An einem See wohnte ein armer Waisenjunge namens Lathoi. Der mähte tagsüber für die reichen Familien Gras, hütete ihre Pferde, schlug Brennholz und rodete die Felder. Abends am See aber spielte er auf der Bambusflöte, zur Freude aller, die seinem Spiel zuhörten.
Einmal, in einer hellen Mondnacht, öffnete sich mitten im See eine rote Seerose, und auf der Blüte erschien ein schönes Mädchen im roten Rock, das, als das Flötenspiel verklang, wieder verschwand.
An den folgenden Abenden spielte Lathoi betörender und hingebungsvoller als je zuvor. Dabei öffnete sich jedes Mal die geheimnisvoll leuchtende Seerose, und das Mädchen im roten Rock kam heraus, um dem Flötenspiel zuzuhören.
Hoch über dem See residierte ein Fürst, dem sein Büttel von den merkwürdigen Begebenheiten berichtete. Am nächsten Abend schlichen sich beide Männer den Hang hinunter ans Ufer. Als sie das Mädchen auf der Seerose so betrachteten, fasste der Büttel einen boshaften Plan, den er sogleich seinem Herrn vortrug: „Ehrwürden“, sagte er, „Ihr herrscht über acht Berge und achtzehn Dörfer; Ihr gebietet über jeden Zollbreit Erde, und auch der See gehört Euch. Also gehört Euch auch die Seerose. Eure Diener sollen sie Euch herausholen.“
Der Fürst aber zögerte: „Die Blume hätte ich schon gerne. Aber das Wasser ist doch so tief!“
„Da macht Euch mal keine Sorgen“, meinte nun der listige Büttel. „Wir schneiden Bambus, flechten Seile und bauen ein Floß. Und wenn die Seerose wieder zu leuchten beginnt, fischen wir sie einfach heraus.“
Der Fürst befahl seinen Dienern Bambus zu schneiden, Seile zu flechten und ein Floß zu bauen. Aber als sie dann das Floß zu Wasser ließen und in einer mondhellen Nacht auf den See hinauspaddelten, trieb der Schlag der Wellen die Seerose dem Ufer zu. Da legte Lathoi die Flöte zur Seite und hielt die Blüte, die auf ihn zuschwamm, mit beiden Händen fest.
Der Fürst, sein Büttel und die Dienerschaft paddelten auf ihrem Floß zurück und gingen ärgerlich nach Hause.
Lathoi aber nahm die Seerose mit sich und setzte sie in einen Krug Wasser.
Am nächsten Tag schickte der Fürst seinen Büttel. „Die acht Berge und die achtzehn Dörfer“, sagte er zu Lathoi, „gehören dem Fürsten. Ihm gehören das Land und das Wasser, der See und alle Pflanzen, die im See wachsen. Also gib die Seerose zurück, die du dem Fürsten gestohlen hast!“
„Die Erde und das Wasser“, erwiderte Lathoi, „gehören dem Fürsten. Die Seerose aber gehört mir, denn ich habe sie angepflanzt.“
Der Büttel freilich blieb unnachgiebig: „Alles was angepflanzt wird, hat eine Wurzel. Was aber wurzellos auf dem See treibt, ist Eigentum des Fürsten.“
„Gib mir nur etwas Zeit“, forderte Lathoi, „und ich werde dir die Wurzel zeigen.“
Sie vereinbarten nun die Entscheidung über den Streit aufzuschieben. Wenn Lathoi die Seerose mit der Wurzel vorzeigen könne, solle sie ihm gehören, wenn nicht, so erhält sie der Fürst.
Lathoi stellte den Krug mit der Seerose in einen Tragekorb, nahm Hiebmesser und Tasche und begab sich auf die Suche nach der Wurzel.
