(Amanda Kwan & Ulrich Neininger, Rezensionen chinesischer Literatur). Nach den Romanen Eine Frau namens Liu und Eine Frau namens Yang hat die chinesische Autorin Zhang Yihe nun den dritten Band eines vierbändigen Werkes fertiggestellt, das von Frauen im Arbeitslager handelt. Der Roman Eine Frau namens Zou erzählt aus der Sicht der Gefangenen Zhang Yuhe von der Beziehung zweier Frauen unter den Bedingungen des Lagerlebens.
Zhang Yihe ist als Verfasserin autobiographischer und biographischer Schriften bekannt geworden. Autobiographisch sind nun auch ihre Romane, wie schon der wenig verfremdete Name – Zhang Yuhe – erkennen lässt. Zhang Yuhe ist wie Zhang Yihe zur Umerziehung verurteilt worden, weil sie sich über die Modellopern lustig gemacht hatte, die von Jiang Qing, der Ehefrau des Vorsitzenden Mao, auf die Bühne gebracht worden sind. Auch sonst stimmt der Lebenslauf der Autorin in vielen Einzelheiten mit dem ihrer Romanfigur überein.1
Die Lager zur „Umerziehung durch Arbeit“ (laogai 劳改) wurden in den fünfziger Jahren errichtet, um „Konterrevolutionäre“ zu läutern. Die ersten Gefangenen waren Kleinkriminelle, Prostituierte, Vagabunden und sonstige Individuen, die sich nicht in die wohlorganisierte, sozialistische Ordnung fügten. Bald waren es vor allem politische Gefangene, die als „Rechtsabweichler“ (youpai 右派) die Lager füllten. Den Titel „Rechtsabweichler Nr. 1“ trug Zhang Bojun, ein Minister im Kabinett Maos, der 1957 ein Mehrparteiensystem mit demokratischen Wahlen forderte. Zhang Yihe ist die Tochter des 1969 verstorbenen Politikers.
1970, während der Kulturrevolution, kam Zhang Yihe als konterrevolutionäres Element ins Arbeitslager, wo sie bis 1979 blieb. In dieser Zeit gab es keine formalen Gerichtsverfahren. So wurden Gefangene aus den unterschiedlichsten Gründen durch Beschlüsse der „Volksmassen“ zur Umerziehung durch Arbeit verurteilt. Gewaltverbrecher fanden sich nun ebenso wie politisch missliebige Personen in den Lagern. Für alle galten die gleichen harten Regeln, die unter anderem vorschreiben, dass die Gefangenen nicht miteinander reden dürfen. Im ersten Band (Eine Frau namens Liu 刘氏女。广西示范大学出版社, Guilin 2011) berichtet die Erzählerin, wie sie dieses strikte Verbot durchbrechen konnte. Die Frauen müssen immer wieder erneut ihre Verbrechen bekennen. Da sie aber meist zu ungebildet sind, einen Text selbständig abzufassen, wird die gebildete Zhang Yuhe abkommandiert, ihnen beim Schreiben der Bekenntnisse zu helfen. So hilft sie der Frau namens Liu aufzuschreiben, wie sie ihren Ehemann ermordet und die Leiche zerlegt und eingepökelt hat. Die Geschichten, die Zhang Yuhe erfährt, erscheinen ihr wie die Handlung eines Theaterstücks, die unweigerlich auf ein Verbrechen zutreibt.
Das zweite Buch (Eine Frau names Yang 杨氏女。广西示范大学出版社, Guilin 2012) handelt von der schönen Yang Fenfang, die auf Drängen ihrer Verwandten einen viel älteren Kader heiratet. So geht sie eine Ehe ein, von der sie sich ein besseres Leben verspricht, obwohl sie in den Nachbarsjungen verliebt ist. Sie schläft mit dem Jungen und verweigert sich ihrem Mann. Als ihr Mann sie erniedrigt und vergewaltigt, verteidigt ihr Liebhaber sie mit dem Messer. Das gilt als Mordversuch. Der Junge, der wegen seines „schlechten Klassenhintergrunds“ nicht auf Milde hoffen kann, wird zum Tode verurteilt. Yang Fenfang erhält zwanzig Jahre Haft.
