Die Kachin und ihre Texte

Aus der Sicht der chinesischen Statistiker sind die Verhältnisse einfach zu überschauen: Am 1. November 2000 lebten auf dem Gebiet der Volksrepublik China 634.912 Menschen, die sich zum Volk der Lisu und 132.143 Menschen, die sich zu den Jinghpaw zählten. In Birma, wo die Verhältnisse unübersichtlicher und Volkszählungen unbekannt sind, werden neben den Jinghpaw und den Lisu, die Maru, Lashi, Atsi, Tsaiwa und Rawang, insgesamt etwa eine Million Menschen, den Kachin zugerechnet. Die Übersichtlichkeit der chinesichen Statistik ist freilich auch nur Schein. So sprechen die chinesischen „Jinghpaw“, in ihrer Mehrheit die Sprache der Tsaiwa, die für einen Jinghpaw-Sprecher nicht zu verstehen ist. Komplizierter werden die Dinge noch dadurch, dass viele Jinghpaw mehrsprachig sind, und mit der Sprache ihre Identität wechseln. So kann ein Jinghpaw in einer chinesischen Umgebung als Chinese und in einem Dorf der Schan als Schan auftreten, aber in seinem Heimatdorf als reiner Kachin gelten.

Das Volk, das sich nach seinem Kernland Kachin (Ga Khyen – Rote Erde) nennt, hat keine gemeinsame Sprache, kein eigenes Territorium und bisher – abgesehen von der Rebellenbewegung „Organisation für die Unabhängigkeit der Kachin“ – keine eigenständigen politischen Strukturen. Tatsächlich lassen sich die Kachin nur über die Welt ihrer Ahnen und Geister definieren. Diese Welt ist dicht bevölkert, und ihre Versorgung mit Opfern kostspielig. In ihren Märchen sinnen die Kachin gerne darüber nach, warum sie derart viele Geister, die Chinesen hingegen so viel Geld haben.

Die erstaunlichen Erfolge der Missionare, die im Laufe weniger Jahrzehnte die große Mehrheit der Kachin zum Christentum bekehrten, sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Konvertiten sich durch die Abwendung vom Animismus von der Last des Opferns befreien konnten.

Nachdem die Bindekraft des alten Glaubens so geschwächt worden ist, ist freilich auch die Identität der Kachin in Gefahr. Zwar werden einige der alte Bräuche, christlich interpretiert, von den christlichen Gemeinden fortgeführt. Vor allem das dem Himmelsherrn Madai gewidmete Manau feiern die Christen als eine Art Nationalfest, bei dem sich alle Völkerschaften der Kachin zusammenfinden.

Vor der Einführung der Lateinschrift an den christlichen Missionsschulen besaßen die Kachin keine Schrift. Sie erzählen aber von einem Buch, das ihnen vor langer Zeit abhanden gekommen sein soll. Damals habe der Himmelsherr den Chinesen ein Buch mit Seiten aus Papier geschenkt. Die Birmanen erhielten ein Bündel Palmblätter. Das Buch der Kachin aber war aus Ochsenleder. Zurück vom Besuch beim Himmelsherrn wurden die Kachin hungrig. So verzehrten sie auf dem Weg in ihr Dorf das Leder Stück für Stück. In China schreibt man nun auf Papier, die Birmanen halten ihr Wissen auf Palmblättern fest, die Kachin aber tragen es im Bauch mit sich herum.

Wie die Gelehrten an der Akademie von Lagado, die Swifts Gulliver auf seinen Reisen besuchte, immer „die Dinge bei sich führten, die sie benötigten, um auszudrücken, worüber sie jeweils sprechen wollen“ gebrauchten die Kachin und ihre Nachbarn eine Vielzahl von Dingen um etwas zu notieren oder Nachrichten zu übermitteln. Zuckerrohr, Bananen und Salz bezeichneten Stadien der Freundschaft. Flammende Empörung wurde durch Pepperoni und Dringlichkeit durch Hühnerfedern angezeigt.

Kohle (= Feuer) und Federn (= Flug) wurden als Zeichen großer Eile auch den chinesisch oder birmanisch geschriebenen Botschaften beigegeben, mit denen die lokalen Machthaber aus verschiedenen Völkern einander vor Räubern und marodierenden Soldaten warnten, oder, öfter noch, sich zu einem gemeinsamen Raubzug verabredeten. Konnte der Empfänger, wie so oft, die Nachricht nicht lesen, so wusste er doch, dass er schnellstens einen schriftkundigen Menschen herbeirufen musste.

Der romantische Brauch „Baumblattbriefe“ zu schreiben hält sich unter jungen Leuten auch in den Zeiten des Mobiltelefons. Der tibeto-birmanische Sprachenzweig (zu dem alle Kachin-Sprachen gehören) hat zahlreiche Homonyme hervorgebracht. So lassen sich mit Blättern, deren Namen zweideutig sind, eindeutige Wünsche übermitteln. Dass der Absender in Liebe entflammt ist, zeigen zwei den Blättern beigegebene Streichhölzer an.

