Das Reisschächtelchen
In einem Dorf lebten vor langer Zeit Nachbarn vom Volk der Wa und vom Volk der Dai, die versuchten, einander durch gute Werke zu übertreffen. Im Dorf wohnte auch ein junger Wa, der arm und stark und fleißig war. Der sagte sich: „Die reichen Dai opfern dem Buddha Gold, Silber und Juwelen. Die reichen Wa stiften Rinder, Schafe und Schweine für die Festmähler. Ich aber bin arm. Ich kann dem Buddha keine Reichtümer opfern und die Nachbarn nicht zum Festmahl laden. Aber dennoch will ich gute Werke tun!“
Als er sah, dass im Dorf die Hütte einer Familie eingestürzt war, schnitt er am Berghang Drachenbambus und Silberhaargras, schnürte das Gras zu Bündeln und baute die Hütte wieder auf. Abends, als die Familie vom Feld zurückkehrte, dankte sie ihm: „Freund, du hast ein gutes Herz. Du hast so schwer gearbeitet. Wie können wir dich dafür entlohnen?“
„Ich brauche keinen Lohn“, antwortete der Bursche.
„Was, du willst gar nichts annehmen?“
„Ich bin arm. Ich kann keine Gaben opfern und keine Gastmähler geben. So habe ich eben eure Hütte wieder aufgebaut.“
Im Dorf gab es einen buddhistischen Tempel, in dem ein einziger Mönch wohnte. Als der junge Bursche während eines Gewitters bemerkte, dass es in den Tempel hineinregnete, holte er, unbekümmert um Blitz und Donner, hurtig eine Leiter und reparierte das Dach. Als der Mönch ihn dafür entlohnen wollte, lehnte er wieder ab: „Ich bin arm. Ich kann keine Gaben opfern und keine Gastmähler geben. So habe ich eben das Tempeldach abgedichtet.“
Da sprach der Mönch: „Du bist jung und eifrig. Lass uns gemeinsam viele gute Werke tun!“
Der junge Wa folgte dem Mönch, und die beiden waren schon überall für ihre Barmherzigkeit bekannt, als sie durch einen tiefen Wald wanderten und unter einem Baum ein Bündel bemerkten. Sie knoteten das Bündel auf und fanden einen Eisenhammer, einen Meißel, ein auf Palmblättern geschriebenes heiliges Buch und einen Wanderstab. „Dieses Geschenk macht uns der Baumgeist“, erklärte der Mönch freudig. „Er will uns helfen, gute Werke zu vollbringen. Nimm du den Hammer und den Meißel. Ich nehme den Stock und das Buch.”
Sie wanderten weiter und kamen in ein Dorf, in dem ein Fürst einen goldenen Palast bewohnte. In dem fürstlichen Dorf las der Mönch einer Witwe aus dem heiligen Buch vor, der junge Bursche brachte ihre Hütte in Ordnung, trug Wasser herbei und war ihr auch sonst in jeder Weise behilflich. Nach einigen Tagen aber nahm der Mönch den Wanderstab und das heilige Buch und zog los, um auf einem weit entfernten Berg die Lehre des Buddha zu verkünden. Der Junge aber wollte bis zu seiner Rückkunft bei der Witwe wohnen bleiben.
Da geschah es, dass der Junge am goldenen Palast vorbeiging und durchs Fenster die zweite Tochter des Fürsten sah. Sie hieß Yi und war unbeschreiblich schön. In Scharen kamen von überall her reiche Männer, die sie zur Frau haben wollten. Sehnsüchtig und ohne Hoffnung dachte der Junge an die schöne Yi, wanderte zum Dorf hinaus und stieg einen Berghang hoch, als er oben an einer Felswand eine Kobra entdeckte, die sich mühevoll in ihre Höhle zwängte. Er dachte bei sich: „Auch eine Schlange hat eine Seele. Helfe ich ihr, so vollbringe ich ein gutes Werk.“ Sogleich hangelte er sich die Steilwand hoch, immer in Gefahr abzustürzen. Dann nahm er Hammer und Meißel und erweiterte dingding dangdang die Felsspalte, die zur Höhle der Schlange führte.