Zu den Nebenfiguren, die in allen drei Romanen erscheinen, zählen Chen Huilian, die von der eigenen Tochter verraten und ins Gefängnis geschickt wurde. Sie sagt dazu „Menschen, die keinen Glauben haben, sind zu allem fähig.“ Schwer krank und müde nimmt sie sich das Leben. Vor ihrem Tod vermacht sie Zhang Yuhe ihre persönlichen Schätze: schöne weiße Stoffe und als Wertvollstes zwei Schachteln mit getrockneten Maisbrötchenscheiben. Eine der Nebenfiguren ist die Christin Jiang Qidan, die es wagt, die Unmenschlichkeit im Lager anzuprangern. Im zweiten Buch steckt sie Zhang Yuhe heimlich ein selbstgemachtes Blechkreuz zu, als diese auf der Krankenstation ist, weil sie die körperliche Züchtigung einer Mitgefangenen nicht mitansehen kann und in Ohnmacht gefallen ist. Diese Geste ist für Zhang Yuhe ein großer Trost.
Mit einem Brief, den Zou Jintu aus dem Gefängnis an Zhang Yuhe schreibt, beginnt der Rückblick auf die Umstände, unter denen die Frau namens Zou zur Strafgefangenen wurde.
Zou Jintu, Tochter einen Apothekers und Grundbesitzers, die in behüteten Verhältnissen aufwächst, hat eine enge Beziehung zum Haus- und Kindermädchen Liu Jiu. Liu Jiu ist mehr als nur eine wichtige Stütze der Familie: Sie hat eine, vom Vater gleichmütig tolerierte, homoerotische Beziehung zur Mutter des Mädchens.
Die Situation der Familie verschlechtert sich abrupt, als nach der kommunistischen Machtübernahme der größte Teil ihres ländlichen Grundbesitzes enteignet und die Apotheke verstaatlicht wird. Zudem wird der Vater im Verlauf einer politischen Kampagne wegen Korruption verhaftet. Nach der Haftentlassung psychisch und physisch ruiniert, wendet er sich auf dem Sterbebett an Liu Jiu und bittet sie, die Verantwortung für seine Familie zu übernehmen.
Die beiden Frauen ziehen wenig später als Paar mit Zou Jintu auf ihren ehemaligen Landbesitz, der nun einer Volkskommune gehört. Die Familie bekommt die Aufgabe, den Pflugochsen der Kommune zu hüten. Die wirtschaftliche Lage wird immer schwieriger, Mensch und Tier leiden Hunger, und der alte Pflugochse erkrankt und verendet. Zou Jintu nimmt dafür die Verantwortung auf sich. Als „Tochter eines reichen Bauern“ (so ihre offizielle Klassenzugehörigkeit) zählt sie zu den Feinden, gegen die Mao gerade wieder den Kampf verschärft hat. So wird sie in einem Schauprozess der Sabotage beschuldigt, als Klassenfeindin zu 20 Jahren Haft verurteilt und ins Arbeitslager M. verschickt.
Dort begegnen sich Zhang Yuhe und Zou Jintu. „Zou Jintu wirkte auf alle sehr ungewöhnlich: Sie war kräftig wie ein Mann und dabei geschickter als alle anderen Frauen. Auf dem Weg zur Arbeit ging sie an der Spitze. Mit riesigen Schritten, doppelt so lang wie die der anderen Frauen. Auf dem Rückweg von der Arbeit marschierte sie immer noch vorne weg. Die anderen waren völlig erschöpft, aber sie war frisch und munter.“ Besonders ist Zhang Yuhe von Zou Jintus Stickkünsten fasziniert. Doch die Gruppenleiterin warnt sie: „Nimmt dich vor ihr in Acht. Sie ist wie eine Nadel, wenn sie dich erst einmal auffädelt hat, lässt sie dir keine Ruhe mehr.“ Zhang Yuhe spricht aus, was die Gruppenleiterin nur andeutet: „Sie ist wohl lesbisch, oder?“
Einige Zeit später muss Zhang Yuhe mitten in der Nacht an einer Kampfversammlung teilnehmen. Zou Jintu und ihre Freundin Huang Junshu erhalten vor allen Gefangenen eine Strafe, die eigens für zwei Frauen oder zwei Männer vorgesehen ist, die bei Intimitäten erwischt werden. Die Mandarin-Ente ist in China das Symbol des trauten Ehelebens. Bei der „Mandarin-Entenfessel“ werden die Gefolterten Rücken an Rücken so eng aneinander gefesselt, dass Hände und Beine blau anlaufen.
Immer wieder taucht Zou Jintu in Krisensituationen auf und hilft Zhang Yuhe. So im Herbst, als die Gefangenen das Dornengestrüpp auf der Hochebene wegschneiden müssen. Als Neuling im Arbeitslager muss Zhang Yuhe mit einer stumpfen Sichel gegen das Gestrüpp ankämpfen. Zou Jintu aber wirft ihr heimlich ihre eigene, scharfe Sichel zu und erleichtert ihr diese verhasste, unendlich mühsame Arbeit.