Eidesleistungen und Schuldsummen wurden durch Kerben auf einem Kerbholz und Knoten in einer Schnur dokumentiert. Bei Abschluss eines Vertrags spalteten die Vertragspartner ein Bambusrohr in zwei Hälften. Besonders feierliche Verträge wurden durch das Einkerben eines Speeres oder eines Messergriffes beglaubigt.

Der erzählerische Reichtum der Kachin wird von den Jaiwa, den Erzählern, die gleichzeitig das Amt des obersten Priesters versehen, bewahrt und überliefert. Ein Jaiwa, der selbst wieder Schüler eines Jaiwa und Erbe einer langen Überlieferung ist, kann über Tage und Nächte hinweg die Geschichte seines Volkes erzählen, beginnend mit der Zeit als ein Nebel sich mit einem Vogel vereinigte, und der Vogel die Dinge gebar, die zur Erschaffung der Welt notwendig sind: etwa die Säulen auf denen der Himmel ruht und den Lehnstuhl für den Himmelsherrn, aber auch die Schlange, die sich um die Erde windet, ihrem eigenen Schwanz nachjagt und so die Erde beben lässt.

Sein Amt verpflichtet den Jaiwa sich genau an die Überlieferung zu halten, sodass die Fülle des Erzählten von Generation zu Generation wortgetreu weitergegeben wird. Der einfache Märchenerzähler hingegen hat alle Freiheiten seinen Stoff auszuschmücken, dem Verlauf der Handlung neue Wendungen zu geben oder auch Motive aus verschiedenen Märchen miteinander zu verknüpfen.

Die Märchenerzähler spielen mit ihrem Material. Nur bedeutende Veränderungen in der Welt können hingegen einen Jaiwa dazu bringen, von der Überlieferung abzuweichen. Eine solche Veränderung bewirkten die Engländer, die, bald nachdem sie ihre Herrschaft über das Bergland errichtet hatten, in der Schöpfungsgeschichte der Kachin einen Platz zugewiesen erhielten. Ein Kachin, so die von den Jaiwa beglaubigte Version, hatte mit einer Äffin einen Sohn gezeugt, der im Dorf der Kala (Engländer) König wurde. Das erklärte die starke rötliche Behaarung der Kolonialherren. Damit war nun auch bekannt, dass das englische Königshaus – väterlicherseits jedenfalls – von den Kachin abstammte. Mit diesem Wissen konnte sich die Kachin-Aristokratie gut mit der Kolonialherrschaft arrangieren.

Für alle Lebewesen, Gebräuche, Tätigkeiten und Gegenstände in der Welt der Kachin kann der Jaiwa einen zuständigen Geist (Nat) benennen. Krankheit, unzeitiger Tod, Missernten, Viehseuchen – überhaupt alle Fälle von Unglück werden den Geistern zugeschrieben, die rachsüchtig und bösartig ihre Opfergaben fordern. Der Gläubige, der ein Unglück aufhalten will, muss aus der Überlieferung wissen, wer für die Masern seines Kindes, die Rattenplage auf seinem Feld oder die Seuche im Schweinekoben verantwortlich ist. Sollte das Opfer nicht den Erwartungen des Adressaten entsprechen, oder richtet es sich gar an den falschen Nat, hat das böse Folgen für den Gläubigen. Die Erzählungen weisen ihm somit in der labyrinthischen Welt der Geister den Weg und bewahren vor ihn Racheakten. Dabei ist der Mensch der Boshaftigkeit nicht völlig ausgeliefert. Die boshaften Geister, so lehren uns die Märchen der Kachin, können auch betrogen und für ihre Gier bestraft werden.

Die hilfreichen Geister befinden sich sehr in der Minderzahl. Es sind zumeist Feen und Nixen, die sich in Mädchengestalten verwandeln und armen Waisenjungen, die dafür nicht immer dankbar sind, als Ehefrauen zur Seite stehen.

Der arme Waise, der von seinen Nachbarn verachtet und verspottet wird, es dann aber durch einige wunderbare Fügungen zum reichen Mann oder gar zum König bringt, hat in vielen Märchen seinen Auftritt. Eine andere Heldengestalt ist der jüngere Bruder, der vom älteren Bruder um sein Erbe gebracht, schließlich doch noch sein Glück macht. Die Märchen beschreiben hier reale Auseinandersetzungen nach bestimmten immer wiederkehrenden Mustern: Bei den Kachin ist der jüngste Sohn der Erbe. Allerdings entrichten die älteren Brüder bei ihrer Heirat den Brautpreis aus dem Familienvermögen und die Schwestern erhalten eine Mitgift. Um Mitgift und Brautpreis wird zwischen den Familien üblicherweise hart gefeilscht, sodass für den jüngsten Sohn vom Erbe oftmals nichts übrig bleibt.

Der Jaiwa verherrlicht die Weltordnung der Kachin, in der eine mächtige Aristokratie über das Volk herrscht. Die Märchen hingegen schildern die Welt aus der Sicht der einfachen Leute, die mit allerlei Listen sich gegen die Despoten und ihre Büttel zur Wehr zu setzen. Im Märchen wenigstens bleiben sie ewige Sieger.

© 2012 Ulrich Neininger