Fruchtbarkeit der Frauen in China nicht mit rechten Dingen zugehen könne. Das Straßenbild gleiche dem Bild einer im Marsch begriffenen Armee, heißt es in einem Lexikonartikel aus dem Jahre 1743,  „worüber auch die Portugiesen, als sie dahin kamen, dermassen erstaunten, daß sie fragten, ob etwan die Chinesischen Weiber auf einmahl 12 Kinder hätten?“[7]

Auch Einstein staunt und spekuliert auch gleich über die Ursachen der Überbevölkerung. In China bestehe nur ein geringer Unterschied „zwischen Männern und Weibern“, und er könne nicht begreifen, welchen Reiz die Chinesinnen ausüben, dass die Männer „sich gegen den formidabeln Kindersegen so schlecht zu wehren vermögen.“[8] Das Wort Weiber, im Jahr 1922 niedergeschrieben, spricht für sich. Gerade wenn es um demographische Fragen geht, schlägt die weltberühmte Menschenfreundlichkeit Einsteins leicht in Misanthropie und Misogynie um. So überlegte er, als gerade die letzten der siebzehn Millionen Leichen vom Schlachtfeld getragen wurden, ob aus Gründen der Bevölkerungsreduktion der Krieg nicht eine begrüßenswerte Veranstaltung sei. Ihn habe, schrieb er im August 1918 an Max Born, die Nachricht erschreckt, dass Europas Bevölkerung im 19. Jahrhundert von 113 Millionen auf fast 400 Millionen angewachsen ist. Das sei doch „ein schrecklicher Gedanke, der einen fast mit dem Krieg befreunden könnte.”[9]

Der Widerspruch zwischen Menschenfreundlichkeit und Menschenverachtung, der hier so offen zu Tage tritt, erklärt sich aus der Herkunft von Einsteins pazifistischer Gesinnung. Einsteins antimilitaristische Haltung ist nicht, wie es der Mythos will, ein Produkt eines tief empfundenen Humanismus. Seine Haltung nährt sich aus dem Widerwillen des süddeutschen Bürgertums gegen die preußischen Junker. Das süddeutsch Zivile, der schwäbisch-jüdische Bürger, steht in der Gestalt Einsteins gegen Preußens Gloria und eine großmäulige Militärkaste. Riskant war das für ihn nie – nicht einmal in Berlin während des Ersten Weltkrieges.[10] Dieser kostenlose Edelmut diente Einstein, nachdem er berühmt geworden war, vor allem der Pflege der Eigenmarke Albert Einstein. Dass er ohne humanistische Skrupel über Menschen als demographisch unerwünschte Masse spekulieren kann, oder dass er dem Atombombenabwurf über Hiroshima interessiert aber tatenlos entgegensieht, ist also so verwunderlich nicht.

Einstein und die Abneigung gegen die Vielen. Dass der Welt die Gelbe Gefahr droht, war seit langem eine gemeineuropäische Furcht. Kaum war das Schiff in den Hafen von Singapur eingelaufen, notierte er seine ersten Eindrücke von den Chinesen: „Die Chinesen vermögen jedes andere Volk zu verdrängen durch Fleiss, Anspruchslosigkeit, Kinderreichtum.“[11] So sah er die Chinesen schon auf dem Vormarsch. „Singapore ist fast ganz in ihren Händen“, meldete er. Nun haben sich die Chinesen aber nicht in Kolonnen über Südostasien ausgebreitet, um die Einheimischen zu verdrängen. Sie kamen, angeworben von englischen Firmen, im Kulihandel als billige Arbeitskräfte.