Es gab da einen Fluss, der in den See mündete. Diesem Fluss folgte er, bis er nach langer Wanderschaft ein Mädchen aus dem Wasser auftauchen sah. Er setzte seinen Korb ab, nahm die Seerose aus dem Krug und fragte das Mädchen nach der Wurzel. Das Mädchen antwortete: „Ich bin ihre Dienerin. Tief in der Tiefe. Geh nur den Fluss entlang, so wirst du sie finden.“
So wanderte er weiter, bis wieder ein Mädchen aus dem Fluss auftauchte. Er zeigte die Seerose und fragte nach der Wurzel. Das Mädchen antwortete: „Ich bin ihre Dienerin. Eng in der Enge. Geh nur den Fluss entlang, so wirst du sie finden.“
Er war schon sehr weit gewandert, da tauchte ein drittes Mädchen aus dem Fluss auf. Er zeigte die Seerose und fragte nach der Wurzel. Das Mädchen antwortete: „Ich bin ihre Dienerin. Dunkel im Dunkeln. Geh nur den Fluss entlang. An der Quelle beim Bambushain, dort wirst du sie finden.“
Eines Mittags dann erreichte Lathoi den Bambushain. Er streifte durch das dichte Gehölz, als er ein Lachen und Rufen hörte. Verborgen hinterm Blattwerk sah er an der Quelle eine Schar junger Mädchen. Alle waren fröhlich, nur ein Mädchen, das von allen Nang Kaw gerufen wurde, stand traurig abseits. Die Mädchen trugen eine Seerose auf dem Kopf, nur Nang Kaw hatte keine.
„So habe ich also die Wurzel gefunden“, dachte Lathoi, kam aus seinem Versteck hervor und begann auf der Flöte zu spielen.
Alle Trauer war verflogen. Freudestrahlend eilte Nang Kaw auf den Flötenspieler zu.
„Ich bin“, erzählte Lathoi, „um dich zu finden von der Flussmündung bis zur Quelle gewandert und habe überall nach dir gefragt. Ich hatte schon fast die Hoffnung verloren, dich je wiederzusehen.“
„Und ich“, sprach Nang Kaw, „habe auf dich gewartet und konnte vor Kummer weder essen noch trinken.“
Sie wäre nun gerne gleich mit ihm zurück an den See gewandert, aber dazu war die Erlaubnis ihres Vaters nötig, der als König der Blumen, einen Garten nahe der Quelle bewohnte. Lathoi versprach, ihn sogleich in seinem Palast aufzusuchen.
Nang Kaw zog ihren goldnen Ring vom Finger und nahm aus ihrer Umhängetasche einen kleinen, von einem Elfenbeindeckel verschlossenen, hohlen Kürbis. „Diese Dinge“, sprach sie, „werden dir im Palast von großem Nutzen sein.“
Der König in seinem Palast empfing ihn mit finsterem Blick, wollte doch dieser Habenichts Lathoi, dieser Flötenspieler, eine Königstochter heiraten. Er sagte streng: „Dann beantworte mir erst mal drei Fragen! Also nun die erste Frage: Wie heißen die Dienerinnen der Prinzessin Seerose?“
Sogleich antwortete Lathoi: „Sie heißen Tief in der Tiefe, Eng in der Enge und Dunkel im Dunklen.“
Der König, erstaunt über die rasche Antwort, führte Lathoi an einen Tisch auf dem vier Schüsseln standen: eine Schüssel Gurken und eine Schüssel Bohnen, eine Schüssel mit eingelegten Teeblättern, und eine Schüssel mit süßem Reiskuchen. „Welche Speise“, fragte er nun, „hat meine Tochter Nang Kaw zubereitet?“
Unschlüssig stand Lathoi noch vor dem Tisch, als es in dem Kürbis leise summte. Unauffällig öffnete er das Behältnis, aus dem eine Biene herausflog und sich geradewegs auf den Rand der mit süßem Reiskuchen gefüllten Schüssel setzte.
„Es ist die Schüssel mit dem Reiskuchen“, antwortete Lathoi.
So konnte er auch diese Frage richtig beantworten. Nun zeigte der König auf die geflochtene Palastwand. Überall ragten Finger aus dem Bambusgeflecht.
„Welches ist der Finger meiner Tochter Nang Kaw?“, fragte der König.
Heimlich nahm Lathoi den Ring aus der Tasche und fand auch sogleich den Finger von Nang Kaw, auf den der Ring passte.
Da nun alle Fragen richtig beantwortet waren, blieb dem König nichts anderes übrig, als der Heirat seiner Tochter zuzustimmen. Er ließ einen Tragekorb mit Armbändern und Ketten, mit Ohrringen, Gürtelspangen, und Haarnadeln füllen. Das Gold, das Silber und die Edelsteine glänzten hell wie die Sonne. So mit Schmuck beladen, verabschiedeten sich Lathoi und Nang Kaw aus dem Palast und wanderten den Fluss entlang zurück zum See. Die drei Dienerinnen erwarteten sie schon am Wege. Zu Fünfen erreichten sie an einem späten Nachmittag Lathois Dorf.