Als nun die Spalte groß genug war, kletterte er wieder hinunter. Kaum stand er auf dem Boden, kam die Kobra aus der Höhle, steckte den Kopf aus der Öffnung und war erstaunt wie leicht sie jetzt hinaus und und hinein schlüpfen konnte. Da rief sie: „Welcher gute Freund hat mir da geholfen die Spalte zu erweitern? Tritt nur hervor, ich möchte dich belohnen. Tritt nur hervor!“
„Ich war’s“, antwortete der Junge und trat unter einer Baumkrone hervor. „Ich wollte dir einfach helfen, damit du es ein wenig bequemer hast.“
„Danke Freund, jetzt ist der Eingang groß genug für mich. Ich wollte mich schon nach einer anderen Höhle umsehen. Da kam deine Hilfe gerade rechtzeitig. Dafür möchte ich dich gerne entlohnen.“
„Ich will keinen Lohn! Auf Wiedersehen, Freund!“
„Warte mal!“, rief die Schlange, kroch in ihre Höhle und kam mit einem Schächtelchen im Maul zurück.
„Hier schenke ich dir eine Reisschachtel. Du musst dazu noch einen Spruch wissen. Wenn du Geld brauchst, sag den Spruch auf und schüttle das Schächtelchen.“
Als der Junge an diesem Abend spät nach Hause kam, setzte er sich zu der Witwe und sagte: „Mutter, kannst du bitte für mich um die Hand der zweiten Tochter des Fürsten anhalten?“
Erschrocken dachte die Witwe bei sich: „Dieser kleine Kerl muss verrückt geworden sein. Hat nicht einmal anständige Hosen anzuziehen und will die zweite Tochter des Fürsten zur Frau haben!” Weil sie aber dem Jungen nichts abschlagen konnte, willigte sie ein.
Am nächsten Tag stimmte sie auf dem Reisstampfplatz des Dorfes ein so großes Geheul an, dass von überallher die Leute zusammenliefen. „Wer jammert denn da so laut?“ Auch aus dem Palast eilten die Höflinge herbei, um zu erfahren, wer da den Dorffrieden stört.
„Der junge Kerl in den geflickten Hosen“, hieß es „will die zweite Tochter des Fürsten heiraten.“
Zurück im Palast erstatteten die Höflinge dem Fürsten Bericht: „Der junge Kerl in den geflickten Hosen will Eure zweite Tochter heiraten.“
Der Fürst wollte das zuerst gar nicht glauben. Dann aber rief er zornig: „Wieviele reiche junge Männer haben sich schon um sie beworben? Und haben sich nicht wunderbar herausgeputzte Burschen in Scharen eingefunden, um unsere Yi zu heiraten? Die Witwe ist wahrhaft dreist! Treibt sie weg!“
Sie jagten die Witwe vom Platz. Mutlos kam sie in die Hütte zurück, berichtete von den Ereignissen und riet dem Jungen alle Hoffnung aufzugeben. Der Junge aber sprach: „Geh noch einmal zum Reisstampfplatz, vielleicht ändert der Fürst doch noch seine Meinung.“
Nur weil die Witwe so großes Mitleid mit dem Jungen hatte, kehrte sie auf den Platz zurück, um wieder durch ein großes Geheul das ganze Dorf aufzustören. Und wieder eilten die Höflinge herbei. Als sie aber diesmal im Palast Bericht erstatteten, befahl der Fürst finster: „Soll er die Yi doch heiraten! Aber zuerst muss er achtzehn Krüge, neun Krüge gefüllt mit Gold und neun mit Silber, bringen. Kann er das nicht, werden wir den seltsamen Brautwerber töten!“
Die Witwe war noch nicht vom Reisstampfplatz zurück, als die Höflinge schon erschienen, um dem Jungen den Befehl des Fürsten zu überbringen. Der Junge aber sagte ruhig: „Dann zäumt schon mal die Maultiere auf, damit ihr die Schätze auch abtransportieren könnt.“
Kaum waren die erstaunten Höflinge fort, nahm der Junge die Reisschachtel und sprach: „Reisschächtelchen, Reisschächtelchen, ich will die Fürstentochter Yi heiraten, ich brauche neun Krüge Gold und neun Krüge Silber.“ Dann schüttelte er das Schächtelchen, und sogleich fiel Gold und Silber heraus, genug um achtzehn Krüge bis an den Rand zu füllen.