Eigentlich war die Gelbe Gefahr ein Schlagwort der Konservativen, das sich gegen Pazifisten wie Einstein richtete. Ein sanftmütiges, immer schwächeres, von pazifistischen Träumern verführtes Europa, so lautete die Warnung, liefere sich den Asiaten schutzlos aus. In den Worten des (von Arthur Schnitzler erdachten) k.u.k. Leutnants Gustl: „Am liebsten möchten sie gleich’s ganze Militär abschaffen; aber wer ihnen dann helfen möcht‘, wenn die Chinesen über sie kommen, daran denken sie nicht.“[12]

Die Drohung, dass die Chinesen über ihn kommen, machte Einstein auch nicht wirklich Sorgen. Er war einfach ennuyiert von der Aussicht, dass es nur noch Chinesen gibt. „Es wäre doch schade, wenn diese Chinesen alle andern Rassen verdrängten. Für unsereinen ist schon der Gedanke daran unsäglich langweilig.“[13]

Einsteins Phobien sind eingebettet in eine allgemeine Misanthropie. Die Europäer von Schanghai bezeichnet er als faul, selbstbewusst und hohl, und im selben Eintrag notiert er über einen Empfang: „jüdische und sonstige schmalzige Spiesser in Schar[r]en, übliche Händedrücke und Reden — abscheulich.“[14] Er findet also nicht nur die Chinesen unleidlich, die meisten anderen Menschen sind ihm auch zuwider. Ansonsten war er ein Vertreter seiner Epoche. Europäische Reisende der Kolonialzeit haben oft dümmere Beschreibungen der Chinesen hinterlassen und nur selten klügere.

 

2.

 

Nach einem Spaziergang durch Schanghai – herrliches Wetter, aber in den Gassen wimmelt es, es ist dreckig und stinkt – notiert Einstein: „Merkwürdiges Herdenvolk, oft respektable Bäuchlein, immer gute Nerven, oft mehr Automaten als Menschen ähnelnd.“[15]

Das Wort Herdenvolk hat er von Nietzsche entliehen, der die Sprache seiner Generation um Begriffe wie Herden-Menschheit, Herdentier-Europäer, Herdentier-Moral, Herden-Denkweise, Herden-Natur bereichert hat. Nietzsches Vokabeln waren seinerzeit in der Konversation des Bürgertums unverzichtbar, wenn es darum ging die Massengesellschaften, in Europa oder sonst wo, zu beschreiben.

Zur Beschreibung von Menschen, die Automaten ähneln, fallen einem zuvorderst Arbeiter am Fließband ein – Amerikaner, Europäer. Die Chinesen waren noch lange nicht so weit fortgeschritten. Was hat Einstein also gesehen, Menschen, die auf den Straßen herumwimmeln, oder Menschen, die sich diszipliniert wie Automaten verhalten?

Das Bild von den Automaten entsprang gewiss nicht der Beobachtung. Einstein greift hier auf eine alteingeführte Schablone zurück, die der Liberalismus, der das absolutistische Preußen mit China gleichsetzte, geprägt hatte. Danach war der chinesische (preußische) Staat ein maschinenartiges Gebilde, und die Einwohner Rädchen, die in dieser Maschinerie zu funktionieren hatten.

Für den 48er Revolutionär Johannes Scherr etwa, der sich in seinem Schweizer Exil als Kulturhistoriker etablierte, ist der „deutsch-chinesische Absolutismus und Bureaukratismus“ ver­antwortlich für die Politik der Restauration. Dabei ist China für ihn der „Automat der Weltgeschichte.“[17]

Schopenhauer, der Scherrs politische Überzeugungen keineswegs teilt, aber sich mit ihm einig ist, dass Hegel und seine Schule im Interesse der preußischen Staatsmaschinerie den Bürgern die  Freiheitsrechte verweigern wollen, schreibt: „Einige deutsche Philosophaster dieses feilen Zeitalters möchten ihn [den Staat] verdrehen zu einer Moralitäts-Erziehungs- und Erbauungs-Anstalt: wobei im Hintergrund der Jesuitische Zweck lauert, die persönliche Freiheit und indivi­duelle Entwicklung des Einzelnen auf­zuheben, um ihn zum bloßen Rade einer chinesischen Staats- und Religions-Maschine zu machen. Dies aber ist der Weg, auf welchem man weiland zu Inquisitionen, Autos de Fé und Reli­gionskriegen gelangt ist: …“[18]

Vorstellungen vom Kosmos als Maschine (Johannes Kepler), vom Staat als Maschine (Thomas Hobbes) und vom Menschen als Maschine (René Descartes) hatten schon lange das europäische Denken beschäftigt, als die Aufklärer sich für China zu interessieren begannen, die Korrespondenz der Jesuiten aus Peking auswerteten, und dann meinten einen Staat gefunden zu haben, der tatsächlich wie eine Maschine funktioniere.