Der Büttel des Fürsten beobachtete ihre Ankunft. Schnell rannte er den Hang hinauf und berichtete seinem Herrn atemlos die Neuigkeit: „Der Hungerleider Lathoi ist mit vier schmuckbeladenen schönen Frauen, mit der Seerose und der Wurzel zurückgekommen. Wenn Ihr nichts gegen ihn unternehmt, wird er Euch noch den Rang streitig machen.“
„Was soll ich denn tun?“, fragte der Fürst.
„Ruft ihn erst einmal zu Euch. Wir müssen ihn einschüchtern und ihn erschrecken. Am besten wir nehmen ihm die Frauen und all den Schmuck ab und vertreiben ihn.“
Anderntags ging der Büttel zu Lathoi und sagte drohend: „Du kommst aus dem einfachen Volk. Du bist immer arm gewesen. Aber nun hast du vier Frauen, die prachtvoll gekleidet und mit Gold und Silber geschmückt sind. Wie bist du plötzlich zu solchem Reichtum gekommen? Gewiss auf unrechtmäßige Weise. Morgen hast du vor dem Fürsten zu erscheinen. Dem wirst du antworten!“
Als der Büttel fort war, sagte Lathoi bestürzt: „Der Fürst und sein Büttel wollen uns ins Unglück stürzen, was sollen wir nur tun?“
„Ich habe einen Plan“, beruhigte ihn Nang Kaw. „Du gehst morgen zum Fürsten und erzählst ihm, du wärst im Himmel gewesen, und dein ganzer Reichtum sei ein Geschenk des Himmels. Und ihr drei“, sagte sie an die Dienerinnen gewandt, „geht in den Wald, sucht nach den Waben der wilden Bienen und bringt mir Wachs, soviel ihr finden könnt.“
Anderentags trat Lathoi vor den Fürsten und berichtete ihm von seiner Himmelsreise: „Als ein einfacher Mann aus dem Volke durfte ich mir nur vier Frauen aussuchen. Obwohl meine Hauptfrau und die drei Dienerinnen sehr schön sind und alle, die ihnen begegnen, ihre Schönheit rühmen, kann man sie doch nicht mit den Frauen vergleichen, auf die ein Herrscher Anspruch hat. Ein Fürst erhält zehn der schönsten Frauen. Auch der Schmuck, der ihm zusteht, ist unendlich reicher. Ein Fürst bekommt mehr Kostbarkeiten geschenkt als eine lange Maultierkarawane tragen kann.“
Die Augen des Fürsten leuchteten vor Gier. Er fragte: „Kannst du mir sagen, was ich tun muss, um in den Himmel zu reisen?
„Zuallererst müsst Ihr Brennholz für ein großes Feuer aufschichten lassen“, erklärte Lathoi. „Dann könnt Ihr in den Flammen zum Himmel aufsteigen.“
Der Fürst wollte nun gleich den Befehl geben, Holz für einen Scheiterhaufen zusammenzutragen. Sein Büttel aber wurde misstrauisch und fragte: „Und wie sollen wir wissen, dass du uns die Wahrheit erzählst? Vielleicht gibt es im Himmel gar keine Geschenke für uns. Gewiss willst du uns nur in den Flammen umkommen lassen.“
Lathoi entgegnete eilig: „Wenn ihr euch fürchtet, in den Himmel zu reisen, dann kann ich das für euch erledigen. Ich kenne den Weg jetzt gut, da hole ich die Geschenke für euch ab.“
Der Büttel hielt das für einen ausgezeichneten Vorschlag. Der Fürst freilich wandte ein: „Aber nicht, dass du unsere Geschenke für dich behältst.“
Worauf Lathoi beleidigt meinte: „Wenn Ihr mir misstraut, müsst Ihr eben selber reisen.“
So ging es noch eine Weile hin und her. Schließlich einigten sie sich darauf, dass Lathoi in den Himmel reisen und die zehn Frauen und die Ladung Schmuck für den Fürsten abholen solle. Und auch der Büttel würde seinen Anteil bekommen. Lathoi aber sollte sogleich mit den Reisevorbereitungen beginnen.
Während die drei Dienerinnen durch den Wald streiften und Wachs von den Waben der wilden Bienen sammelten, flocht Nang Kaw eine lebensgroße Puppe aus Bambusstreifen, schnitt sich ein Büschel Haar ab und knüpfte daraus eine Perücke, um sie dem Bambuskopf aufzusetzen. Sie nahm Kleider aus Lathois Truhe, zog der Puppe eine Jacke, weite Hosen und Schuhe an und band ihr noch eine breite rote Schärpe um die Hüften.