Der Fürst erhielt, was er verlangt hatte, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Jungen die schöne Yi zu Frau zu geben. Die schöne Yi liebte ihren Mann sehr. Der Fürst freilich war voller Neid und Hass. So sagte er zu seinen Vertrauten: „Ich will doch wissen, woher der Kerl mit seinen geflickten Hosen solche Reichtümer hat. Sicher verbirgt er irgendwo einen Schatz.“
Anderentags befahl er seine Tochter zu sich und fragte sie nach dem Geheimis ihres Gatten. Yi traute sich nicht ihrem Vater etwas zu verschweigen, und so sagte sie: „Mein Gatte besitzt nur einen Hammer und einen Meißel. Und dann hat er auch noch ein kleines Reiskästchen, das er als besondere Kostbarkeit unter unserem Kopfkissen aufbewahrt.“
Der Fürst wartete bis seine Tochter einmal allein zu Hause war. Dann besuchte er sie. Wie sie sich wegdrehte, um einen Topf Wasser aufzusetzen, griff er unters Kopfkissen und vertauschte das Zauberding gegen ein ganz gewöhnliches Schächtelchen.
Zurück im Palast schüttelte er das gestohlene Schächtelchen und sagte dazu allerlei Sprüche auf. Aber sobald er es öffnete, fand er weder Gold noch Silber. Das Schächtelchen blieb einfach leer. Zornig befahl er seinen Höflingen, die schöne Yi in den Palast zurückzubringen. Ihren Ehemann aber machte er zum Sklaven und verlieh ihn an reiche Familien, wo er den Kuhstall ausmisten, die Pferde striegeln und den Schweinkoben säubern musste.
Da aber kam der Mönch nach seiner Wanderung zurück und hörte von der Bitternis, die der junge Bursche erleiden musste. Er rief ihn heimlich zu sich und gab ihm eine Blume für seine Frau. Es gelang dem Ehemann, man weiß nicht wie, die Palastwachen zu überlisten, die schöne Yi zu sehen und ihr die Blume zu schenken.
Mit der Blume im Haar verabschiedete die schöne Yi ihren Mann. Kaum war er fort, veränderte sie sich auf seltsame Weise. Aus der sanften Fürstentochter wurde ein böses Weib, das im Palast gleich Feuer legte. Kaum hatten die Höflinge das Feuer gelöscht, da zertrampelte sie schon im fürstlichen Garten das Gemüse. Als der Gärtner sie aufhielt, rannte sie in den fürstlichen Kuhstall, scharrte eine Handvoll Mist zusammen, um den Kot in den Brunnen zu werfen und das Trinkwasser zu verseuchen.
Nun holte man den Arzt. Als der aber keinen Rat wusste, ließ der Fürst den Mönch rufen. Der Mönch sprach: „Deine Tochter ist durch die Trennung verrückt geworden. Wenn du sie ihrem Mann zurückgibst, bleiben dir und deinem Reich großes Unheil erspart. Freilich musst du auch deinem Schwiegersohn sein Schächtelchen zurückgeben.“
Als der Fürst zustimmte, das Schächtelchen holen ließ und Befehl gab den seinen Schwiegersohn freizulassen, vertauschte der Mönch in einem unbeobachteten Augenlick die Blume im Haar der Fürstentochter mit einer gewöhnlichen Blume.
Die schöne Yi war nun sanft und freundlich wie zuvor. Sie ging mit ihrem Mann zurück in ihre Hütte, und fortan lebten sie glücklich.
Übersetzt und bearbeitet von Nina Richter & Ulrich Neininger