Die preußische Regierung unter Friedrich dem Großen zeigte sich von diesen Interpretationen beeindruckt. „Ein wohleingerichteter Staat“ erklärte Mitte des 18. Jahrhunderts der  Kameralist und spätere preußische Staatsbeamte J.H.G. von Justi „muß vollkommen einer Maschine ähnlich sein, wo alle Räder und Triebwerke auf das genaueste ineinanderpassen, und der Regent muß der Werkmeister, die erste Triebfeder oder die Seele sein, wenn man so sagen kann, die alles in Bewegung setzt.“[19]

Als Rädchen im Räderwerk funktionierten die, nach chinesischem Vorbild durch ein rationales Examenssystem ausgewählten Beamten.[20] Statt wie bis dahin die familiären (aristokratischen) Verbindungen, sollten künftig eine Fachausbildung und bestandene Examina über die Besetzung eines Amts entscheiden. Friedrich der Große gründete dazu eine „Oberexaminations­kommission“, die Aspiranten mit Universitätsabschluss in einem mehrstufigen Prüfungsverfahren auf ihre Eignung für den Staatsdienst prüfte.[21] Friedrichs zeitweiliger Hofphilosoph Voltaire, der dem König lange Episteln über die politische Weisheit der Konfuzianer schrieb, befand, dass in Preußen ein Idealstaat nach chinesischem Muster entstehe, und er lobte Friedrich, der so weise regiere wie der Kaiser in Peking.[22]

Einige Jahrzehnte lang konnten sich die Preußen über den Vergleich mit China freuen. Nach der Französischen Revolution aber veränderte sich das europäische Chinabild schlagartig. Mit Jean-Jacques Rousseau hatte sich das Ende der China-Begeisterung angekündigt. Rousseau sah die  chine­si­sche Gesellschaft einer versteinerten Etikette unter­worfen, prunksüchtig, intrigant und geschwätzig – genau wie die Rokoko-Gesellschaft: „Gelehrt, feige, Heuchler, Scharla­tane, Vielredner ohne etwas zu sagen, voll Geist doch ohne ein Genie, reich an Riten, aber unfruchtbar an Ideen, höflich zuvor­kommend, gewandt, betrügerisch und schurkisch, sieht es alle seine Pflichten in der Etikette, alle Moral in der Ziere­rei, kennt es keine andere Humanität als Grüßen und Reverenz.“[23]

Gleich in den Anfangsjahren der Französischen Revolution nennt Herder den chinesischen Staat eine in sich selbst gegründete, zu jeglicher Veränderung unfähige Maschinerie, deren Räderwerk selbst nach einem dynastischen Umsturz wie eh und je weiterlaufe. So hätten die Mandschuren bei der Eroberung Chinas den Staat als „Lehnstuhl kindlicher Sklaverei“ vorgefunden, auf dem sie es sich dann nur bequem zu machen brauchten. „Dagegen die Nation in jedem Gelenk ihrer selbsterbaueten Staatsmaschine so sklavisch dienet, als ob es eben zu dieser Sklaverei erfunden wäre.“[24]

Die Feinde der preußischen Autokratie kamen bald auf den Kunstgriff, China zu beschreiben, wenn Preußen gemeint war. Die Lyriker insbesondere beherrschten dieses Spiel souverän.

Heinrich Heine persifliert die Verhältnisse am Berliner Hof unter Friedrich Wilhelm IV. und lässt den chinesischen Kaiser sagen: „Sobald ich getrunken meinen Schnaps/ Steht China ganz in Blüte./ …  Ich selber werde fast ein Mann,/ Und meine Frau wird schwanger./ … Die Mandarinenritterschaft,/ Die invaliden Köpfe,/ Gewinnen wieder Jugendkraft,/ Und schütteln ihre Zöpfe.“[25]

