Zhang Yihe 章诒和: Eine Frau namens Zou 邹氏女

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(Amanda Kwan & Ulrich Neininger, Rezensionen chinesischer Literatur). Nach den Romanen Eine Frau namens Liu und Eine Frau namens Yang hat die chinesische Autorin Zhang Yihe nun den dritten Band eines vierbändigen Werkes fertiggestellt, das von Frauen im Arbeitslager handelt. Der Roman Eine Frau namens Zou erzählt aus der Sicht der Gefangenen Zhang Yuhe von der Beziehung zweier Frauen unter den Bedingungen des Lagerlebens.

Zhang Yihe ist als Verfasserin autobiographischer und biographischer Schriften bekannt geworden. Autobiographisch sind nun auch ihre Romane, wie schon der wenig verfremdete Name – Zhang Yuhe – erkennen lässt. Zhang Yuhe ist wie  Zhang Yihe zur Umerziehung verurteilt worden, weil sie sich über die Modellopern lustig gemacht hatte, die von Jiang Qing, der  Ehefrau des Vorsitzenden Mao, auf die Bühne gebracht worden sind. Auch sonst stimmt der Lebenslauf der Autorin in vielen Einzelheiten mit dem ihrer Romanfigur überein.1

Die Lager zur „Umerziehung durch Arbeit“ (laogai 劳改) wurden in den fünfziger Jahren errichtet, um „Konterrevolutionäre“ zu läutern. Die ersten Gefangenen waren Kleinkriminelle, Prostituierte, Vagabunden und sonstige Individuen, die sich nicht in die wohlorganisierte, sozialistische Ordnung fügten. Bald waren es vor allem politische Gefangene, die als „Rechtsabweichler“ (youpai 右派) die Lager füllten. Den Titel „Rechtsabweichler Nr. 1“ trug Zhang Bojun, ein Minister im Kabinett Maos, der 1957 ein Mehrparteiensystem mit demokratischen Wahlen forderte. Zhang Yihe ist die Tochter des 1969 verstorbenen Politikers.

1970, während der Kulturrevolution, kam Zhang Yihe als konterrevolutionäres Element ins Arbeitslager, wo sie bis 1979 blieb.  In dieser Zeit gab es keine formalen Gerichtsverfahren. So wurden Gefangene aus den unterschiedlichsten Gründen durch Beschlüsse der „Volksmassen“ zur Umerziehung durch Arbeit verurteilt. Gewaltverbrecher fanden sich nun ebenso wie politisch missliebige Personen in den Lagern. Für alle galten die gleichen harten Regeln, die unter anderem vorschreiben, dass die Gefangenen nicht miteinander reden dürfen. Im ersten Band (Eine Frau namens Liu 刘氏女。广西示范大学出版社, Guilin 2011) berichtet die Erzählerin, wie sie dieses strikte Verbot durchbrechen konnte. Die Frauen müssen immer wieder erneut ihre Verbrechen bekennen. Da sie aber meist zu ungebildet sind, einen Text selbständig abzufassen, wird die gebildete Zhang Yuhe abkommandiert, ihnen beim Schreiben der Bekenntnisse zu helfen. So hilft sie der Frau namens Liu aufzuschreiben, wie sie ihren Ehemann ermordet und die Leiche zerlegt und eingepökelt hat. Die Geschichten, die Zhang Yuhe erfährt, erscheinen ihr wie die Handlung eines Theaterstücks, die unweigerlich auf ein Verbrechen zutreibt.

Das zweite Buch (Eine Frau names Yang 杨氏女。广西示范大学出版社, Guilin 2012) handelt von der schönen Yang Fenfang, die auf Drängen ihrer Verwandten einen viel älteren Kader heiratet. So geht sie eine Ehe ein, von der sie sich ein besseres Leben verspricht, obwohl sie in den Nachbarsjungen verliebt ist. Sie schläft mit dem Jungen und verweigert sich ihrem Mann. Als ihr Mann sie erniedrigt und vergewaltigt, verteidigt ihr Liebhaber sie mit dem Messer. Das gilt als Mordversuch. Der Junge, der wegen seines „schlechten Klassenhintergrunds“ nicht auf Milde hoffen kann, wird zum Tode verurteilt.  Yang Fenfang erhält zwanzig Jahre Haft.

Zu den Nebenfiguren, die in allen drei Romanen erscheinen, zählen Chen Huilian, die von  der eigenen Tochter verraten und ins Gefängnis geschickt wurde. Sie sagt dazu „Menschen, die keinen Glauben haben, sind zu allem fähig.“ Schwer krank und müde nimmt sie sich das Leben. Vor ihrem Tod vermacht sie Zhang Yuhe ihre persönlichen Schätze: schöne weiße Stoffe und als Wertvollstes zwei Schachteln mit getrockneten Maisbrötchenscheiben. Eine der Nebenfiguren ist die Christin Jiang Qidan, die es wagt, die  Unmenschlichkeit im Lager anzuprangern. Im zweiten Buch  steckt sie Zhang Yuhe heimlich ein selbstgemachtes Blechkreuz zu, als diese auf der Krankenstation ist, weil sie die körperliche Züchtigung einer Mitgefangenen nicht mitansehen kann und in Ohnmacht gefallen ist. Diese Geste ist für Zhang Yuhe ein großer Trost.

Mit einem Brief, den Zou Jintu aus dem Gefängnis an Zhang Yuhe schreibt, beginnt der Rückblick auf die Umstände, unter denen die Frau namens Zou zur Strafgefangenen wurde.

Zou Jintu, Tochter einen Apothekers und Grundbesitzers, die in behüteten Verhältnissen aufwächst, hat eine enge Beziehung zum Haus- und Kindermädchen Liu Jiu. Liu Jiu  ist mehr als nur eine wichtige Stütze der Familie: Sie hat eine, vom Vater gleichmütig tolerierte, homoerotische Beziehung zur Mutter des Mädchens.

Die Situation der Familie verschlechtert sich abrupt, als nach der kommunistischen Machtübernahme der größte Teil ihres ländlichen Grundbesitzes enteignet und die Apotheke verstaatlicht wird. Zudem wird der Vater im Verlauf einer politischen Kampagne wegen Korruption verhaftet. Nach der Haftentlassung psychisch und physisch ruiniert, wendet er sich auf dem Sterbebett an Liu Jiu und bittet sie, die Verantwortung für seine Familie zu übernehmen.

Die beiden Frauen ziehen wenig später als Paar mit Zou Jintu auf ihren ehemaligen Landbesitz, der nun einer Volkskommune gehört. Die Familie bekommt die Aufgabe, den Pflugochsen der Kommune zu hüten. Die wirtschaftliche Lage wird immer schwieriger, Mensch und Tier leiden Hunger, und der alte Pflugochse erkrankt und verendet. Zou Jintu nimmt dafür die Verantwortung auf sich. Als „Tochter eines reichen Bauern“ (so ihre offizielle Klassenzugehörigkeit) zählt sie zu den Feinden, gegen die Mao gerade wieder den Kampf verschärft hat. So wird sie in einem Schauprozess der Sabotage beschuldigt, als Klassenfeindin zu 20 Jahren Haft verurteilt und ins Arbeitslager M. verschickt.

Dort begegnen  sich  Zhang Yuhe und Zou Jintu.  „Zou Jintu wirkte auf alle sehr ungewöhnlich: Sie war kräftig wie ein Mann und dabei  geschickter als alle anderen Frauen. Auf dem Weg zur Arbeit ging sie an der Spitze. Mit riesigen Schritten, doppelt so lang wie die der anderen Frauen. Auf dem Rückweg von der Arbeit marschierte sie immer noch vorne weg. Die anderen waren völlig erschöpft, aber sie war frisch und munter.“  Besonders ist Zhang Yuhe von Zou Jintus Stickkünsten fasziniert. Doch die Gruppenleiterin warnt sie: „Nimmt dich vor ihr in Acht. Sie ist wie eine Nadel, wenn sie dich erst einmal auffädelt hat, lässt sie dir keine Ruhe mehr.“ Zhang Yuhe spricht aus, was die Gruppenleiterin nur andeutet: „Sie ist wohl lesbisch, oder?“

Einige Zeit später muss Zhang Yuhe mitten in der Nacht an einer Kampfversammlung teilnehmen.  Zou Jintu und ihre Freundin Huang Junshu erhalten vor allen Gefangenen eine Strafe, die eigens für zwei Frauen oder zwei Männer vorgesehen ist, die bei Intimitäten erwischt werden. Die Mandarin-Ente ist in China das Symbol des trauten Ehelebens. Bei der „Mandarin-Entenfessel“ werden die Gefolterten Rücken an Rücken so eng aneinander gefesselt, dass Hände und Beine blau anlaufen.

Immer wieder  taucht Zou Jintu in Krisensituationen auf und hilft Zhang Yuhe. So im Herbst, als  die Gefangenen das Dornengestrüpp auf der Hochebene wegschneiden müssen. Als Neuling im Arbeitslager muss  Zhang Yuhe mit einer stumpfen Sichel gegen das Gestrüpp ankämpfen. Zou Jintu aber wirft ihr heimlich ihre eigene, scharfe Sichel zu und erleichtert ihr diese verhasste, unendlich mühsame Arbeit.

Die Frauen kommen sich langsam näher. Als Zhang Yuhe einmal nachts unter Bauchkrämpfen leidet,  schlüpft Zou Jintu zu ihr ins Bett. Zhang Yuhe sieht zuerst  eine Hand unterm Moskitonetz, die einen weißen Seidenfaden hält. Das Seidengarn hat Zhang Yuhe für Zou Jintu aus der Kreisstadt mitgebracht und ihr heimlich geschenkt. Solche Gesten unter den Gefangenen sind eigentlich verboten. Zou Jintu kniet sich hinter Zhang Yuhe aufs Bett, umfasst sie mit den Armen und ist so eine Stütze für Zhang Yuhe. Durch eine Bauchmassage lindert Zou Jintu ihre Schmerzen. Vor Anstrengung rinnt Zou Jintu der Schweiß über das Gesicht. „Zhang Yuhe konnte das Gefühl der tiefen Dankbarkeit und des brennenden Mitleids, das in ihrem Herzen verschlossen war, nicht zurückhalten. Sie drückte ihr tränenüberströmtes Gesicht an das von Schweißperlen bedeckte Gesicht Zou Jintus. Alles wurde leise und erstarrte, es gab nur noch den Herzschlag des anderen.“

Als Zhang Yuhe mit einem Trupp Gefangener Baumstämme über einen Berg schleppen soll, steht sie Todesängste aus. Die Stämme sind auf dem Rücken festgezurrt, sodass ein einziger Fehltritt den Tod bedeuten kann. Auch hier hilft ihr Zou Jintu. In dieser Extremsituation  wirft  sich Zhang Yuhe voller Lebenshunger in Zou Jintus Arme. So wir der leidenschaftliche Liebesakt zur Schlüsselszene: „Die anfängliche Scham und der Hass wurden langsam undeutlich, lösten sich auf. Menschen fürchten nichts mehr als ohne Liebe zu sein“.

Die Unterdrückung von Sexualität, Zuneigung, Mitgefühl, Menschlichkeit und Solidarität ist das große Thema des Romans. „Lebt man unter äußerst niederdrückenden Umständen“, heißt es dazu, „dann sind alle Gefühle zerbrechlich, abnormal und auch extrem.“ Extrem ist dann der Gefühlsausbruch, in dem Zhang Yuhe vor ihrer Entlassung aus dem Umerziehungslager ihre Dankesschuld gegenüber Zou Jintu zu erkennen gibt. Sie nimmt  Zou Jintus Sichel, schneidet sich vor den Augen der Mitgefangenen in den Arm und ruft: „Zou Jintu, in Zhang Yuhes Adern fließt auch Blut.“

Der Hunger ist eine der schlimmen Plagen im Arbeitslager. Als Zhang Yuhe von der Leitung des Arbeitslagers zu Besorgungen in die Kreistadt geschickt wird, nützt sie die Gelegenheit sich in einem Restaurant satt zu essen. Wie in einem Rausch bestellt sie eine Unzahl von Gerichten:

Essen, was man essen möchte. Die Erfüllung dieses  menschlichen Urbedürfnisses machte Zhang Yuhe zufrieden. Diese Gelegenheit gab es so einfach nicht, und sie wußte nicht, wann es sie wieder gäbe. Früher waren die Schulnoten von großer Wichtigkeit, jetzt versetzte sie ein voller Magen in große Freude, früher litt sie unter der geringsten Kritik ihres Lehrers und nun freute sie sich über  ein Spiegelei. Was war der Mensch doch für ein pragmatisches „Wesen“! Diese Essen konnte durchaus ihr „letztes Abendmahl“ sein. Zhang Yuhe war aller Anstand egal, auch was ihr Magen und Darm ihr sagten: Wieviel konnte ihr Bauch fassen? Wieviel konnte sie noch essen?  Sie aß und aß, aß weiter, schlang herunter. Bis sie nicht mehr essen wollte. Als sie noch einen Teller gebratenen Reis bestellte, kamen alle Kellner angelaufen, um mit eigenen Augen die Frau zu sehen, die sich bis zum Platzen von Magen und Darm zu Tode fraß.

Auch nachdem Zhang Yuhe entlassen wird, bleibt sie dem Lager verhaftet. Sie begnügt sich freiwillig mit einem Drei-Ohne-Zimmer (ohne Toilette, ohne Küche, ohne Sonnenlicht) im Wohnheim ihrer Arbeitseinheit und freundet sich, weil im Lager Beziehungen zum Küchenpersonal sehr nützlich sind, mit der Küchenhilfe an, die in der Kantine das Essen austeilt.