Als die Dienerinnen nach drei Tagen und drei Nächten aus den Wald zurückkehrten, knetete Nang Kaw das Wachs und formte ein Gesicht, das dem Gesicht ihres Ehegatten genau glich. Die Lippen färbte sie mit den Samen des Anottastrauches, und die Brauen zog sie mit einem Stück Holzkohle nach. Dann wickelte sie noch einen Turban um den Wachskopf.
Lathoi war es, als säße ein Doppelgänger vor ihm auf dem Hocker, so genau war sein Ebenbild geraten.
In der folgenden Nacht trugen sie am Seeufer Brennholz zusammen und setzten die Puppe auf den Holzstoß. Die drei Dienerinnen meldeten dem Fürsten, dass Lathoi zur Abreise bereit sei. Lathoi aber versteckte sich zu Hause.
Es wurde eben hell, als der Fürst und sein Büttel am See eintrafen. Nang Kaw warf eine brennende Fackel auf den Holzstoß, und wie nun die Flammen hochschossen rief sie: „Gute Reise, Lathoi! Und komm nach sieben Tagen wieder zurück!“ Auch die drei Dienerinnen riefen: „Gute Reise!“ Dann war nur noch eine gewaltige Lohe zu sehen.
Nang Kaw schaute zum Himmel und rief bald aufgeregt: „Jetzt ist er am Tor zum Himmelspalast angelangt! Jetzt begrüßt er den Sonnenherrn und die Sonnenfrau. Jetzt setzten sie sich zum Essen nieder!“
Der Fürst aber sagte: „Hoffentlich betrügt er uns nicht um unsere Geschenke!“
Der Büttel aber meinte: „Wenn er nicht mehr zurückkommt, sind wir ihn wenigstens los und haben seine Frauen und seine Schätze als Pfand.“
Sieben Tage später freilich trat Lathoi, frisch eingekleidet wie ein eben zurückgekehrter Reisender, vor den Bergfürsten und meldete sich von seiner Himmelfahrt zurück.
„Der Sonnenherr und die Sonnenfrau waren sehr erfreut von Euch zu hören. Sie haben Euch schon die zehn schönsten Mädchen ausgesucht. Auch Schätze von Gold und Silber liegen für Euch bereit – mehr als eine Maultierkarawane tragen kann. Aber es ist Gesetz des Himmels, dass alle Beschenkten ihre Gaben selbst abholen müssen. So komme ich mit leeren Händen zurück, nur um Euch diese Botschaft zu überbringen.“
Ungeduldig wie der Fürst war, wollte er nun nicht mehr länger warten und schickte seine Diener, die den Gong schlugen und auf den acht Bergen und in den achtzehn Dörfern verkündeten: „Unser Ehrwürdiger Fürst wird zum Himmel aufsteigen. Dem Volk wird hiermit befohlen, Brennholz zu bringen und es vor dem Palast aufzuschichten.“
Die Leute, die dem Fürsten sonst nur widerwillig gehorchten, zeigten sich plötzlich ungemein eifrig. Die aus den Nachbardörfern luden sich so viel Holz in ihre Tragekörbe, dass sie unter der Last fast zusammenbrachen, und die, die weiter weg wohnten, rannten mit ihren Holzbündeln los, um zum Aufschichten noch rechtzeitig zu kommen. So türmte sich rasch ein gewaltiger Scheiterhaufen auf, über dem die Diener ein Bambusgerüst errichteten.
Der Fürst und sein Büttel stiegen auf das Gerüst. Der Fürst schaute ungemein fröhlich drein; der Büttel freilich schien eher bedrückt zu sein, wie einer der nicht so recht an den Erfolg seines Unternehmens glauben will. Wieder warf Nang Kaw die Fackel auf den Holzstoß. Und wie nun die ersten Flammen hochschossen rief sie: „Gute Reise, Ehrwürdiger Fürst! Und vergesst nicht, die zehn schönen Mädchen mitzubringen!“
Als nun die hohen Flammen aufloderten, blickte Nang Kaw zum Himmel und rief: „Oh, die beiden reisen aber schnell! Zuerst ins Hautland! Dann ins Fleischdorf! Dann auf den Knochenberg! Und jetzt stehen sie vor der brennenden Tür! Und jetzt sind sie im Himmel!“
Es vergingen sieben Tage, aber der Fürst und sein Büttel kehrten nicht zurück. Sie waren auch nicht nach sieben Monaten zurück und auch nicht nach sieben Jahren.
Lathoi, Nang Kaw und die drei Dienerinnen aber, lebten ein glückliches Leben bis ins hohe Alter.
© 2012 Ulrich Neininger