Der reaktionäre Staat ist immer auch Polizeistaat. Als Kaiser von China war Friedrich Wilhelm IV. der Monarch, der seine Untertanen permanent überwachen lässt: „Sagen Sie, mein grundgelehrter/ Herr Professor, wissen Sie:/ Welche, auf der ganzen Erde/ Ist die frei’ste Monarchie?/ China ist’s! Daß Sie’s nicht wußten!/ Und es liegt wahrhaftig nah‘!/ Der Beschränkteste von allen/ Menschen ist der Kaiser da.“[26] (Adolf Glaßbrenner, Verbotene Gedichte, 1851). Georg Herwegh schließlich schreibt Spottverse über die Zeit „als noch kein Asiate, an der Spree gehaust“ am Hoangho schon Tee getrunken wurde: „Und wo ihn tranken mehr als drei/ Chinesen, kam die Polizei.“[27]

Die nicht von der Hand zu weisende Beobachtung, dass China ein Polizeistaat ist, verbindet sich mit der Behauptung, China bleibe sich ewig gleich. Die Chinesen seien, sagt Schelling, „eine bloße Menschheit, die sich selbst nicht etwa für eines der Völker, sondern gegenüber von allen Völkern als die eigentliche Menschheit ansehen (worin sie auf gewisse Weise Recht haben, inwiefern sie eben kein Volk sind wie die andern).“[28]

Das Bild von der chinesischen Staatsmaschinerie fand Eingang in die populären Enzyklopädien und gehörte bald zum Bestand der bürgerlich-liberalen Weltanschauung. So heißt es in Meyer’s Universum (1860), die Gesetzgebung Chinas sei ihren Prinzipien nach das vollendetste Muster zur Völkerbeglückung. „Aber in ihrer bisherigen Praxis ist sie gerade das Gegenteil von Dem, was sie seyn sollte, –  sie ist eine Maschine, die Civilisation zum Stillstehen zu zwingen, die Völker zu Rotten von Heuchlern und Sklaven zu machen, oder sie zu schlafenden Winterthieren  zu entwürdigen.“[29]

Diese verquere Sentenz nimmt Einsteins China in seiner ganzen Eigentümlichkeit vorweg. Die Chinesen, bemerkt der Reisende beim Anblick der Arbeiter, die für 5 Cent täglich Steine klopfen, werden „für ihre Fruchtbarkeit von der fühllosen Wirtschaftsmaschine hart gestraft. Ich glaube, sie merken es kaum in ihrer Stumpfheit, aber traurig zu sehen ist es.“ Einsteins fühllose Wirtschaftsmaschine, die Strafen für Fruchtbarkeit verhängt, ist eine ebenso seltsame Konstruktion wie Meyer’s Maschine zum Anhalten der Zivilisation. Wie die Zivilisationsstillstands­maschine und die Fruchtbarkeitsbestrafungsmaschine funktionieren, bleibt letztlich ein Rätsel. Eindeutig aber ist, dass für die Ausbeutung der Hongkonger Arbeiter die bewundernswürdige englische Kolonialregierung verantwortlich war.

Das Wort stumpf fehlt selten, wenn Einstein die Chinesen beschreibt, die sich, von wie Vieh behandeln ließen. In einem einzigen Satz seiner Aufzeichnungen klingt freilich das Unwahrscheinliche an: Die ewig Sanftmütigen könnten sich wehren. „Sie sollen übrigens vor einiger Zeit mit merkwürdig guter Organisation einen Lohnstreik erfolgreich durchgeführt haben.“[30] Die schlafenden Wintertiere? Wirklich?

 

Kanton, im August 2018

[1] Hubert Goenner, Einstein in Berlin 1914-1933, München 2005: 68 ff.

[2] The Collected Papers of Albert Einstein, Bd. 13, The Berlin Years: Writings and Correspondence, January 1922- March 1923, Princeton 2012 :545.

[3] Einstein, Collected Papers, Bd. 13 :541.

[4] Einstein, Collected Papers, Bd. 13 :541.

[5] Meyen, F.J.F., Reise um die Erde ausgeführt auf dem Königlich preussischen Seehandlungs-Schiffe Prinzess Louise, commandirt von Capitain W. Wendt, in den Jahren 1830, 1831 und 1832, Bd. 2, Berlin 1835 :369.