In den beschreibenden Passagen gebraucht Zhang Yihe im schroffen Kontrast zur Vulgärsprache des Lagers eine von der chinesischen Hochliteratur beeinflusste Schriftsprache. Fast jedes Kapitel endet mit einem kurzen, poetischen Satz, der wie der Schlussakkord  eines Musikstücks wirkt.  So heißt es am Ende des Kapitel, in dem  der Vater der Erzählerin verstirbt: „Sein Körper war schneeweiß und  er schwebte heim.“ Und am Ende des Romans, als Zou Jintu das Grab ihres Vaters besucht, neben dem auch auf wundersame Weise ihre Mutter begraben ist, lautet der letzte Satz: „Der Himmel wurde blau, die Erde war still, die Bäume in der Ferne warfen keine Schatten.“

Die Autorin greift oft auf Opernmotive zurück. So erinnert ihre Darstellung der Zou Jintu und ihres Kindermädchens an die klassische Konstellation vom Fräulein und der Zofe aus dem aristokratischen Haushalt. Von der Oper beeinflusst sind auch die sexuellen Anspielungen.

Zhang Yihe hat am chinesischen Operninstitut studiert, später wurde sie an die Sichuan-Operntruppe versetzt. Nach ihrer Haftentlassung arbeitete sie in einer für die Oper zuständigen Abteilung des Kulturamtes der Provinz Sichuan und dann bis zur ihrer Pensionierung am Institut für chinesische Oper an der chinesischen Kunstakademie. Zhang Yihe in Gestalt der Zhang Yuhe erzählt: „Ich interessiere mich sehr für die Fälle der Mithäftlinge. Bevor ich ins Gefängnis kam, habe ich mich mit der Oper beschäftigt. Die Rechtsfälle sind nichts anderes als eine Oper.  Alle sozialen Konflikte, finanzielle Probleme in der Familie und persönliche Gefühle finden sich dort wieder. Wenn diese sich ins Extrem entwickeln, kommt es zum Verbrechen.“

Sie habe, sagt Zhang Yihe in einem Interview mit der Wochenzeitung Nanfang Zhoumo, die Sprache der Gefangenen im Roman stark verändert. In der Realität sei die Sprache noch rauer gewesen. Diese Rauheit fände sich noch am ehesten in der Ausdrucksweise der Yi Fengzhu. So auf der Kampfversammlung, als Zou Jintu und ihre Freundin sich ausziehen sollen: „Dann können wir sehen, ob die stinkenden Mösen der beiden Weiber schon vom Reiben Hornhaut gekriegt haben.“ Die wohlerzogene Zhang Yuehe geht sogar zu ihr in die Schule, um das Fluchen zu lernen und erst nach langem Üben kommt ihr  ein „Fick Deine Mutter!“ über die Lippen.

Im Unterschied zu den ersten beiden Bänden darf „Eine Frau namens Zou“ nicht in China erscheinen. Grund dafür sind wohl nicht die Passsagen über die Homosexualität, die zu den noch immer unerwünschten, aber nicht mehr verbotenen Themen gehört. Seit 1997 gelten homosexuelle Handlungen nicht mehr als Straftat, 2001 wurde Homosexualität von der Liste der Geisteskrankheiten gestrichen. Die Formulierung der konservativen Meinung zum Thema überlässt die Autorin einem Aufseher im Männerumerziehungslager: „Die Beziehung zwischen dir und Zou Jintu bezeichnet man als Homosexualität. Das ist besonders unter den Soldaten, die umerzogen werden, verbreitet. Nicht nur Männer treiben es mit Männern, sondern auch Menschen mit Tieren. Darüber weiß ich viel mehr als du. Das ist nichts Seltsames, so ist der Mensch! Aber du musst wissen, so was ist in unserem Land ein Verbrechen mit dem Namen Sodomie. Solchen Leuten  muss  der Schandhut aufgesetzt werden, und man nennt sie üble Elemente. Kurzum, das muss strikt unterbunden und bekämpft werden.“

Im Nachwort zur Frau namens Zou erzählt Zhang Yihe, dass sie schon früh mit dem Thema „Homosexualität“ in Berührung gekommen ist, zuerst durch ein lesbischen Paar, dass in ihrer Nachbarschaft lebte und dessen Geschichte sehr an die Beziehung zwischen Zou Jintus Mutter und dem Hausmädchen erinnert. Vor allem aber durch ihre Beschäftigung mit der chinesischen Oper, in der für gewöhnlich Männer die Frauenrollen übernahmen, wird sie mit dem Thema vertraut. So forscht sie über die Tangzi 堂子, die Gemeinschaftsunterkünfte der Opernschüler, die in der Qingzeit auch Vergnügungsstätten waren.  Die jungen, oft sehr femininen Operneleven sangen dort für die männlichen Gäste. Umgangssprachlich bekam das Wort „Tangzi“ nicht ohne Grund die Nebenbedeutung „Bordell“. Gegen Ende der Kaiserzeit freilich wurde die Institution reformiert und die künstlerische Ausbildung gefördert. Berühmte Operndarsteller wie Mei Lanfeng erhielten in den Tangzi ihre Ausbildung.

Zhang Yihe zitiert in ihrem Nachwort die Begründerin der Sexualwissenschaft in China, Li Yinghe: „Wenn es in unserem Leben Dinge gibt, die wir überhaupt nicht verstehen können, dann liegt es daran, dass wir nichts darüber wissen. Der Grund dafür ist, dass wir nicht wirklich etwas  darüber wissen wollen. So wußten wir zum Beispiel früher nichts von der Existenz von Homosexualität, weil wir heterosexuell sind. Wir verstehen nicht, warum die Menschen auf dem Land unbedingt viele Kinder haben möchten, weil wir Städter sind. Anthropologie und Soziologie aber geben uns nun Auskunft. Wenn wir etwas wissen wollen, so können wir es wissen.“

Für die Zensoren, die den dritten Bandes verboten, war wohl entscheidend, dass es sich bei der Hauptfigur um eine politische Gefangene handelt. Die Hauptfiguren der vorherigen Romane waren wegen Gewaltverbrechen ins Lager gekommen. Dagegen wird Zhang Yuhe als Dissidentin verurteilt.  Auch Zou Jintu wurde Opfer einer politischen Kampagne. Eine andere Figur ist Christin und wurde als ausländische Spionin gebrandmarkt.

Unerwünscht ist der Roman vor allem deswegen, weil er vom  Machtmissbrauch, der Korruption und der Willkür im Arbeitslager erzählt. Eine der Aufseherinnen, die zu Hause  schöner wohnen will, setzt die Frauen zum Holzfällen ein und lässt von den Männern in einem anderen Lager aus den Edelhölzern Möbel schreinern. Alles natürlich unentgeltlich. Zhang Yuhe, deren Mutter eine bekannte Ärztin ist, wird von einer Aufseherin erpresst: Sie soll eine Behandlung für den Mann der Aufseherin organisieren, ansonsten wird ihre Affäre mit Zou Jintu bekannt gemacht, sodass auch ihr auch die Mandarin-Entenfessel droht.

Die Lageraufseher wissen ihre kleinen Vorteile zu nutzen. Wirklich gut aber verdient der Sicherheits­apparat, der mit den Häftlingen über ein Heer von nur nominell bezahlten Zwangsarbeitern gebietet. Der Apparat hat also nicht nur ein Interesse daran alle widerständigen Elemente und die Feinde der etablierten Ordnung ohne den lästigen Umweg über ein Gerichsverfahren festzusetzen. Mehr noch sind es die Profitinteressen, die alle Bestrebungen die Adminstrativhaft (Haft ohne Gerichtsbeschluss) abzuschaffen, scheitern lassen.

Der Roman erschien im April dieses Jahres in Hongkong und wird, wie andere verbotene Texte zuvor, in der Volksrepublik viele Leser finden. Er ist somit auch ein Beitrag zur gegenwärtigen Debatte um die Arbeitslager. Zwar gibt es seit 2001 keine „Anstalten zur Umerziehung durch Arbeit“ mehr, aber eine auf vier Jahre begrenzte Administrativhaft besteht unter dem Namen „Erziehung durch Arbeit“ (laojiao 劳教) weiter. Nach einem unlängst gefassten Parteitagsbeschluss soll nun auch das Laojiao-System abgeschafft werden. Ob die vom Sicherheitsapparat so hochgeschätzte Administrativhaft künftig einfach unter neuem Namen weitergeführt wird, bleibt abzuwarten. Vielleicht greift die Reform wirklich. In dem angekündigten vierten Band ihres Romanwerkes über die Lagerwelt würde Zhang Yihe dann einen historischen Stoff behandeln. Ihr und ihrem Land wäre das zu wünschen.

章诒和:邹氏女。牛津大學出版社,  Hongkong 2013.

Berlin, im November 2013      © 2013 Amanda Kwan & Ulrich Neininger (u.neininger@hotmail.com)

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Der Fall der Familie Lü. Politik und Kolportage in der Kaiserstadt Chang’an zu Beginn der Han-Zeit

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Summary: The „Lü turmoil“ 諸呂之亂 became famous as an attempt by the Lü family, masterminded by the Empress Dowager Lü, to usurp the Han-Empire and to destroy the Liu family. But contrary to popular belief, the Lü’s did their best to protect the legitimate line of the House of Liu. However they proved to be incapable, they failed and finally were massacred in a coup staged by the corrupt chancellor Chen Ping. Chen Ping had been an enemy of the Empress Dowager’s younger sister, who he feared might kill him. The Empress Dowager protected him and once had even hidden him in her palace. Expecting the death of his protectress he allied with the disgruntled general Zhou Bo, and with Liu Zhang, the brother of the ambitious king of Qi. After the Empress Dowager had died, the three conspirators induced the weak and credulous nephews of the deceased empress to transfer the command of the imperial army to Zhou Bo. As soon as they were in command, the conspirators exterminated the whole Lü family. But they did not dare to execute the emperor Hong and his three brothers, although the young emperor, as grandson of the Empress Dowager, could become an avenger of his killed relatives. It was dangerous for the conspirators to keep him alive, and it was also dangerous to kill him, as he was the rightful ruler. Chen Ping and Zhou Bo now offered the imperial crown to Liu Heng, the son of an imperial concubine, but involved him in the task „to clean the palace“ (qinggong 清宫). With the new Emperor Wen as an accomplice, all murderers were safe from prosecution. The conspirators have proven successful in presenting the murder of the legitimate Liu emperor, his brothers and the Lü family as a rescue of the Imperial House of Liu – a twist that was followed willingly by the Confucian historiographers.

 

Der zerstückelte und per Kurier versandte General: Wie die Kaiserin Lü in Verruf kam und ihr Gemahl es zum Heiligen brachte

Die Kaiserin Lü hatte als junges Mädchen den revoltierenden Amtsbüttel Liu Ji geheiratet, der vom Bandenführer zum König aufstieg, sich China unterwarf und (207 v. Chr.) die vierhundert Jahre währende Kaiserdynastie der Han gründete. So brachte es Liu Ji unter dem Namen Han Gaozu zum geehrten Ahnherrn der Dynastie. Aber auch die Kaiserin Lü erhielt einen Platz in der Geschichte zugewiesen – als Schreckgestalt diente sie nicht allein den Konfuzianern zur Belehrung. Bis heute gilt sie in der Volkskultur und in der Geschichtsschreibung gleichermaßen als eine Inkarnation des Bösen.

Die Herrschaft der Kaiserin Lü umfasst zwei Abschnitte: Die Zeit, in der sie sich die Macht mit ihrem Mann teilte und dann die Jahre, in denen sie im Namen ihres Sohnes, des Kaisers Hui, und später für zwei aufeinanderfolgende Kindkaiser regierte. Sie wird nun Taihou 太后 oder Gaohou 高后 genannt, Höchste oder Hohe Herrscherin – Titel, die mit dem üblichen „Kaiserinmutter“ oder „Kaiserinwitwe“ nur unzulänglich übersetzt sind.