Die Frauen kommen sich langsam näher. Als Zhang Yuhe einmal nachts unter Bauchkrämpfen leidet, schlüpft Zou Jintu zu ihr ins Bett. Zhang Yuhe sieht zuerst eine Hand unterm Moskitonetz, die einen weißen Seidenfaden hält. Das Seidengarn hat Zhang Yuhe für Zou Jintu aus der Kreisstadt mitgebracht und ihr heimlich geschenkt. Solche Gesten unter den Gefangenen sind eigentlich verboten. Zou Jintu kniet sich hinter Zhang Yuhe aufs Bett, umfasst sie mit den Armen und ist so eine Stütze für Zhang Yuhe. Durch eine Bauchmassage lindert Zou Jintu ihre Schmerzen. Vor Anstrengung rinnt Zou Jintu der Schweiß über das Gesicht. „Zhang Yuhe konnte das Gefühl der tiefen Dankbarkeit und des brennenden Mitleids, das in ihrem Herzen verschlossen war, nicht zurückhalten. Sie drückte ihr tränenüberströmtes Gesicht an das von Schweißperlen bedeckte Gesicht Zou Jintus. Alles wurde leise und erstarrte, es gab nur noch den Herzschlag des anderen.“
Als Zhang Yuhe mit einem Trupp Gefangener Baumstämme über einen Berg schleppen soll, steht sie Todesängste aus. Die Stämme sind auf dem Rücken festgezurrt, sodass ein einziger Fehltritt den Tod bedeuten kann. Auch hier hilft ihr Zou Jintu. In dieser Extremsituation wirft sich Zhang Yuhe voller Lebenshunger in Zou Jintus Arme. So wir der leidenschaftliche Liebesakt zur Schlüsselszene: „Die anfängliche Scham und der Hass wurden langsam undeutlich, lösten sich auf. Menschen fürchten nichts mehr als ohne Liebe zu sein“.
Die Unterdrückung von Sexualität, Zuneigung, Mitgefühl, Menschlichkeit und Solidarität ist das große Thema des Romans. „Lebt man unter äußerst niederdrückenden Umständen“, heißt es dazu, „dann sind alle Gefühle zerbrechlich, abnormal und auch extrem.“ Extrem ist dann der Gefühlsausbruch, in dem Zhang Yuhe vor ihrer Entlassung aus dem Umerziehungslager ihre Dankesschuld gegenüber Zou Jintu zu erkennen gibt. Sie nimmt Zou Jintus Sichel, schneidet sich vor den Augen der Mitgefangenen in den Arm und ruft: „Zou Jintu, in Zhang Yuhes Adern fließt auch Blut.“
Der Hunger ist eine der schlimmen Plagen im Arbeitslager. Als Zhang Yuhe von der Leitung des Arbeitslagers zu Besorgungen in die Kreistadt geschickt wird, nützt sie die Gelegenheit sich in einem Restaurant satt zu essen. Wie in einem Rausch bestellt sie eine Unzahl von Gerichten:
Essen, was man essen möchte. Die Erfüllung dieses menschlichen Urbedürfnisses machte Zhang Yuhe zufrieden. Diese Gelegenheit gab es so einfach nicht, und sie wußte nicht, wann es sie wieder gäbe. Früher waren die Schulnoten von großer Wichtigkeit, jetzt versetzte sie ein voller Magen in große Freude, früher litt sie unter der geringsten Kritik ihres Lehrers und nun freute sie sich über ein Spiegelei. Was war der Mensch doch für ein pragmatisches „Wesen“! Diese Essen konnte durchaus ihr „letztes Abendmahl“ sein. Zhang Yuhe war aller Anstand egal, auch was ihr Magen und Darm ihr sagten: Wieviel konnte ihr Bauch fassen? Wieviel konnte sie noch essen? Sie aß und aß, aß weiter, schlang herunter. Bis sie nicht mehr essen wollte. Als sie noch einen Teller gebratenen Reis bestellte, kamen alle Kellner angelaufen, um mit eigenen Augen die Frau zu sehen, die sich bis zum Platzen von Magen und Darm zu Tode fraß.
Auch nachdem Zhang Yuhe entlassen wird, bleibt sie dem Lager verhaftet. Sie begnügt sich freiwillig mit einem Drei-Ohne-Zimmer (ohne Toilette, ohne Küche, ohne Sonnenlicht) im Wohnheim ihrer Arbeitseinheit und freundet sich, weil im Lager Beziehungen zum Küchenpersonal sehr nützlich sind, mit der Küchenhilfe an, die in der Kantine das Essen austeilt.