[6] Das 1911 geschlossene Abkommen, in dem sich die Briten verpflichteten,  kein Opium mehr in Provinzen zu liefern, die für  „clean“ erklärt worden waren, galt nicht für Schanghai. Pan Ling, In Search of Old Shanghai, Schanghai 1982 :28.

[7] Zedlers Grosses Universallexicon, Halle 1743, Bd. 37, Artikel Sina :1560.

[8] Einstein, Collected Papers, Bd. 13, Eintrag vom 3. Nov. 1922.

[9] Hubert Goenner, Einstein in Berlin 1914-1933, München 2005 :81.

[10] Der pazifistische Kreis, dem Einstein im Ersten Weltkrieg angehörte, blieb weitgehend unbehelligt. Dazu: H. Goenner, Einstein in Berlin :75 ff. Ob Einstein sich auch in Frankreich, wo er als Landesverräter ins Gefängnis gegangen wäre, zum Niederlegen der Waffen aufgerufen hätte, darf angesichts seines Verhaltens im Sommer 1945 bezweifelt werden.

[11] 3. Nov. 1922, Einstein, Collected Papers, Bd. 13 :540.

[12] Schnitzler, Leutnant Gustl, in Meistererzählungen, Frankfurt 1972 :152.

[13] Einstein, Collected Papers, Bd. 13 :541.

[14] Einstein, Collected Papers, Bd. 13, Eintrag vom 1. Jan. 1923.

[15] Einstein, Collected Papers, Bd. 13 :542.

[17] Johannes Scherr, Geschichte deutscher Cultur und Sitte: in drei Büchern, Leipzig 1852 :599.

[18] Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, (1840) Werke, Hg. L. Lütkehaus, Zürich 1988, Bd. 3 :574.

[19] Johann Heinrich Gottlob von Justi,  Gesammelte politische und Finanzschriften über wichtige Gegenstände der Staatskunst, der Kriegswissenschaften und des Kameral- und Finanzwesens, Bd. 3, Kopenhagen 1764 :87.

[20] Schon Friedrich Wilhelm I. (1713-1740), der zwar stets behauptete nur aus der Erfahrung zu schöpfen, orientierte sich bei der Modernisierung des Staatsapparates offenkundig am chinesischen Vorbild. Dazu: Gerhard Oestreich, Friedrich Wilhelm I. Preußischer Absolutismus, Merkantilismus, Militarismus, Göttingen 1977 :112.

[21] John C. G. Röhl, Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 1987 :143.

[22] W. R. Berger, China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, Wien  1990 :71, Anm. 58; dazu Engemann, Walter, Voltaire und China – Ein Beitrag zur Geschichte der Völkerkunde und zur Geschichte der Geschichtsschreibung sowie zu ihren gegenseitigen Beziehungen, Diss., Leipzig 1932 :91 ff. u. Guy, Basil, The French Image of China before and after Voltaire (Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, Bd. 21), Genf 1963 :283 f.

[23] Rousseau, zit. in Ursula Aurich, China im Spiegel der Literatur des 18. Jahrhunderts, Berlin 1935 :32.

[24] Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit,  3. Teil, Riga und Leipzig 1790 :22.

[25] Heinrich Heine, Neue Gedichte (Der Kaiser von China, 1844), Hamburg 1844,  (H. Heine, Sämtliche Werke, Bd. 2, Hg. Hans Kaufmann, München 1964 :56).

[26] Adolf Glaßbrenner, Verbotene Gedichte (annonym in Bern, 1851, als Gedichte erschienen). Ernst Rose, Blick nach Osten: Studien zum Spätwerk Goethes und zum Chinabild in der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts (Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur) 1981 :105 f.

[27] Ein neuer Leich vom Himmlischen Reich, 1866,  Herweghs Werke, Berlin/Weimar, 3. Aufl. 1977 :243.

[28] Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Mythologie, Bd. 2, Darmstadt 1976 (Nachdruck v. Stuttgart +1857,) :522

[29] Meyer’s Universum (1860), Bd. 8 :18.

[30] Einstein, Collected Papers, Bd. 13 :541.