Die Urteile der Nachwelt beruhen auf den Aufzeichnungen des Hofhistorikers Sima Qian, der ohne unmittelbarer Zeitzeuge zu sein, kundige alte Leute hatte befragen und eine Fülle von Dokumenten hatte verwerten können. Bei ihm findet sich eine Passage, die allen Verdammungen widerspricht:

„In der Zeit des Kaisers Hui und der Lü Taihou überwand das gemeine Volk die Bitternis der Streitenden Reiche. Der Herrscher und seine Beamten verhielten sich passiv, und die Taihou übernahm, während der Kaiser die Hände in den Schoß legte, die Kontrolle. Sie regierte, ohne ihre Gemächer zu verlassen und die Welt war in Frieden. Damals wurden selten Strafen verhängt und es gab auch nur wenige Verbrecher. Das Volk beschäftigte sich mit Ackerbau und hatte reichlich Kleidung und Essen.“1

Zwei Jahrhunderte später hingegen klagt Wang Fu in seinen Abhandlungen eines Einsiedlers, die Lü und ihre Verwandtschaft hätten sich wie heilige Herrscher gebärdet, seien aber doch Despoten gewesen. „Nun wurden Humanität und Rechtlichkeit hinweggefegt, Gefahr und Grausamkeit dagegen hochgehalten; Riten und Glaube wurden ausgelöscht und Arglist verbreitet. Überall im Land klagten die Leute über die Bitterkeit und wollten nur allem entfliehen. Als die Lü-Familie dann eines Tages zu Fall kam, betrauerte das niemand.“2 Dieses Bild von der Herrschaft der Lü als einer Epoche der Niedertracht und Grausamkeit, in der das Volk seufzend litt, wurde fortan weiter überliefert. Im fünften Jahrhundert war es schließlich unumstößlich: „Dann kamen die Kaiserin Lü und mit ihr Lü Lu und Lü Chan an die Macht. Sie entschieden nach eigenem Gutdünken die tausenderlei Regierungsgeschäfte, regierten vom Palast aus3, kehrten die Verhältnisse von unten nach oben und versetzten so die ganze Welt in Schrecken.“4

Sima Qian schlug seine Aufzeichnungen über die Lü Taihou zum Ärger der Konfuzianer den Kaiser­annalen zu. Sein Text wurde von Ban Gu zu großen Teilen wörtlich in die offizielle Geschichte der Han übernommen. „Die Kaiserin Lü“, schrieb Liu Xie, einer der konfu­zianischen Kritiker, „herrschte als Regentin, und Ban Gu, aber auch Sima Qian, räumten ihr ein Kapitel in den Kaiserannalen ein. Das widerspricht den Prinzipien, die in den Klassikern überliefert sind und wird den Tatsachen nicht gerecht. … Das harte Schicksal, das die Han traf, darf nicht zum Muster für alle nachfolgenden Dynastien werden.“ Beifällig zitiert Liu Xie dazu den archaischen König Wu: „Eine Henne soll nicht den Tag ankündigen!“5

Historiker mit solch gefestigten Grundsätzen werden die Herrschaft einer Frau nicht unvoreingenommen beurteilen. Das macht es interessant, die von Sima Qian überlieferten Materialien zu den Biographien der Kaiserin Lü und ihres Gemahls noch einmal zu überprüfen. Die Masse des Materials findet sich in den Kapiteln acht und neun der Aufzeichnungen.6 Im achten Kapitel, den Annalen des Han Gaozu beschreibt Sima Qian den Beginn einer Kaiserkarriere:

„Der Gaozu war ein Mensch mit großer Nase und den Gesichtszügen eines Drachen. Er trug einen schönen Bart, der Kinn und Wangen bedeckte. Am linken Oberschenkel hatte er zweiundsiebzig schwarze Male. Er war gütig, menschen­freundlich, hilfsbereit und großzügig, hatte immer große Pläne, aber keine Lust, im Geschäft seiner Familie mitzuarbeiten. Nachdem er herangewachsen war, machte er die Prüfung zum Kanzlisten und wurde Vorsteher von zehn Weilern am Si-Fluß. Die anderen Kanzlisten behandelte er mit Verachtung. Er liebte den Schnaps und die Weiber und ging oft zu Mutter Wang oder zur alten Frau Wu, wo er anschreiben ließ, was er trank. War er dann betrunken eingeschlafen, sahen Mutter Wang und die alte Frau Wu stets einen Drachen über ihm schweben – ein Wunder. Jedesmal wenn der Gaozu zu Gast war, vervielfachte sich der Schnapsumsatz. In Anbetracht der Wunder wurden ihm in beiden Häusern zum Jahresende der ganze Schuldbetrag erlassen.“7

Der Gast, der es sich da auf Kosten der Mutter Wang und der alten Frau Wu gut gehen ließ, gehörte zu den verhassten „Kanzlisten“, den Li 吏,die als Amtsbüttel auf dem Land für Ordnung zu sorgen hatten und ihre Macht oft erpresserisch nutzten. Er stand ganz unten in der staatlichen Hierarchie. Sein Aufstieg begann, als er sich unter falschen Versprechungen bei einer Feier der Lü einfand, die zu den einflussreichen Familien des Landkreises Pei gehörte. Lü Zhi 呂雉, die Tochter des Hauses, war dem Landrat versprochen. Ihr Vater, der Herr von Lü, vertraute auf die Kunst der Physiognomik und ließ sich nicht beirren, als ihn jemand vor dem neuen Gast warnte: „Liu Ji macht große Worte, aber erreicht hat er nicht viel.“8 Der Herr von Lü aber erkannte, dass der Himmel mit dem jungen Mann Großes vorhatte und gab ihm Lü Zhi zur Frau.9

Kurz nach seiner Heirat erhielt Liu Ji den Befehl, einen Trupp Fronarbeiter zum Bau der Grab­anlage des Ersten Kaisers von Qin (Qin Shihuang) zu überstellen. Als einige Arbeiter flüchteten, drohte ihm als dem verantwortlichen Amtsbüttel die Todesstrafe. So versteckte er sich in den Sümpfen und gründete mit den Flüchtlingen eine kleine Bande, die von der Wegelagerei lebte.

Die Ehefrau ging nun nun sogleich daran, ihrem Mann in seinem Versteck eine Aura zu verschaffen, die ihn von gewöhnlichen Bandenführern unterschied. Wenn sie ihn in der Einöde aufsuchte, fand sie ihren Mann zu dessen Verwunderung immer sofort. Sie schaue einfach nach den Wolken, erklärte sie ihm. „Es war eine rote Wolke, die ganz hoch oben, östlich der Berge den Himmelssohn anzeigte.“10 Derart auserwählt, legitimierte sich Liu Ji fortan durch den Hinweis auf himmlische Zeichen. Für den Anfang trieb ihm die Geschichte von der Wunderwolke in Scharen Abenteurer zu, die auf der Suche nach einem Führer waren. Als seine Bande schon fast hundert Mann zählte, erschütterte ein erster Aufstand das Reich der Qin. In der Kreisstadt Feng wurde der Landrat, als er zögerte sich der Rebellion anzuschließen, von den Einwohnern ermordet. Die Notabeln von Feng begrüßten den Bandenführer Liu, der vor den Stadtmauern wartete: „Seit langem haben wir von den seltsamen Ereignissen und Wundern gehört, die das Auftreten des Liu Ji begleiten.“ 11 Die Propagandarbeit der Lü Zhi hatte also reiche Früchte getragen. Als Herr von Pei trat ihr Gemahl seine Herrscherkarriere an. Er war freilich nur einer unter vielen, die den Zusammenbruch der Qin nutzten. Die mächtigen Familien seien damals, berichtet Sima Qian, wie die Bienen ausgeschwärmt, um sich ihren Anteil an der Beute zu sichern. Dazu zitiert er einen der Rebellenführer: „Wer es in solcher Zeit nicht zu einem Fürstentum bringt, der ist kein wahrer Held!“12

Der unwahrscheinlichste Kandidat nutzte die Gunst der Stunde und brachte es durch Schlauheit, Gewissenlosigkeit und Kriegsglück zum Erstaunen aller Welt vom Amtsbüttel zum Kaiser. „Den Qin war ein Hirsch (鹿 lu Homonym für Glück) entflohen und jedermann beteiligte sich an der Verfolgungsjagd, bis schließlich der mit dem größten Leib und den größten Füßen den Flüchtling einholte.“13

Bei der Einweihung seines Palastes erinnerte sich der Kaiser selbst noch einmal daran, wie wenig Hoffnungen man einst in ihn gesetzt hatte. Unter dem Gelächter seines Gefolges wandte er sich an seinen Vater, um zu erzählen, wie der alte Liu ihn einst für einen Taugenichts gehalten habe, der nichts zum Wohlstand der Familie beitragen könne.14 Manchmal schien er noch selber zu staunen: Er, der Büttel Liu Ji aus dem Dorf Zhongyang, war Kaiser geworden!

Einmal bei einem Bankett forderte er seine Gefolgsleute auf, ihm frei heraus zu antworten. Warum war Xiang Yu nicht Kaiser geworden, warum er? Xiang Yu war der Feldherr, der dem aufstrebenden Bandenführer das Kommando über eine Armee übertragen und sich dann mit ihm entzweit hatte. Der Kaiser bekam eine ehrliche Antwort: „Ihr, Majestät, seid hochmütig und benehmt Euch verächtlich. Xiang Yu hingegen war freundlich und fürsorglich. Aber wenn Ihr jemand beauftragt, eine Stadt anzugreifen oder ein Gebiet zu annektieren, dann überlasst Ihr dem Angreifer die Beute und teilt so Eure Gewinne mit der ganzen Welt.“15 Er war der Bandenführer, der, besorgt um das Wohl seiner Leute, schließlich Fürstentümer und Königreiche zu vergeben hatte. So fand sich der Kaiser gut beschrieben, aber, wandte er ein, seine Generäle hätten nicht den zweiten Grund für seinen Sieg bedacht: Er habe es, im Unterschied zu Xiang Yu, verstanden, sich die richtigen Helfer zunutze zu machen. Von seiner wichtigsten Helferin spricht er dabei nicht. Und doch konnte es im Rückblick heißen: „Nachdem der Gaozu und die Kaiserin gemeinsam die Welt erobert hatten …“16

Nun besaß Liu Ji das Reich, aber seiner Herrschaft fehlte es an Legitimität. Bevor der König von Qin die feudalen Strukturen zerschlagen, das Reich geeint (221 v. Chr.) und als Erster Kaiser – Qin Shihuang – eine zentralistische Regierung eingesetzt hatte, war China von einer Vielzahl weit verzweigter Adelssippen beherrscht gewesen. Als die für die Ewigkeit gegründete Qin-Dynastie nach wenigen Jahren wieder unterging, hofften die großen alten Familien auf eine Restitution der Adelsmacht.17 Dann aber wurde einer Kaiser, unter dessen Vorfahren keine Fürsten und Könige waren und der sich einzig durch fragwürdige Himmelszeichen auswies. Freilich waren, seit die junge Frau Lü über dem Versteck ihres Gemahls die roten Wolken gesichtet hatte, noch eine Reihe Zeichen und Anzeichen der Erwähltheit hinzugekommen: Omina von der Art der schwebenden Drachen, über die sich ein Sima Qian leicht lustig machen konnte. Es waren die Konfuzianer, die schließlich die ganzen Zeichen systematisierten und damit das Erscheinen des Kaisers und seiner Dynastie kosmologisch begründeten.

Dass nun gerade die Konfuzianer zu seinen Apolegten wurden, gehört zu den überraschenden Wendungen in der Laufbahn des Liu Ji. Zur Zeit der Streitenden Reiche, also vor der Reichseinigung (221 v. Chr.), waren Scharen dieser Gelehrten von Fürstenhof zu Fürstenhof gewandert, wo sie sich als Spezalisten für das Ritualwesen anboten. Auch die Qin nutzten ihre Kenntnisse. Liu Ji hingegen wollte mit ihnen zunächst nichts zu tun haben. In seinem Gefolge dominierten die Korbflechter, Flussfischer, Hundemetzger, Kutscher und Tagelöhner, die zu Generälen ernannt, sich im Krieg auszeichneten.18 Die Verwaltungsarbeit hatte er einem ehemaligen Gerichtsschreiber aus seinem Heimatkreis anvertraut, Xiao He, dem alten Freund der Familie Lü, der dann auch der erste Kanzler der kaiserlichen Regierung wurde.19 Wenn nun ein Konfuzianer ihm seine Dienste offerierte, nahm Liu Ji dem Bewerber den eigentümlichen Hut vom Kopf, der zur Gelehrtentracht gehörte und pisste hinein. Erst einem als Verrückter Meister bekanntem Konfuzianer, der, heruntergekommen, den Beruf des Torwächters ausübte, gelang es, den Verächter aller Gelehrsamkeit mit einer Rüge zu beeindrucken: Wie konnte der Herr von Pei einen Würdigen empfangen und sich dabei von zwei Dienerinnen die Füße waschen lassen? Derartiges Verhalten disqualifiziere einen für das Kaisertum.20

Kaiser werden wollte Liu Ji aber unbedingt. Fortan achtete er auf ein majestätisches Auftreten, wenngleich sich seine Abneigung gegen die konfuzianische Tracht mit ihren eigentümlichen Hüten nie verlor. Als er dann den Kaiserthron bestieg, hatte er schon recht ordentliche Manieren. Er musste nur noch seine Gefolgsleute bändigen, die sich in der Audienzhalle über ihre Verdienste stritten, volltrunken übereinander herfielen und mit ihren Schwerten auf die Holzsäulen einhieben. Solch ein Verhalten, erkannte er, schadet doch der kaiserlichen Autorität sehr. Shusun Tong, ein Konfuzianer, der sich schon am Hof der Qin verdient gemacht hatte, nun aber mit seinen hundert Schülern für die Han tätig war, erhielt den Auftrag ein Hofzermoniell auszuarbeiten und erst einmal nach Lu zu reisen, um im Stammland der konfuzianischen Schule die besten Ritualfachleute zu engagieren. In Lu war Shusun Tong freilich übel beleumdet. Man zählte die Herren auf, denen er gedient hatte. An die zehn seien es schon gewesen! Und nun sei er im Begriff, die Lehren des Altertums zu verraten! Von den ungefähr dreißig Gelehrten, die er aufsuchte, lehnten dennoch nur zwei sein Angebot ab. „Biru 鄙儒, hinterwäldlerische Konfuzianer“, nannte er die Verweigerer lachend, „die nicht den Wandel der Zeit verstehen.“21