In den beschreibenden Passagen gebraucht Zhang Yihe im schroffen Kontrast zur Vulgärsprache des Lagers eine von der chinesischen Hochliteratur beeinflusste Schriftsprache. Fast jedes Kapitel endet mit einem kurzen, poetischen Satz, der wie der Schlussakkord eines Musikstücks wirkt. So heißt es am Ende des Kapitel, in dem der Vater der Erzählerin verstirbt: „Sein Körper war schneeweiß und er schwebte heim.“ Und am Ende des Romans, als Zou Jintu das Grab ihres Vaters besucht, neben dem auch auf wundersame Weise ihre Mutter begraben ist, lautet der letzte Satz: „Der Himmel wurde blau, die Erde war still, die Bäume in der Ferne warfen keine Schatten.“
Die Autorin greift oft auf Opernmotive zurück. So erinnert ihre Darstellung der Zou Jintu und ihres Kindermädchens an die klassische Konstellation vom Fräulein und der Zofe aus dem aristokratischen Haushalt. Von der Oper beeinflusst sind auch die sexuellen Anspielungen.
Zhang Yihe hat am chinesischen Operninstitut studiert, später wurde sie an die Sichuan-Operntruppe versetzt. Nach ihrer Haftentlassung arbeitete sie in einer für die Oper zuständigen Abteilung des Kulturamtes der Provinz Sichuan und dann bis zur ihrer Pensionierung am Institut für chinesische Oper an der chinesischen Kunstakademie. Zhang Yihe in Gestalt der Zhang Yuhe erzählt: „Ich interessiere mich sehr für die Fälle der Mithäftlinge. Bevor ich ins Gefängnis kam, habe ich mich mit der Oper beschäftigt. Die Rechtsfälle sind nichts anderes als eine Oper. Alle sozialen Konflikte, finanzielle Probleme in der Familie und persönliche Gefühle finden sich dort wieder. Wenn diese sich ins Extrem entwickeln, kommt es zum Verbrechen.“
Sie habe, sagt Zhang Yihe in einem Interview mit der Wochenzeitung Nanfang Zhoumo, die Sprache der Gefangenen im Roman stark verändert. In der Realität sei die Sprache noch rauer gewesen. Diese Rauheit fände sich noch am ehesten in der Ausdrucksweise der Yi Fengzhu. So auf der Kampfversammlung, als Zou Jintu und ihre Freundin sich ausziehen sollen: „Dann können wir sehen, ob die stinkenden Mösen der beiden Weiber schon vom Reiben Hornhaut gekriegt haben.“ Die wohlerzogene Zhang Yuehe geht sogar zu ihr in die Schule, um das Fluchen zu lernen und erst nach langem Üben kommt ihr ein „Fick Deine Mutter!“ über die Lippen.
Im Unterschied zu den ersten beiden Bänden darf „Eine Frau namens Zou“ nicht in China erscheinen. Grund dafür sind wohl nicht die Passsagen über die Homosexualität, die zu den noch immer unerwünschten, aber nicht mehr verbotenen Themen gehört. Seit 1997 gelten homosexuelle Handlungen nicht mehr als Straftat, 2001 wurde Homosexualität von der Liste der Geisteskrankheiten gestrichen. Die Formulierung der konservativen Meinung zum Thema überlässt die Autorin einem Aufseher im Männerumerziehungslager: „Die Beziehung zwischen dir und Zou Jintu bezeichnet man als Homosexualität. Das ist besonders unter den Soldaten, die umerzogen werden, verbreitet. Nicht nur Männer treiben es mit Männern, sondern auch Menschen mit Tieren. Darüber weiß ich viel mehr als du. Das ist nichts Seltsames, so ist der Mensch! Aber du musst wissen, so was ist in unserem Land ein Verbrechen mit dem Namen Sodomie. Solchen Leuten muss der Schandhut aufgesetzt werden, und man nennt sie üble Elemente. Kurzum, das muss strikt unterbunden und bekämpft werden.“
Im Nachwort zur Frau namens Zou erzählt Zhang Yihe, dass sie schon früh mit dem Thema „Homosexualität“ in Berührung gekommen ist, zuerst durch ein lesbischen Paar, dass in ihrer Nachbarschaft lebte und dessen Geschichte sehr an die Beziehung zwischen Zou Jintus Mutter und dem Hausmädchen erinnert. Vor allem aber durch ihre Beschäftigung mit der chinesischen Oper, in der für gewöhnlich Männer die Frauenrollen übernahmen, wird sie mit dem Thema vertraut. So forscht sie über die Tangzi 堂子, die Gemeinschaftsunterkünfte der Opernschüler, die in der Qingzeit auch Vergnügungsstätten waren. Die jungen, oft sehr femininen Operneleven sangen dort für die männlichen Gäste. Umgangssprachlich bekam das Wort „Tangzi“ nicht ohne Grund die Nebenbedeutung „Bordell“. Gegen Ende der Kaiserzeit freilich wurde die Institution reformiert und die künstlerische Ausbildung gefördert. Berühmte Operndarsteller wie Mei Lanfeng erhielten in den Tangzi ihre Ausbildung.