In ihrer utilaristischen Weltsicht – gut ist, was uns nützt – waren sich der Kaiser und seine Konfuzianer einig. Dazu verbargen die Ritenfachleute, die als die Edlen (junzi 君子) auftraten, ihren Widerwillen gegen den ungehobelten Büttel, der sich zum Sohn des Himmels erklärt hatte. Im Gegenzug mäßigte Liu Ji seine Abneigung gegen die „dreckigen Konfuzianer“ und respektierte fortan ihren Kopfschmuck.22 Das tolerante Bündnis erwies sich für beide Seiten vorteilhaft. Shusun Tong „kombinierte die Zeremonien der Qin und die Riten des Altertums“ und entwarf zusammen mit seinen Schülern und den Gelehrten aus Lu zur Einweihung des Palastes der Ewigen Freude ein Hofritual, das, wie es der Kaiser wünschte, eindrucksvoll, aber in der Ausführung nicht zu schwierig war. Manche seiner ungeschliffenen Gefolgsleute, die das Ritual dennoch verwirrte, wurden einfach der Halle verwiesen.23 „Seit dem heutigen Tag weiß ich, was für eine Würde es ist Kaiser zu sein!“, rief Liu Ji nach den Feierlichkeiten aus.24  Die kaiserliche Begeisterung klug nützend, verwies Shusun Tong auf seine begabten Schüler und empfahl sie für eine Anstellung. Diese hundert Schüler gaben, zu Hofbeamten ernannt, der Politik des Kaisereiches eine Wendung hin zum konfuzianischen Staat. Ihm selbst wurde die Aufsicht über die Erziehung des Kronprinzen übertragen. „Shusun Tong“, urteilte der Hofhistoriker Sima Qian, „richtete sich nach dem Lauf der Welt und passte das Ritensystem den Erfordernissen an. Er ging mit dem Wandel der Zeit und wurde schließlich zum Ahnherrn der Han-Konfuzianer.“25

Die Konfuzianer waren weithin verschrieen als „geschwätzige Vagabunden, denen man keine Staatsgeschäfte anvertrauen darf.“26 Sie beklagten sich auch ständig darüber, dass kein Herrscher ihre Dienste in Anspruch nehmen wollte.27 Nun aber begann ihr Aufstieg, der sich so unwahrscheinlich ausnimmt wie der ihres kaiserlichen Dienstherrn. Nachdem sie sich als Ritenfachleute etabliert hatten, sicherten sie sich durch die Übernahme anderer Hofämter Zug um Zug das Regierungsmonopol. Damit fiel ihnen auch die Aufgabe zu, den Ahnherrn Liu Ji zu legitimieren, obwohl der in keiner Weise dem konfuzianischen Herrscherbild, das sich an den heiligen Monarchen eines mythischen Goldenen Zeitalters orientierte, entsprach.28

Die Konfuzianer setzten fort, was die junge Frau Lü einst begonnen hatte: Sie erfanden Omina, die beweisen sollten, dass Liu Ji vom Himmel auserwählt war. Nun beließen sie es aber nicht dabei, die Erscheinung von Drachen und anderen Fabeltieren, von ominösen Wolken und Sternen zu beschreiben und dem Kaiser zuzurechnen. Vielmehr ordneten sie die Zeichen und Wunder in eine Kosmologie ein, in der die Himmelskörper, die Farben, die Elemente, die Töne, die Topographie, die Jahreszeiten, die Tugenden und überhaupt die Welt in ihrer Vielfalt nur dazu da sind, den Kaiser und seine Dynastie zu legitimieren. Selbst der Schulgründer Konfuzius, der nun vergöttlicht als Sohn des himmlischen Schwarzen Kaisers (Heidi 黑帝) erscheint, hat vor allem den Auftrag, die Ankunft des Liu Ji und die Herrschaft des Hauses Han vorauszusagen: So beschreibt eine Apokryphe zum Buch der Kindespflicht wie Konfuzius auf ein Einhorn trifft, das drei Schriftrollen ausspuckt, auf denen es heißt: „Die Zhou(-Dynastie) wird untergehen und die rote Aura wird aufsteigen. Feuerglanz und Dunkler Hügel werden das Mandat erschaffen. Mao Jin wird Kaiser sein!“ Rot war die Farbe der Han-Dynastie, Feuer, das ihr zugeordnete Element. Konfuzius – Kong Qiu (丘 Qiu = Hügel) – erscheint dazu in der Kosmologie. Der Name Mao Jin resultiert aus einem onomantischen Spiel mit dem Familiennamen Liu 劉, der die Grapheme Mao 卯 und Jin 金 enthält.29 So waren die Konfuzianer bald von der herrschenden Dynastie nicht mehr zu trennen. „Das Reich der Han ist den Konfuzianern zugehörig” konnte Wang Chong Anfang der Zeitenwende mit gutem Recht behaupten.30

Inmitten der Wundererscheinungen blieb der Kaiser eine klar fassbare historische Gestalt. Dafür hat vor allem Sima Qian mit seinen meisterlich geschriebenen Aufzeichnungen gesorgt, die Liu Ji als einen gerissenen, grausamen, vom Glück begünstigten Rebellen im Gedächtnis halten. Der konfuzianische Staatsmann Wang Yun bedauerte Ende der Han-Zeit, dass Kaiser Wu seinen Hofhistoriker nur kastrieren, ihn aber nicht hatte hinrichten lassen und ihm so „ermöglichte, verleumderische Bücher zu verfassen und künftigen Generationen zu überliefern.“31 Zweifellos verhinderten die überlieferten „Verleumdungen“, dass die Erinnerung an den Gaozu sich jenseits der Fakten im Mythischen verlor.

Um den Gründer der Han-Dynastie, gegen den Augenschein, als würdigen Empfänger des himmlischen Mandats rechtfertigen zu können, versetzte die Apologetik ihn zunächst einmal in die Gesellschaft der heiligen Herrscher, deren „Verdienste, Tugenden und Zeichen gleich einem breiten und tiefen Strom ins Unermessliche fließen.“32 Ihm wird dabei eine ganz besondere Legitimität zugeschrieben, weil sich seine Herrschaft durch Wunder angekündigt haben soll, die viel zahlreicher und erstaunlicher waren als die Zeichen des Himmels, die den Aufstieg früherer Dynastiegründer begleiteten. 33

Die konfuzianische Apologetik unternimmt nicht einmal den Versuch, die Tugenden zu finden, durch die der Gaozu sich dem Himmel empfohlen haben könnte.34 Sie versuchte ihn aber von der Verantwortung für die übelsten, unter seiner Herrschaft begangenen Schandtaten freizusprechen. Hier wurde den Konfuzianern die Kaiserin nützlich. Nach dem Ende der Kriegszüge und der Demobilisierung der Armee hatte sie sich aktiv an der Regierung ihres Gemahls beteiligt und zu Entscheidungen gedrängt, wo der Kaiser zögerlich wirkte.

Zögerlich wirkte er vor allem im Umgang mit seinen Gefolgsleuten. Die Kaiserin nahm ihm da einige Entscheidungen ab. „Die Kaiserin Lü“, urteilt Sima Qian, „gehörte zu den willensstarken Menschen. Sie half dem Gaozu bei der Eroberung des Reiches, und viele hohe Beamte wurden auf ihr Betreiben hingerichtet.“35 Zu den Würdenträgern, deren Hinrichtung sie betrieb, zählten die Feldherrn Han Xin und Peng Yue, für die der Kaiser, weil sie ihn erst vor dem Untergang gerettet und dann zum Sieg geführt hatten, eine sentimentale Anhänglichkeit hegte.

Die Kaiserin achtetet nun darauf, dass ihr Gemahl sich von seiner Sentimentalität nicht überwältigen ließ. Ohnehin gehörte Dankbarkeit nicht zu seinen Charakterzügen. Als er Kaiser wurde, nachdem Han Xin für ihn die Schlacht von Gaixia gewonnen hatte, marschierte er geradewegs zum Lager des siegreichen Feldherrn und entzog ihm das Kommando über seine Truppen. Freilich war sein Misstrauen nicht unberechtigt. Die ehemaligen Wegelagerer, die mit ihm das Reich erobert hatten, und nun als Könige und Fürsten regierten, waren ein rebellischer Haufen. Sie gerieten über Fragen nach Rang und Status leicht in Streit und fühlten sich, jeder auf seine Weise, vom Kaiser zurückgesetzt. Manche waren mit dem zugewiesenen Territorium unzufrieden, zumal sie wie kaiserliche Beamte versetzt werden konnten. Han Xin etwa, ehemals ein Herumtreiber und erfolgloser Händler, war erst König von Qi, erhielt danach die Stelle des Königs von Chu und regierte schließlich als unbedeutender Fürst von Huaiyang. Der Kaiser, der, wie es hieß, „seine Fähigkeiten bewunderte und hasste“, war immer auf der Hut vor ihm und hielt ihn gerne in seiner Nähe unter Aufsicht. Han Xin dachte gelegentlich an eine Erhebung, blieb dann aber doch loyal und verglich sich fatalistisch mit einem Jagdhund, der, wenn alle Hasen tot sind, selber für den Kochtopf vorgesehen ist.36

Als aber der Kanzler des Königreichs Dai gegen den Kaiser rebellierte, unterstützte Han Xin die Rebellion. Er hatte freilich zu lange gezögert. Während der Kaiser seine Truppen gegen den Rebellen führte, nutzte die Kaiserin im Bunde mit dem Kanzler Xiao He den günstigen Augenblick, setzte Han Xin fest und ließ ihn samt seiner Verwandtschaft hinrichten. „Da habe ich mich doch“, klagte Han Xin vor seiner Enthauptung, „von diesem Weib hereinlegen lassen. Wenn das nicht Schicksal ist!“ Der Kaiser war zugleich „traurig und erfreut“,  als er vom Tod des großen Generals erfuhr.37

Ein misstrauischer, zögernder Fürst, ein misstrauischer, zögernder Kaiser und die fest entschlossene Kaiserin – diese Konstellation wurde auch dem zweiten großen General der Epoche zum Verhängnis: Der ehemalige Flussfischer Peng Yue war König von Liang geworden. Als der Kaiser auszog, die Rebellion des Chen Xi zu unterdrücken, schickte Peng Yue ihm zwar Soldaten, verschanzte sich aber in seinem Königreich. Er sei krank, ließ er ausrichten.38 Der Kaiser befahl ihn dennoch ins Feld. Während Peng Yue weiter zögerte, ließ ihn der von Gerüchten aus Liang beunruhigte Kaiser durch einen Greiftrupp gefangennehmen.

So bereitete sich die berühmteste Postsendung der chinesischen Geschichte vor. Vom Kaiser in die Verbannung geschickt, begegnete Peng Yue unterwegs der Kaiserin, bei der er sich über die ungerechte Behandlung beklagte. Die Kaiserin gab vor, ihm helfen zu wollen, und nahm ihn mit sich, nur um dem Kaiser zu erklären, dass Peng, der als General für seine Guerilla-Taktiken berühmt geworden war, auch in der Verbannung gefährlich bleibt. „Besser wir richten ihn hin. Ich habe mir schon mal die Freiheit genommen, ihn wieder zurückzubringen.“ Der Kaiser begriff, tötete den General und nahm die gute Gelegenheit wahr seine übrigen Generäle, indem er ihnen Teile der zerstückelten, gepökelten und in Gefäßen eingelegten Leiche zuschickte, zu verwarnen.39 Sogleich wurde die Kaiserin als Absenderin verdächtigt: „Sie ist eine Frau, und so findet sie immer einen Grund, die Könige aus anderen Familien und die hohen Beamten hinzurichten.“40 In späteren Texten wird das Zerstückeln von Beamten geradezu zum Kennzeichen ihrer Regierung. So sagt der maßgebliche Kommentar zu den Aufzeichnungen des Hofhistorikers über „die geborene Lü“ kurz und bündig: „Sie ließ die hohen Beamten in Stücke hacken und pökeln.“41

 „Mein Gang ist unsicher geworden“ – die Regentschaft der Taihou 

Der Gaozu starb (195 v. Chr.) an seiner Pfeilwunde. Ihm folgte sein Sohn Liu Ying unter dem Kaisernamen Hui auf den Thron. Der Kaiser Hui war der zweitälteste von acht Söhnen des Gaozu und der einzige Sohn der Lü Taihou. Als die Taihou für den erst Siebzehnjährigen die Regentschaft übernahm, sah sie sich von Feinden umringt. Da waren zuerst die äußeren Feinde: Im Süden hatte sich ein ehemaliger Beamter der Qin zum Kaiser von Nanyue ernannt, und an der Nordgrenze des Reiches paktierten revoltierende chinesische Generäle mit Modu, dem Chanyu der Xiongnu. Modu hatte die benachbarten Steppenvölker unterworfen, beherrschte weite Teile Zentral­asiens und attackierte immer wieder chinesisches Siedlungsgebiet. Die kaiserlichen Truppen schienen machtlos gegen diese Reiterüberfälle aus der Steppe. 42

Der einzige große verbliebene General der Han, Lu Wan, war, nachdem er einen Krug von dem gepökelten Fleisch erhalten hatte, zu den Xiongnu übergelaufen. Sein Reiterheer – mehrere tausend Mann – war ihm gefolgt. Nun residierte er als „König der Ostbarbaren“ jenseits der Grenze. 43 Für die Xiongnu schien die Zeit günstig, China anzugreifen. Modu versuchte, einen Krieg zu provozieren. Er schickte einen Brief, in dem er, „im Sumpfland geboren und mit Pferden und Rindern auf der Steppe lebend“, seine Einsamkeit beklagte und der Witwe Lü vorschlug, sie sollten sich doch zusammentun. Er sei bereit alles zu geben, was sie nicht habe. Die Taihou geriet über das unverschämte Angebot in flammenden Zorn, gab sich dann aber besänftigt, wurde diplomatisch und schrieb zurück: „Ihr, der Chanyu, habt unser Land nicht vergessen und beehrt uns nun mit einem Brief, der uns ängstigt. Ich ziehe mich von den Alltagsgeschäften zurück und sorge mich nur noch um die eigenen Dinge. Ich bin alt und hinfällig, Haare und Zähne fallen mir aus, und mein Gang ist unsicher geworden. Ihr, Chanyu, habt da etwas falsch verstanden und solltet Euch nicht beschmutzen. Unser Land hat nichts Unrechtes getan und verdient Eure Nachsicht. Wir haben zwei kaiserliche Wagen, jeweils mit vier Pferden bespannt. Die machen wir Euch zum Geschenk.“ Modu entschuldigte sich kleinlaut: „Die chinesische Etikette, ist mir unbekannt, Eure Majestät mögen mir verzeihen.“44

Alt und hinfällig, nennt die Taihou sich spöttisch, aber nicht ohne Melancholie. Bei Antritt der Regentschaft war sie um die fünfzig – sehr alt nach damaligen Maßstäben. Zur Sicherung ihrer Dynastie blieb ihr nicht mehr viel Zeit, und sie schien vor einer unlösbaren Aufgabe zu stehen: Der junge Kaiser Hui war, dafür hatte sein Vater gesorgt, schon vor der Thronbesteigung als unfähig verrufen. Der Gaozu hatte ihn absetzen und an seiner Stelle Liu Ruyi, den Sohn einer Hofdame, zum Kronprinzen ernennen wollen. Die Hofdame Qi, die Favoritin des Gaozu in seinen letzten Lebensjahren, hatte damals ungeduldig auf das entscheidende Edikt gewartet. Die legitimistisch gesinnte Beamtenschaft hingegen, unter wortmächtiger Führung von Shusun Tong, nahm Partei für die Kaiserin und ihren Sohn. Die Legitimisten werteten die Herkunft höher als das Alter und das Alter höher als die Tüchtigkeit.45 „Kein unwürdiger Sohn soll sich je über dieses geliebte Kind (Ruyi) erheben“, verkündete hingegen der Kaiser. Freilich zögerte er auch hier eine Entscheidung hinaus.46

Kurz vor seinem Tod hatte sich der Konflikt noch einmal verschärft. Als ein weiterer General, Qing Bu, seine Truppen in Marsch setzte und revoltierte, hielt der Gaozu den Kronprinzen Liu Ying für alt genug, das Oberkommando über das kaiserliche Heer übernehmen. Seine Mutter und ihr Anhang hingegen meinten, den jungen Mann mit den Generälen in den Kampf zu schicken, das wäre, als liefere man ein Lamm den Wölfen aus, und überhaupt würden die Generäle ohnehin nicht auf den Kronprinzen hören. Im Übrigen sei da auch noch zu bedenken, dass ein Kronprinz es nicht nötig habe, sich durch kriegerische Erfolge auszuzeichnen. Der Kaiser sei zwar krank, er könne doch bitteschön in einem Reisewagen den Feldzug anführen.

Der Kaiser fühlte sich durch diese Entschuldigungen bestätigt. „Es scheint so“, grollte er: „als könne man diesen Nichtsnutz überhaupt nirgendwo hinschicken. Da gehe ich eben selber.“47 Er zog tatsächlich ins Feld und kam siegreich, aber sterbenskrank zurück. Nun plagte ihn auch noch eine frische Pfeilwunde. Wissend, dass seine hundert Lenze bald abgelaufen waren, zeigte er sich „entschlossener denn je“, den unfähigen Ying zu verstoßen und an seiner Stelle Ruyi zum Thronfolger zu ernennen.

Um zu erklären, warum der Gaozu dann doch alles beim alten beließ, erzählt der Hofhistoriker Sima Qian eine Geschichte von vier alten weißbärtigen Männern, die in Begleitung des unseligen Liu Ying zu einem kaiserlichen Bankett erschienen wären. Sie hätten sich vor dem Kaiser verborgen, meinten sie, denn der sei hochmütig und behandle die Menschen verächtlich. Nun aber hätten sie von dem Kronprinzen Ying nur Löbliches gehört. „Wir haben gehört, dass der Kronprinz sich gütig und ehrfürchtig benimmt. Den Gelehrten begegnet er mit Hochachtung und Zuneigung, sodass die ganze Welt zu ihm aufblickt und bereit ist, für ihn zu sterben. So sind wir nun hierhergekommen.“ Mehr sagten die Gäste nicht. Der kurze Abschnitt wirkt wie die Beschreibung ein Halluzination, zumal der Kaiser angesichts der weißbärtigen Gäste sogleich seine Meinung geändert und die Hofdame Qi herbeigerufen haben soll, um ihr mitzuteilen: „Ich wollte den Thronfolger austauschen, aber diese vier Männer kamen zu seiner Unterstützung und haben die Flügel über ihn gebreitet, sodass ich ihn nicht mehr erreichen kann. Die Kaiserin Lü ist nun die wirkliche Herrin.“48

Das Erscheinen der vier alten Männer verdankte die Kaiserin dem Strategen Zhang Liang, der auch als Magier berühmt, von ihr engagiert worden war. Über die vier Alten erfahren wir nur, dass sie einige Monate, verborgen vor dem Blick des Kaisers, am Hof weilten und beim Bankett durch imposante Hüte und Gewänder auffielen.

Der Kaiser, der doch die Gelehrtentracht hasste und vor dem zeitweise kein Hut sicher war, soll nun allein durch den theatralischen Auftritt der Weißbärte in ehrfürchtiges Staunen versetzt und zur Aufgabe seiner Pläne veranlasst worden sein. Hier verliert sich der Bericht völlig im Abstrusen. Vielleicht hat der Hofhistoriker nichts Genauerers über das Strategem des Zhang Liang erfahren, oder er hat sein Wissen für sich behalten. Vielleicht dient die Erzählung von den vier Alten nur als Ornament in einem Bericht über einen todkranken Kaiser, der zu keiner Entscheidung mehr fähig war. Vielleicht war es der Kaiserin auch gelungen, den Kranken zu isolieren und seine Anordnungen zu hintertreiben. Das Erscheinen der alten Männer hätte dann erklären sollen, warum der feste Entschluss des Kaisers schließlich doch nicht umgesetzt wurde.

Mit der Thronbesteigung von Liu Ying bewahrheiteten sich die schlimmsten Befürchtigungen: Kaiser Hui trank zuviel und verbrachte zuviel Zeit mit den Hofdamen. Seine Höflinge trugen Federn im Haar und Muschelketten am Gürtel und schminkten sich die Gesichter.49 Dazu hielt er sich einen kaiserlichen Bettgefährten, den die innige Beziehung so übermütig werden ließ, dass er sich bald mit dem Kanzler Shen Yiji, dem mächtigsten Mann im Reich, anlegte. Die Kaiserinmutter musste fürchten, dass sich spätestens nach ihrem Tode eine Opposition auf den Gaozu berief, um der Tüchtigkeit den Vorrang vor der Herkunft zu gehen, den unfähigen Hui zu stürzen und Liu Ruyi zum neuen Kaiser auszurufen. „Ruyi, das ist so einer wie ich“, hatte der Vater oft gesagt.50 Der Lü Taihou muss dieser Ausspruch des Alten noch über dessen Tod hinweg als furchtbare Drohung erschienen sein.

Der Gaozu hatte den zehnjährigen Jungen der Obhut eines zuverlässigen Ministers anvertraut, um ihn als König von Zhao dem Zugriff der Kaiserinmutter zu entziehen. Die Hofdame Qi hingegen war bei dem sterbenden Kaiser geblieben, nur um nach dessen Tod eingesperrt zu werden. „In Halseisen, die Haare geschoren und in Sträflingskleidung musste sie Reis stampfen. Beim Reisstampfen sang sie dann ein Lied: „Der Sohn wurde König und die Mutter zur Gefangenen. Tagein, tagaus stampft sie den Reis zu Mehl, immer in Furcht vor dem Tod. Mutter und Sohn sind dreitausend Meilen voneinander entfernt. Welcher Bote bringt dem Sohn die Nachricht?“51 Die Taihou habe vom Klagelied der Reisstampferin gehört, worauf sie beschlossen habe, Mutter und Sohn zu töten.

Die – zweifelsfrei von ihr befohlene – Ermordung der Hofdame Qi und ihres Sohnes Ruyi war aus ihrer Sicht nur zweckmäßig. Die Beseitigung von Konkurrenten um die Thronfolge war keineswegs ein einzigartiges Verbrechen. Es war eine übliche, immer wieder dokumentierte Praxis.52 Exzeptionell ist nur die Grausamkeit, die der Kaiserinmutter zugeschrieben wird.

Liu Ruyi, den König von Zhao, ließ die Witwe bei Gelegenheit vergiften. Die Hofdame Qi hingegen soll einen langsamen Tod gestorben sein. In den Aufzeichnungen des Hofhistorikers heißt es: „Die Kaiserin hackte daraufhin der Hofdame Qi die Hände und die Füße ab, riss ihr die Augen aus, brannte ihr die Ohren ab und flößte ihr eine zur Taubheit führende Medizin ein 飲瘖藥. Sie sperrte sie in den Abtritt und nannte sie das Menschenschwein.“53

Nicht nur die Behauptung, die Kaiserin habe der Hofdame Qi erst die Ohren weggebrannt und sie dann durch eine Medizin ertauben lassen, macht die Darstellung zweifelhaft. Unglaubwürdig ist auch der anschließende Satz, der voraussetzt, dass ein Mensch mit abgehackten Gliedern tagelang im Kot überleben kann: Die Kaiserinmutter „hielt (die verstümmelte Hofdame) für mehrere Tage (in der Grube) und rief dann den Kaiser Hui herbei, das Menschenschwein zu besichtigen.“ Die Geschichte der Han treibt den Vorfall weiter ins Absurde. Danach sollen bis zur Vorführung des Menschenschweins mehrere Monate verstrichen sein.54

Ursprünglich war wohl allein von der Misshandlung der Gefangenen die Rede, die wie ein Schwein im Abtritt eingesperrt, unter Drogen gesetzt und vergiftet wurde. In ihren grauenhaftesten Teilen ist diese Episode fraglos eine Erfindung, die auch dazu diente, die Unfähigkeit des Kaisers Hui und dann seinen frühen Tod zu erklären. Erst der Anblick des Menschenschweins habe den jungen Kaiser zum Rückzug aus den Regierungsgeschäften veranlasst. Von stund an sei er der Trunksucht und der Sittenlosigkeit verfallen.

Zu Beginn der Regentschaft der Taihou war ihr langjähriger Vertrauter Xiao He noch immer Kanzler. Als er starb wurde Cao Can, auch er ein ehemaliger Gerichtsschreiber aus Pei, sein Nachfolger. Cao Can war drei Jahre Kanzler. Nach einem Interim – die Herrscherin hatte das Kanzleramt inzwischen geteilt – brachte sie Shen Yiji als Kanzler zur Linken ins Amt. Shen Yiji war ihr Liebhaber, der erst einmal dadurch Aufsehen erregte, dass er seinen Amtssitz in den Witwenpalast verlegte. „Nachdem er Kanzler geworden war und der Taihou im Palast aufwartete, hatte die gesamte Beamtenschaft seinen Entscheidungen Folge zu leisten.“55 Formal war ihm der Kanzler zur Rechten, Chen Ping, übergeordnet56, den es nicht zu bekümmern schien, dass Shen Yiji zu seinen Lasten derart mächtig wurde. Chen Ping versah seinen Dienst nachlässig. Er liebte die Frauen, war gesellig und trank viel. Seine Pflichtvergessenheit war immer wieder Anlass zu Beschwerden. Die Taihou aber, der die ungewöhnliche Machtverteilung zwischen den beiden Ämtern nur recht war, ließ, allen Vorwürfen zum Trotz, den fröhlichen Kanzler gewähren. Das sollte sich als verhängnisvoller Fehler herausstellen.

Freilich suchte die Kaiserin auch Unterstützung bei ihrer Familie. Ihren Stiefsöhnen und deren Anhang konnte sie aber nicht trauen, denn jeder dieser Konkubinen­söhne, die als Könige eigene, aber von der Zentralgewalt abhängige Territorien regierten, war ein Konkurrent für ihren Sohn. So bevorzugte sie ihre Verwandtschaft väterlicherseits, die Familie Lü, bei der Vergabe von Regierungsämtern und der Verleihung von Adelspfründen. Insbesondere ihre Neffen Lü Chan und Lü Lu wurden von ihr gefördert, wenngleich von denen keine großen Taten zu erwarten waren. „Die Kaiserinmutter hat nun schon viele Lenze hinter sich und die Lü sind schwach“57, hieß es, in der Voraussicht, dass die Neffen sich nach dem Tode ihrer Tante nicht werden behaupten können.

Das Drama, das der Nachwelt als der „Aufruhr der Lü“ 諸呂之亂 bekannt wurde, weist den beiden Neffen die Rolle der Bösewichte zu. Die Guten und Edlen sind der Kanzler Chen Ping, der General Zhou Bo und der Kaiserenkel Liu Zhang. Sie werden von der konfuzianischen Geschichtsschreibung einmütig dafür gerühmt, den Aufruhr niedergeschlagen, die Lü ausgerottet und die Kaiserfamilie Liu gerettet zu haben. In Wirklichkeit gab es seinerzeit keinen größeren Schurken als Chen Ping.

Jeder der drei gefeierten Retter hatte durchaus eigennützige Motive zum Kampf gegen die Lü. Die Verteidigung der legitimen Ansprüche der Liu gehörte nicht dazu. Im Gegenteil: Der Putsch zu dem sich Chen Ping, Zhou Bo und Liu Zhang verschworen hatten, endete mit der Ermordung des rechtmäßigen Kaisers Hong, dem Enkel des Gaozu und der Taihou.