Zhang Yihe zitiert in ihrem Nachwort die Begründerin der Sexualwissenschaft in China, Li Yinghe: „Wenn es in unserem Leben Dinge gibt, die wir überhaupt nicht verstehen können, dann liegt es daran, dass wir nichts darüber wissen. Der Grund dafür ist, dass wir nicht wirklich etwas darüber wissen wollen. So wußten wir zum Beispiel früher nichts von der Existenz von Homosexualität, weil wir heterosexuell sind. Wir verstehen nicht, warum die Menschen auf dem Land unbedingt viele Kinder haben möchten, weil wir Städter sind. Anthropologie und Soziologie aber geben uns nun Auskunft. Wenn wir etwas wissen wollen, so können wir es wissen.“
Für die Zensoren, die den dritten Bandes verboten, war wohl entscheidend, dass es sich bei der Hauptfigur um eine politische Gefangene handelt. Die Hauptfiguren der vorherigen Romane waren wegen Gewaltverbrechen ins Lager gekommen. Dagegen wird Zhang Yuhe als Dissidentin verurteilt. Auch Zou Jintu wurde Opfer einer politischen Kampagne. Eine andere Figur ist Christin und wurde als ausländische Spionin gebrandmarkt.
Unerwünscht ist der Roman vor allem deswegen, weil er vom Machtmissbrauch, der Korruption und der Willkür im Arbeitslager erzählt. Eine der Aufseherinnen, die zu Hause schöner wohnen will, setzt die Frauen zum Holzfällen ein und lässt von den Männern in einem anderen Lager aus den Edelhölzern Möbel schreinern. Alles natürlich unentgeltlich. Zhang Yuhe, deren Mutter eine bekannte Ärztin ist, wird von einer Aufseherin erpresst: Sie soll eine Behandlung für den Mann der Aufseherin organisieren, ansonsten wird ihre Affäre mit Zou Jintu bekannt gemacht, sodass auch ihr auch die Mandarin-Entenfessel droht.
Die Lageraufseher wissen ihre kleinen Vorteile zu nutzen. Wirklich gut aber verdient der Sicherheitsapparat, der mit den Häftlingen über ein Heer von nur nominell bezahlten Zwangsarbeitern gebietet. Der Apparat hat also nicht nur ein Interesse daran alle widerständigen Elemente und die Feinde der etablierten Ordnung ohne den lästigen Umweg über ein Gerichsverfahren festzusetzen. Mehr noch sind es die Profitinteressen, die alle Bestrebungen die Adminstrativhaft (Haft ohne Gerichtsbeschluss) abzuschaffen, scheitern lassen.
Der Roman erschien im April dieses Jahres in Hongkong und wird, wie andere verbotene Texte zuvor, in der Volksrepublik viele Leser finden. Er ist somit auch ein Beitrag zur gegenwärtigen Debatte um die Arbeitslager. Zwar gibt es seit 2001 keine „Anstalten zur Umerziehung durch Arbeit“ mehr, aber eine auf vier Jahre begrenzte Administrativhaft besteht unter dem Namen „Erziehung durch Arbeit“ (laojiao 劳教) weiter. Nach einem unlängst gefassten Parteitagsbeschluss soll nun auch das Laojiao-System abgeschafft werden. Ob die vom Sicherheitsapparat so hochgeschätzte Administrativhaft künftig einfach unter neuem Namen weitergeführt wird, bleibt abzuwarten. Vielleicht greift die Reform wirklich. In dem angekündigten vierten Band ihres Romanwerkes über die Lagerwelt würde Zhang Yihe dann einen historischen Stoff behandeln. Ihr und ihrem Land wäre das zu wünschen.
章诒和:邹氏女。牛津大學出版社, Hongkong 2013.
Berlin, im November 2013 © 2013 Amanda Kwan & Ulrich Neininger (u.neininger@hotmail.com)
- In einem Interview mit der Nanfang Zhoumo (南方周末 26.05.2011) antwortet Zhang Yihe auf die Fragen nach Wahrheit und Erfindung in ihrem Roman, das reale Leben sei schon so ungewöhnlich und so voller Verwicklungen, dass man nicht viel dazu erfinden müsse. ↩