Angestiftet zu der Verschwörung hatte Chen Ping58, der mit Lü Xu, der Schwester der Taihou, seit langem verfeindet war und sie fürchtete wie die Hölle. Er hatte als schlauer Stratege den Han verschiedentlich aus bedrohlichen Situationen heraus­geholfen. Auf die Macht des Geldes setzend, verstand er es meisterhaft, Misstrauen zu erzeugen und das feindliche Lager zu spalten. Vierzigtausend Pfund Gold brauchte er einmal als Bestechungsgeld, um den Gaozu vor dem sicheren Untergang zu retten.59 Er hatte, wenn er sich davon einen Vorteil versprach, leichthin seine Dienstherren gewechselt, war korrupt und in den Handel mit Generalsrängen verstrickt. Sexuellen Abenteuern zugetan, hatte er, wie seine Feinde sicher zu wissen behaupteten, auch schon mal mit seiner Schwägerin geschlafen. Als er von Offizierskameraden wegen seines Lebenswandels denunziert wurde, erklärte der Gaozu den Denunzianten, zu deren Sprecher sich der General Zhou Bo gemacht hatte, er suche sich seine Gefolgleute nach ihrer Brauchbarkeit und nicht nach ihrer Moral aus. 60 Von solchen realistischen Einsichten begünstigt, schaffte Chen Ping den Aufstieg nach ganz oben.

Vor seinem letzten Seitenwechsel hatte Chen Ping zum Lager des Xiang Yu gehört. Dort war er an einem Mordanschlag auf Liu Ji beteiligt, dem Liu nur mit Hilfe seines treuen Gefolgsmanns, des ehemaligen Hundemetzgers Fan Kuai, entkam. Der so Entkommene salvierte einige Zeit später den Überläufer Chen von seiner Beteiligung an dem Anschlag und nahm ihn in seine Dienste.

Noch als kaiserlicher Beamter schien Chen seinem alten Widersacher Fan Kuai das Scheitern des Anschlags nachzutragen. Freilich konnte er seinen Groll nicht ausleben, denn Fan Kuai war nicht nur ein bewährter Freund des Kaisers; er war auch mit Lü Xu verheiratet, also mit dem Kaiser verschwägert. Wie aber der Gaozu schwer krank und immer misstrauischer wurde, gelang es „jemandem“ dem Kranken einzureden, dass sein Schwager, unter dessen Befehl das kaiserliche Heer einen Aufstand niederschlagen sollte, sich mit den Rebellen verschworen habe.61 Chen Ping erhielt nun den Auftrag, gemeinsam mit Zhou Bo dem vermeintlichen Verräter nachzureisen, ihm das Kommando über die Truppen zu entziehen und ihn augenblicks hinzurichten.

Chen und Zhou waren ungeachtet der Tatsache, dass zuvor der eine den anderen als korrupt und sittenlos denunziert hatte, gute Freunde geworden. Zhou hoffte, zum Oberbefehlshaber der Armee aufsteigen62, und um sich seiner Freundschaft zu versichern, hatte Chen ein Vermögen eingesetzt. 63 Der Einsatz sollte sich lohnen, auch wenn Zhou Bo nicht Ober­befehls­haber wurde – oder gerade deswegen.

Ihr gemeinsames Unternehmen zum Schaden des Fan Kuai scheiterte freilich. Schon bei der Abreise müssen den beiden Zweifel gekommen sein, ob der Kaiser die nächsten Wochen überlebt. Nach dem Tod des Kaisers aber wären sie schutzlos dem Zorn der Lü Xu ausgeliefert gewesen. Sie einigten sich also darauf, Fan Kuai am Leben zu lassen, ihn von seinem Kommando zu entbinden und ihn als Gefangenen, die Hände auf dem Rücken gefesselt, in einem Käfigwagen nach Chang’an zurückzu­transportieren.

Zhou Bo übernahm das Kommando von Fan Kuai und Chen Ping reiste zurück in die Hauptstadt. Als er unterwegs vom Tod des Kaisers hörte, flüchtete er sich zur Taihou und flehte sie an, ihn vor der Rache ihrer Schwester zu bewahren. Die Taihou gewährte dem Verängstigten, der sich nicht mehr auf die Straße traute, Unterschlupf im Palast. Sie rechnete wohl damit, dass ein für seinen Opportunismus bekannter, intelligenter Mann, der ganz von ihrer Gnade abhängig ist, nur nützlich sein kann. Fortan förderte sie seine Karriere. Zunächst wurde er Lehrer des neuen Kaisers. So war er erst einmal sicher. „Obwohl die Lü Xu ihn weiter verleumdete, erreichte sie damit nichts.“64

In ihrer sonst so umsichtigen Planung hatte die Taihou nicht an die möglichen Folgen gedacht: Ihr Schützling war ihr zwar nützlich, aber der kalkulierte als weitschauender Stratege schon mit ihrem Exitus: Danach wäre er dem Zorn ihrer jüngeren Schwester ausgeliefert. Wollte er überleben, brauchte er einen Plan. Eine Verschwörung zur Vernichtung der Lü würde seine Rettung sein.

Sein erster Mitverschwörer war Zhou Bo, der als General sich nun den Neffen der Taihou unterordnen musste.65 Der Ärger über den misslungenen Aufstieg und die Hoffnung, nach dem Fall der Lü doch noch Oberbefehlshaber zu werden, machten ihn zum natürlichen Verbündeten des Kanzlers.

Der dritte Verschwörer, Liu Zhang, war ein Bruder des Königs Ai von Qi. Er war gerade mal Anfang zwanzig, als er sich dem Bündnis anschloss. Er und seine Brüder waren Enkel des Gaozu und Söhne des früh verstorbenen Liu Fei, der alle Gebiete auf denen der Dialekt von Qi gesprochen wird, zum Lehen erhalten hatte.66 Der König von Qi herrschte zunächst über mehr als siebzig Städte und seine Hauptstadt Linzi war größer und reicher als die kaiserliche Hauptstadt Chang’an.67

Weil Liu Fei zwar von einer Konkubine geboren, aber doch der älteste Sohn des Gaozu war, spekulierte man in Qi heimlich auf die Kaiserwürde. Man hätte den Kaiser Hui wohl leicht stürzen können, wäre da nicht die Taihou gewesen. Hui, dem die Kaiserwürde nur beschwerlich und ansonsten gleichgültig zu sein schien, hatte sogar einmal bei einem Gastmahl seinem älteren Bruder den Ehrenplatz des Kaisers eingeräumt. Die Taihou geriet über diesen Verstoß gegen die Rangordnung so in Zorn, dass Liu Fei um sein Leben fürchten musste. Um die Zornige zu besänftigen, überließ er ihrer Tochter eine Provinz seines Königreichs.68 Die Taihou suchte Qi zu schwächen, indem sie den König zu weiteren Gebietsabtretungen zwang. Als sie ihren Neffen Lü Tai zum König Lü erhob, machte sie Jinan aus dem Besitz von Qi zu seinem Königreich.69 Und Langya presste sie Qi ab, um es dem machtvollen, aber unzufriedenen General Liu Ze als Königtum zu übertragen.70 Jeder Landraub wiederum schürte am Hof von Linzi den Hass auf die Lü.

Der frühe Tod des Kaisers Hui (188 v. Chr.) zerstörte endgültig die Aussichten der Taihou auf einen von aller Vormundschaft unabhängig regierenden Nachfolger. Zwar hatte Hui durch den Rückzug in seine Privatgemächer für genug Thronerben gesorgt, aber die sechs Söhne waren alle noch im Kleinkindalter. So wurde der kleine Liu Gong als Shaodi 少帝 (Kindkaiser) Nachfolger seines Vaters.

Auch mit ihrem Enkel als Kaiser hatte die Lü Taihou kein Glück. Liu Gong starb nämlich schon vier Jahre nach seiner Inthronisation. Es hieß, er sei der Sohn einer kaiserlichen Konkubine gewesen. Die Gemahlin des Kaisers Hui – eine Tochter der Tochter der Lü Taihou – soll kinderlos geblieben sein. So habe die Lü Taihou das Kind der Konkubine geraubt und es als Kind der kaiserlichen Gemahlin ausgegeben. Für den Mord an seiner leiblichen Mutter habe Liu Gong nun der Großmutter Rache geschworden, worauf der kleine Rächer weggesperrt und umgebracht worden sein soll.71 Kaiser Hui, der Vater des Liu Gong, war dreiundzwanzig als er starb. Selbst wenn die Kinderlosigkeit der kaiserlichen Gemahlin in aller Eile festgestellt worden wäre, so kann der Kindkaiser bei seinem Tod nicht älter als zehn Jahre gewesen sein. Die Geschichte klingt unwahrscheinlich und ist fraglos eine Erfindung zum Schaden der Lü Taihou. Nach dem Tode des ersten Kindkaisers folgte ihm sein Halbbruder Liu Hong, als zweiter Kindkaiser.

Die Kaiserin war nun so alt, dass ihr nichts übrig blieb, als zu hoffen, dass ihre Verwandten, die Lü, nach ihrem Tod stark genug sein werden, den jungen Kaiser bis zu seiner Volljährigkeit vor den Nachkommen der kaiserlichen Konkubinen und ihren Machtan­sprüchen zu schützen. Sie entschied nun, „die Lü zu Königen zu machen, damit sie dem Thron eine Stütze sind.“72 Der Kanzler Chen Ping insbesondere, immer darauf aus, der Herrscherin gefällig zu sein, bestärkte sie, unterstützt von Zhou Bo, in ihrem Entschluss. Als Könige hätten die Neffen genug Autorität die Rechte des jungen Kaisers zu verteidigen. „So kam“, erklärt der Hofhistoriker, „die Familie Lü an die Macht.“73

Die Entscheidung, ihre Neffen zu Königen zu machen, galt den Gegnern der Lü als der eigentliche Beweis für eine Usurpation. Dabei hatte der Gaozu, schon als er sich selbst noch mit dem Königstitel begnügte, acht seiner Gefolgsleute, die nicht aus der Liu-Familie kamen, zu Königen ernannt. Als Kaiser hatte er die Titel freilich einen um den anderen wieder einkassiert, sodass nur noch der König von Changsha, der in einem schwierig zu kontrollierenden Gebiet an der Südgrenze des Reichs residierte, übrig geblieben war.74 Schließlich sollten nur noch die Liu Könige werden, darauf, so heißt es, habe der Gaozu seine Gefolgsleute im Bund des Weißen Pferdes eingeschworen. Sie hätten einen Schimmel als Schlachtopfer dargebracht, sich die Lippen mit Blut beschmiert und geschworen, jeden zu vernichten, der, ohne dem Klan der Liu anzugehören, König sein wolle.75 Von den Eidgenossen des Kaisers werden nur drei namentlich genannt, unter ihnen Chen Ping und Zhou Bo.

Die Ermordung des Knaben Hong

Die Lü Taihou starb am 18. August des Jahres 180 v. Chr. Vor ihrem Tod hatte sie noch einige Umbesetzungen im Militärkommando angeordnet. Das kaiserliche Heer war damals „dieseits des Passes“ im Gebiet der Hauptstadt stationiert und in eine Nordarmee und eine Südarmee geteilt. Lü Lu wurde Generalissimus und nahm Quartier bei der Nordarmee. Lü Chan, den sie gleichzeitig zum Kanzler berief, erhielt den Befehl über die Südarmee. „Die Fürsten und Beamten konnten nichts dagegen tun und fürchteten um ihr Leben.”76

Auf dem Sterbebett hatte die Taihou ihren Neffen noch ein paar Verhaltensregeln eingeschärft: „Ihr müsst den Palast von euren Soldaten bewachen lassen! Seid vorsichtig und geht nicht in der Beerdigungsprozession mit! Lasst euch von niemanden zu etwas zwingen!“ Gemessen an den Ratschlägen, die sie hier erteilte, hielt die Sterbende ihre Verwandten offenbar für arge Narren. Womit sie Recht hatte.

Kaum war die Tante tot, agierten die Lü völlig kopflos. Zwingen lassen würden sie sich nicht, davor hatte die alte Dame sie gewarnt. Freiwillig würden sie den Oberbefehl über das kaiserliche Heer nicht abgeben. Jedenfalls nicht so ohne weiteres.

Nie um eine Heimtücke verlegen, erpressten Chen Ping und Zhou Bo den senilen Vater des Generals Li Ji, der mit Lü Lu befreundet war. Li Ji beugte sich den Erpressern und machte sich zu ihrem Gehilfen, indem er den vertrauensseligen Lü Lu zu überreden suchte, den Oberbefehl über das Heer an den Kommandanten Zhou Bo abzugeben. „Überall auf der Welt“, so hieß es bald, „gilt Li Ji als einer, der seine Freunde verkauft. Er ist der Freundesverräter. Er sah einen Vorteil für sich und und vergaß darüber den Anstand.“77 Lü Chan konnte seinem Bruder den freiwilligen Rückzug noch einmal ausreden. Aber nur vorest. Und es nützte auch nichts, dass Lü Xu, die ihrer verstorbenen Schwester an Entschlossen­heit gleichkam, ihn anschrie: „Du bist ein General, der seine Armee wegwirft! Die Familie Lü wird nirgendwo mehr sicher sein.“ Tage später ließ sich Lü Lu, wieder von Li Ji irregeführt, durch ein gefälschtes kaiserliches Edikt narren und sich die Generalssiegel abnehmen.

Sowie Zhou Bo die Macht über das Hauptheer hatte, erklärte er den Putsch zu einem rettenden Einsatz für die kaiserliche Familie. Dazu gab er einen Tagesbefehl an seine Soldaten aus: „Wer für die Lü ist, macht den rechten Arm frei. Alle anderen aber, die für die Liu sind, machen den linken Arm frei.“ Natürlich waren alle für die Liu.

Liu Zhang besetzte unterdessen mit tausend Soldaten das Palastgelände, verhaftete den Kanzler Lü Chan, tötete ihn und gab damit das Zeichen zum Massenmord. Zwei Tage lang hatten die Hinrichtungskommandos zu tun, die Familie Lü auszurotten. Alle Angehörigen, Männer und Frauen, Säuglinge und Greise wurden exekutiert, die Feindin des Chen Ping aber, die ihm so verhasste Lü Xu, wurde totgeprügelt.78

Mit der Vernichtung der Lü hatten Chen Ping und Zhou Bo hatten ihr Ziel erreicht. Für Liu Zhang hingegen war erst die halbe Arbeit getan, wollte er doch seinem Bruder, dem König Ai von Qi, zur Kaiserwürde verhelfen. Noch immer aber residierte der legitime Sohn des Himmels, der Kindkaiser Hong, unbehelligt in seinem Palast.

Es zeigte sich nun, dass die Verschwörer, abgesehen von ihrer Feindschaft gegen die Lü, ganz gegensätzliche Interessen hatten. Chen Ping und Zhou Bo dachten keineswegs daran, König Ai zum Kaiser machen, denn die Clique der Höflinge aus Qi, die, geführt von einem Onkel des Königs, nach Chang’an strebte, galt als besonders rabiat. Vor allem den Onkel, der als „Tiger mit Hut“ gefürchtet wurde, wollte niemand am Kaiserhof haben.

Auch wenn sie dem König von Qi nicht zur Kaiserwürde verhelfen wollten – der Kindkaiser Hong und seine Brüder, waren für Chen und Zhou dennoch eine Belastung. Sie hatten die Auslöschung der Lü als Aktion zur Rettung des Kaiserhauses gerechtfertig und so die öffentliche Meinung zugunsten der Liu mobilisiert. „Wenn sie gegen die Liu vorgehen“, so hieß es „wird das Volk das nicht dulden.“ 79 Als Enkel der Taihou waren die Brüder nahe Verwandte der getöteten Lü. Es stand also zu befürchten, dass der Kaiser, sobald er alt genug ist, die Regierung zu übernehmen, seine ermordeten Verwandten rächen wird. Wer aber die Enkel tötet, der könnte eines Tages als Kaisermörder angeklagt werden.

Chen Ping fand eine in ihrer Bosheit geniale Lösung: Um die Enkel der Taihou zu eliminieren, musste man sie nur von guten Liu in böse Lü verwandeln. Braucht man dann einen neuen Kaiser, kann man es dem überlassen, seinen Vorgänger aus dem Weg zu räumen.

Nach dem geglückten Putsch scharten sich die Würdenträger der Hauptstadt um die Putschisten und gemeinsam beschloss man, den Kindern ihre kaiserliche Herkunft abzusprechen. Der verstorbene Kaiser Hui sei nicht ihr Vater. Sie seien von fremden Männern gezeugt und von den Hofdamen als Kinder des Kaisers Hui ausgegeben worden. In den Aufzeichnungen des Sima Qian bleibt offen, ob an dieser unwahrscheinlichen Geschichte nicht etwas Wahres sein könnte. Die offizielle Geschichte der Han hingegen äußert sich dazu eindeutig: „Die hohen Beamten einigten sich auf einen Geheimplan: Sie behaupteten, der Kindkaiser Hong und seine drei zu Königen ernannten jüngeren Brüder wären keine Söhne des Kaisers Hui. Dann fällten sie über die Kinder das Todesurteil und inthronisierten den Kaiser Wen.“80

Der Vorgang, der hier klar, aber sehr verkürzt dargestellt wird, spielte sich unter Berücksichtigung aller überlieferten Details etwa so ab: Chen Ping beriet mit den Hofbeamten, wenn man zum Kaiser ernennen könne. Man einigte sich auf Liu Heng, den König von Dai, den dritten Sohn des Gaozu. Als der König von Dai die Nachricht erhielt, vermutete er zunächst einmal eine Falle. Er verdächtigte die Putschisten in der Hauptstadt, dass sie, nachdem sie die Lü ausgerottet hatten, sich auch der Liu entledigen wollten. Dann aber überredete ihn sein Marschall, sich doch in die Hauptstadt zu wagen.

Liu Heng reiste also mit seinem Gefolge ab. An einer Brücke vor der Stadt erwartete ihn eine Abordnung, geführt von Chen Ping und Zhou Bo. An den königlichen Marschall gewandt, meinte Zhou Bo, man habe noch etwas Wichtiges privat zu besprechen. Der Marschall freilich antwortete brüsk, öffentliche Angelegenheiten müssten auch öffentlich besprochen werden. Darauf kniete sich Zhou Bo vor dem König nieder und offerierte ihm das kaiserliche Siegel. Der König lehnte ab und schlug vor, in die Residenz des Königreichs Dai zu gehen und dort die notwendigen Dinge zu regeln. Sima Qian zählt die Namen auf, als sei ihm daran gelegen, auch keinen der Notabeln zu vergessen, die sich in der Residenz nun zweimal verbeugten, um dann zu erklären: „Der Knabe Hong und die anderen sind keine Söhne des Kaisers Hui und haben daher kein Recht, im kaiserlichen Ahnentempel Opfer darzubringen.“81 Die Fürsten und Edlen des Reiches, die Generäle und Minister, berichteten die Bittsteller, seien sich einig, dass der König von Dai ihr Kaiser werden soll. Der König lehnte mehrmals ab, ließ sich dann doch überzeugen, dass er am besten für das Kaiseramt geeignet ist und nahm das Siegel und die kaiserlichen Insignien an. Dazu heißt es in seiner Biographie: „Er sandte den Oberstallmeister Ying und den Fürsten von Dongmou, den Palast für ihn zu säubern.“82

Was genau mit dem „Säubern des Palastes“ (qinggong 清宮) gemeint ist, wird an anderer Stelle beschrieben. Der Fürst von Dongmou, Liu Xingju, ein Bruder des Liu Zhang, war beim Kampf gegen die Lü bis dahin nicht aufgefallen. Die Angehörigen des Königshauses von Qi standen nun unter besonderer Beobachtung. Natürlich waren sie unzufrieden, dass ihr König nicht Kaiser geworden ist, und gewiss fühlten sie sich auch betrogen. Als Unzufriedene waren sie ganz selbstverständlich umstürzlerischer Absichten verdächtig. Zum Beweis, dass auch das Königshaus von Qi den neuen Kaiser loyal unterstützt, meldete sich Liu Xingju freiwillig: „Beim Sturz der Familie Lü habe ich keine Verdienste erworben. Lasst mich nun bitte für Euch den Palast räumen.“83 Die Wachen waren schnell überredet, dem Fürsten von Dongmou und dem Oberstallmeister Zutritt zum Palast zu gewähren. Die beiden teilten dem Kaiser mit, dass er kein Angehöriger der Familie Liu sei, wiesen ihm eine Residenz außerhalb des Palastes an, warteten die folgenden Nacht ab, und ließen ihn und seine Brüder, die Könige von Liang, Huaiyang und Changshan, ermorden.

Chen Ping hatte nun dafür gesorgt, dass ihm keine Feinde nachwuchsen und beim Mord den Kaiser Wen zum Komplizen gemacht.84 Nicht ohne Zynismus fasst der Hofhistoriker den Ausgang der Ereignisse knapp zusammen: „In der Nacht wurden der König von Liang, der König von Huaiyang, der König von Changshan und der Kindkaiser in ihrer jeweiligen Residenz von amtlich eingeteilten Trupps beseitigt. Der König von Dai aber wurde Sohn des Himmels und verstarb nach dreiundzwanzig Jahren auf dem Thron.“85

„Erinnern wir uns doch der Gewaltherrschaft der Kaiserin Lü …“

Der allgemeinen Tendenz zur mythischen Überhöhung folgend, die Helden immer heldenhafter, Heilige immer wundertätiger und Hexen immer boshafter werden lässt, verdüsterte sich das Bild der Lü Taihou nach ihrem Tod. Dazu trug aber auch eine politische Erfahrung bei: Der Witwenpalast entwickelte sich unter den Han zu einem informellen Machtzentrum, das oft genug der offiziellen Regierung Widerpart bot. Die Mutter des Kaisers, seine Gemahlin, die Hofdamen und die Eunuchen machten hier ihren Einfluss geltend. Diese Cliquen repräsentierten wiederum Machtgruppen jenseits der Palastmauern, in erster Reihe die kaiserliche Schwiegerfamilien (Waiqi 外戚) und die Haoqiang 豪强 (die Reichen und die Starken) genannten Verbindungen von reichen, weitverzweigten Sippen und lokalen Schlägerbanden.

Den Konfuzianern diente der Name Lü als Chiffre für die dunklen weiblichen Mächte, die im Verborgenen wirken, um unablässig die brilliante Klarheit der patriarchalischen Regierung einzutrüben. Das „Chaos der Lü“ hieß das Schlagwort, wenn der Einfluss des Witwenpalasts auf die Regierung die Rede war. Als zur Zeit des Kaisers Wu, der Sima Qian als Hofhistoriker beschäftigte, wieder einmal die Thronfolgefrage aufkam, verband sich damit auch gleich die Erinnerung an die Lü Taihou. Der Kaiser war schon über sechzig und hatte sich mit seinen älteren Söhnen überworfen, als ihm seine Konkubine Gouyi noch einen Sohn gebar. Der Kaiser feierte die Geburt des neuen Kronprinzen überschwänglich, aber auch ganz konfuzianisch. Wie der heilige Urkaiser Yao sei der Kronprinz Gouyizi zur Welt gekommen: „Ich habe gehört, dass in alter Zeit die Mutter des Yao vierzehn Monate schwanger ging. Nun trug sich dasselbe mit der Gouyi zu. Deswegen soll die Stätte ihrer Niederkunft fortan Stätte der Mutter des Yao heißen.“86

Ungeachtet des Kultes um die Mutter des Yao, ließ er die Gouyi kurz vor seinem Tode unter einem Vorwand hinrichten. Seinen erstaunten Höflingen erklärte er: „Wenn in der Vergangenheit das Reich ins Chaos stürzte, war der Herrscher jung und seine Mutter stark. Eine Herrscherin, die auf sich gestellt regiert, wird anmaßend und sittenlos und lässt ihren Leidenschaften freien Lauf. Habt ihr nie von der Lü Taihou gehört?”87

Dass eine Frau, die politische Macht hat, Unglück über die Welt bringt, gehörte zu den sicheren Überzeugungen der Konfuzianer. Beim Entwurf ihres Bildes von der lasterhaften, grausamen und machtgierigen Taihou störte die Konfuzianer anfangs noch das Lob aus den Aufzeichnungen. Xun Yue, der nach Sima Qian zweite Historiker, der sich ausführlich mit der Regierung der Taihou beschäftigte, entwickelte dazu eine sehr eigene Theorie. Da waren die beschaulichen, aus den Aufzeichnungen bekannten Zustände im Reich der Lü Taihou: „Strafen wurden selten verhängt. Das Volk arbeitete auf den Feldern. Kleidung und Essen gab es im Überfluss.“ Dann aber rotteten sich die Verwandten der Taihou zusammen: „Die Verbrechen der Lü machten dem Glück ein Ende. Nach und nach verkehrten sich die Verhältnisse. Es kam zu Massenmorden und Giftanschlägen. Die Reichen und die Starken (Haoqiang) breiteten sich aus.“88

Spätere Historiker ignorierten das wohlwollende Urteil des Sima Qian einfach. Im fünften nachchristlichen Jahrhundert erklärte Fan Ye in seiner offiziellen Geschichte der Späteren Han abschließend: „Erinnern wir uns doch der Gewaltherrschaft der Kaiserin Lü, des Lü Lu und des Lü Chan, wie sie die Regierung willkürlich geführt, alles allein bestimmt, das Oberste nach unten gekehrt und auf der ganzen Welt Schrecken verbreitet haben.“89 Damit war bis in die Neuzeit alles gesagt. Selbst der eigenwillige Literat Li Zhi, der Ende des sechzehnten Jahrhunderts verschiedene orthodoxe Geschichtsbilder einer despektierlichen Prüfung unterzog, folgte an dieser Stelle unkritisch der konfuzianischen Darstellung. Seine biographische Notiz über die Kaiserin betitelte er: „Die eifersüchtige, grausame, intrigante und die Macht usurpierende, dem Han Gaozu angetraute Kaiserin aus der Familie Lü.“90

In ihrer Verdammung der Kaiserin Lü und ihrer Verwandtschaft waren sich selbst erbitterte Feinde einig: Als die Rebellenarmee der Roten Augenbrauen die Hauptadt Chang’an besetzte und die Aufständischen die Kaisergräber plünderten, respektierten sie die Sarkophage der Herrscher. Die Leiche der Kaiserin Lü aber rissen sie aus ihrem Grab.91 Liu Xiu, der den Aufstand niedergeschlagen und als Kaiser Guangwu die Han-Dynastie wiederbegründet hatte, stand in seiner Verachtung der Lü Taihou den Rebellen nicht nach. Er verweigerte ihr die „begleitende Speise“ (peishi 配食), also das Opfer, das ihr als Kaiserin und Gemahlin des Gaozu zustand. Zudem verbannte er sie an einen Platz im Garten des Mausoleums, wo ihre Seele nur noch auf ein bescheidenes Opfer Anspruch hatte. Den Ehrenplatz der Gemahlin im Ahnentempel musste sie an die Bo Taihou, die Mutter des Kaisers Wen, abgeben, der nun alle Tugenden zugesprochen wurden, die man an der Lü Taihou vermisste.92

Als Symbol politischer Schurkerei konnten die Kaiserin und ihre Familie sogar Gestalten des Volkskultes werden. Heute noch wird mancherorts das Laternenfest als Siegesfeier über die Lü zelebriert. Und als 1976, nach dem Tod von Mao Zedong, die Verantwortlichen für die „chaotischen zehn Jahre“ der Kulturrevolution gesucht und in der Gestalt der Witwe des Vorsitzenden und ihrer Helfer sogleich gefunden wurden, brauchten sich die Initiatoren der Kampagne gegen die Viererbande keine Sorgen darüber machen, ob die Masse der Bauern und Arbeiter sie verstehen würde, wenn sie von der Kaiserin Lü und der „Lü-Bande“ sprachen 93, die mit ihren verbrecherischen Machenschaften ein Vorbild gewesen sei, zu dem Jiang Qing sich stolz bekannt habe.94

Berlin, im September 2013           © 2013 Ulrich Neininger (u.neininger@hotmail.com)

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Ein guter Vater baut seinen Kindern eine Spielbank

Hervorgehoben



Amanda Kwan & Ulrich Neininger, Notizen zur Politik, Gesellschaft und Kultur im Grenzgebiet von China, Birma und Laos (1).

 

 

Ein chinesischer Investor machte Ferien am Mekong, als er von Thailand aus am laotischen Ufer, im Distrikt Tonpheung, auf einen Wald von blühenden Kapokbäumen aufmerksam wurde. Der Investor Zhao Wei 赵伟 ist Nordchinese, aber, so berichtet er in einem Interview, er habe im Süden, in Kanton, schon einmal Kapokbäume gesehen und wisse seither, dass der Kapokbaum als Baum der Helden den Opfergeist symbolisiere. Um den Wald aus der Nähe zu betrachten, bestieg er ein Boot, überquerte den Fluss und unternahm am anderen Ufer eine kleine Rundreise. Tatsächlich sah er hier, auf der laotischen Seite des Goldenen Dreiecks, eine malerische Landschaft. Eine derart schöne, völlig unberührte Gegend müsse man doch erschließen, sagte er sich. Das sei der richtige Platz, um „einen Beitrag für das Glück der Menschen zu leisten und ein Land des Glücks zu schaffen.“ Weiterlesen

Der Chinese, der Buddha und der Hund. Ein interkulturelles Missverständnis aus der Spätzeit von Angkor


Eigentlich war er ein kluger Beobachter und genauer Schilderer der Dinge. Er war zurückhaltend und abwägend in seinen Äußerungen. Und er war bereit Neues zu lernen. Nachdem Zhou Daguan 周達觀 als Angehöriger einer Gesandtschaft des chinesischen Kaisers 1295/96 sich fast ein Jahr in Kambodscha aufgehalten hatte, gab er vorsichtig zu bedenken: „Brauchtum und Politik des Landes können während eines solchen Aufenthaltes gewiss nicht völlig verstanden werden, doch wenigstens ungefähr lassen sich die Verhältnisse deuten.“1 Trotz seiner Nachdenklichkeit unterlief ihm ein Missverständnis, so skurril aber auch so aufschlussreich, dass es lohnt, sich näher damit zu beschäftigen.

Kambodscha war ein Zentrum der Gelehrsamkeit gewesen, das, solange die Chinesen jenseits ihrer Grenzen buddhistische Inspiration suchten, nach China hineinwirkte. Diese buddhistischen Verbindungen waren aber im dreizehnten Jahrhundert weitgehend in Vergessenheit geraten. Für die Tibeter freilich war Kambodscha noch von Bedeutung. So erklärt sich der Satz, mit dem Zhou Daguan seinen Bericht beginnt: „Das Land Zhenla 真臘 (oder Zhanla 占臘) wird von seinen Bewohnern Ganbozhi 甘孛智 genannt. Unser gegenwärtiges weises Herrscherhaus hat den ähnlich klingenden Namen Ganbuzhi 澉浦只 dem tibetischen buddhistischen Kanon entlehnt.“2 Das mongolische Herrscherhaus der Yuan protegierte den tibetischen Buddhismus, und durch den tibetischen Einfluss kam der Name Ganbuzhi auch in China wieder zur Geltung.

Für die konfuzianischen Historiker hingegen war Kambodscha, das sie erst Funan 扶南 und in der Angkor-Zeit Zhenla nannten, nur einer von vielen Barbarenstaaten, die das Unglück hatten, nicht vom chinesischen Kaiser regiert zu werden. Die Hofhistoriker, die jeder Dynastiegeschichte auch Kapitel über die Fremdvölker einfügten, schrieben über die Jahrhunderte voneinander ab und gaben die Stereotypen in der Abteilung „Südbarbaren“ von Geschichtswerk zu Geschichtswerk weiter. Dazu gehört die Ansicht, dass die Barbaren von schlichtem Gemüt sind, aber sich dann auch als schlau und betrügerisch erweisen können. „Die Menschen in Kambodscha (Funan) sind arglistig und schlau“, heißt es dazu kurz in der Geschichte der Südlichen Qi.3 Barbaren sind auch immer hässlich. Hässlich, schwarz, kraushaarig und nackt – das waren die üblichen Adjektive, die beim Stichwort „Man“ (蠻 Südbarbaren) amtlicherseits Verwendung fanden. Die Geschichtsschreiber der Jin (265-419) hatten den Text vorgegeben: „Die Leute sind alle hässlich und schwarz, binden das Haar zu einem Knoten und gehen nackt und barfuß.“4 Die nächsten Dynastien folgten der Schablone. Zuerst die Liang (502-557): „Die Bewohner dieses Landes sind alle hässlich und schwarz und haben krause Haare.“5 Und dann die Tang (618-907): „Die Menschen dort sind schwarz, laufen nackt herum, haben krause Haare, sind aber keine Räuber.“6

Im Jahre 1277 war Südchina von Kublai Khan annektiert worden. Die Mongolen teilten die Bevölkerung des nun vereinigten Reiches in vier Klassen ein. An erster Stelle standen die Mongolen. Ganz unten, die Nummer Vier, waren die Südchinesen, die nun ihrerseits als „Südbarbaren“ (manzi 蠻子) bezeichnet wurden.7 Die hierarchische Einteilung wirkte sich in der Praxis vor allem auf die Vergabe von Ämtern aus. Die kaiserliche Regierung hatte das Prüfungssystem, das zuvor den Zugang zur Bürokratie geregelt hatte, abgeschafft. Ausgewählt wurde nun in erster Reihe nach ethnischer Zugehörigkeit. Dass Zhou Daguan, der aus dem südchinesischen Wenzhou kam, mit einer Gesandtschaft reisen durfte, war eine Ausnahme, denn die „Manzi“ blieben für gewöhnlich von der Vergabe der Ämter ausgeschlossen. Vermutlich diente er in einer untergeordneten Stelle; der Leiter der Gesandtschaft war wohl ein Mongole.8 Weiterlesen

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Burying the Scholars Alive: On the Origin of a Confucian Martyrs’ Legend

The alleged misdeeds of Qin Shihuang climaxing in his order to bury four hundred and sixty Confucian scholars alive, made material for an often-recalled story during two millennia. In Imperial times, the Chinese elite celebrated this burial as an example of their equals fighting against tyranny without the least fear of death and in modern times no other tale has filled the Anti-Confucian-Campaigners with such delight as that of Qin Shihuang interring the Confucianists deep under the earth.

Among the emperors of China the First Emperor, Qin Shihuang 秦始皇, remained the most famous throughout history. His reputation is founded on his despotism. Yet his actual significance is based on his unification policy: After he had conquered the Six States, he established in 221 B.C. his rule over the whole realm. Under the guidance of his legalist advisers, he introduced an administrative system, that formed the background of Imperial government until 1911. In the course of the unification, he standardized the law, the coinage, the script and weights and measures. All carriages had to have gauges of the same size. To accelerate communication between the capital Xianyang and the provinces, he ordered the construction of a net of roads and channels. Within a decade, Qin Shihuang converted a fractioned feudal society into a centralized bureaucracy. Weiterlesen

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Die Legende vom venezianischen Ritter am Hof des Kublai Khan, nebst der wahren Geschichte vom wackeren Beamten Marco Polo, wie er in China reich wurde und was er seinen Lesern verschwieg

Die Glaubwürdigkeit Marco Polos wurde immer wieder angezweifelt.1 Wie könne er in China gewesen sein, heißt es, wo er doch über so viele unübersehbare Dinge nicht berichtet habe? Die Große Mauer, die doch wirklich nicht zu übersehen ist, habe er nicht beschrieben und weder den Tee noch die chinesische Schrift mit ihren Besonderheiten erwähnt. Auch finden sich in seinem Bericht statt der chinesischen Ortsnamen oft persische und türkische Namen, als habe ein islamischer Reisender den Text verfasst. An einer Stelle behauptet er, Gouverneur von Yangzhou gewesen zu sein, damals eine der größten und reichsten Städte Chinas. Zurecht heißt es, hätte Marco Polo ein derart wichtiges Amt bekleidet, müsste seine Berufung in den Aufzeichnungen der Yuan-Dynastie vermerkt sein. Die Urkunden der Yuan sagen aber dazu nichts. Diese Unklarheiten waren es vor allem, die Marco Polo in Verdacht stellten, er habe irgendwo im Vorderen Orient seinen Bericht aus einer persischen Quelle abgeschrieben, um ihn dann als „Wunder der Welt“ einem europäischen Publikum zu präsentieren. Weiterlesen

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Das China der Europäer (2): Das instrumentalisierte China



(Nachträge zu einem Schluss-Satz).

Die Erwartung, dass „das China der Europäer dem China der Chinesen allmählich ähnlicher wird“, war vor dreißig Jahren, 1981, als dieser Aufsatz in einem Sammelband erschien, durchaus realistisch. Es war am Anfang der Öffnungspolitik: Die chinesische Regierung knüpfte Geschäftsbeziehungen mit dem Westen an; europäische Journalisten wurden in größerer Zahl in Peking akkreditiert; Austauschstudenten und Tausende von Touristen nutzten die neue Reisefreiheit.

 Das Wissen über das zeitgenössische China ist in den vergangenen dreißig Jahren beträchtlich angewachsen. Dennoch ist das europäische Chinabild diffus wie eh und je. Das liegt nicht zuletzt an der chinesischen Zensur, die journalistische Recherche und sozialwissenschaftliche Forschung nur stark eingeschränkt zulässt. Vieles von dem was wir über das heutige China wissen, ist daher spekulativ. Die Spekulationen finden großen Widerhall in einer europäischen Öffentlichkeit, die sich gerne berichten lässt, was in ihr eigenes Chinabild passt. So entstand das China der Unternehmer, das China der Gewerkschaften, das China der Reiseagentu­ren, das China der TCM-Industrie, das China der Menschenrechtsgruppen, das China der Altlinken, das China der ehemaligen Ostblock-Dissidenten und das China der Esoteriker. Sogar die Verwaltung der Berliner S-Bahn schuf sich, um die ständigen Verspätungen zu entschuldigen, ein eigenes China, das, so hieß es, den ganzen Spezialstahl, der zur Wartung ihrer Züge notwendig ist, aufgekauft hat. Weiterlesen

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Das China der Europäer


Beide Seiten hatten früh voneinander gehört: die Chinesen von Europa, repräsentiert durch das römische Reich, das sie Da Qin nannten, und die Europäer von den Chinesen, die sie als die Serer, das Seidenvolk, bezeichneten. Über das Seidenland This heißt es in einem griechischen Text vom Anfang der Zeitenwende: „Das Land This ist nicht einfach zu erreichen, und nur selten kommen Menschen von dort.” Als im Jahr 166 n. Chr. eine Gesandtschaft des Andun (Antonius) am Kaiserhof in Chang’an erscheint, erklärt der chinesische Hofhistoriker, warum es für die Römer so schwierig war nach China zu reisen: „Ihre Könige wollten immer Gesandtschaften nach China schicken, aber die Anxi (Parther) ließen das nicht zu, weil sie um ihren Handel mit chinesischer Seide fürchteten.“ Die Völker an der Seidenstraße fürchteten um ihren Zwischenhandel und verteidigten ihr Monopol mit allen Mitteln. Manchmal brauchte es freilich nur eine List. Ein chinesischer Gesandter, der nach Da Qin reisen sollte, ließ sich von den Parthern am Kaspischen Meer einreden, dass es drei Monate, bei ungünstigem Wind aber zwei Jahre dauere, das Meer zu überqueren. Schlimmer noch: Das Wasser enthielte einen Stoff, der die Seefahrer heimwehkrank werden lasse. Daran seien schon einige gestorben. Der Gesandte kehrte erschrocken wieder um. Weiterlesen

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Das Prinzip der großen Zahl im tibetischen Buddhismus


Die tibetischen Buddhisten glauben, daß der Mensch ein in früheren Leben erworbenes Guthaben an frommen Werken auf die Welt mitbringe, denn die „Ansammlung“ (tshogs bsags pa), so sagen sie, entscheide im Kreislauf der Wiedergeburten über die nächste Existenz einer Seele. Der abgeschiedenen Seele sind sechs Formen künftigen Daseins möglich, drei gelten als leidlich gut, drei als schlecht. Zur guten Seite zählen die Menschen, die Götter und Halbgötter, zur schlechten die Tiere, die umherschweifenden, immer von Hunger gepeinigten Gespenster und die Verdammten in den acht heißen und den acht kalten Höllen. Welchen Platz genau eine Seele schließlich einnimmt, darüber entscheidet allein das Maß ihrer Verdienste oder, nach der negativen Seite hin, das Maß ihrer Verbrechen. Kein Richter hat an der Entscheidung teil. Vielmehr schlüpft die Seele ganz zwangsläufig in die Existenz, die dem Stande ihres Guthabens oder ihrer Schuld entspricht. Gebietet sie endlich über einen unermeßlichen Hort guter Werke, hat sie ein Anrecht auf die Buddhaschaft und kann dem Kreislauf der Wiedergeburten entfliehen. Weiterlesen

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