Der Elefant und der Tiger gerieten eines Tages in Streit darüber, wen die Menschen mehr fürchten.
„Mich,“, meinte der Tiger, „fürchten sie am meisten. Vor meinen gewaltigen Tatzen zittern sie, und mein markerschütterndes Brüllen treibt sie in die Flucht.“
Der Elefant aber widersprach: „Kein Tier ist so groß und stark wie ich. Außerdem habe ich auch noch diesen langen Rüssel. Natürlich fürchten die Menschen mich am meisten.“
Da nun jeder auf seiner Meinung beharrte und keiner nachgab, forderten sie einander zu einem Wettkampf heraus. Der Verlierer, so einigten sie sich, müsse sich dann vom Gewinner auffressen lassen.
Der Tiger machte den Vorschlag: „Jeder von uns beiden brüllt einmal, dann werden wir sehen, vor wem die Menschen sich am meisten fürchten.“
„Einverstanden!“, sagte der Elefant, hob langsam seinen Rüssel, atmete tief ein und trompetete los, dass es klang wie das Aufheulen eines Sturms. Weil die Menschen nun fürchteten, der Elefant könnte ihre Felder zertrampeln und ihre Hütten zerstören, griffen sie eilig nach ihren Hiebmessern und Speeren und zogen los den Feind zu vertreiben.
„Hab ich dir´s nicht gesagt,“, sprach der Tiger hämisch lächelnd, „vor dir hat doch keiner Angst. Und jetzt lass mich mal!“ Er streckte seinen Nacken hoch, riss sein Maul auf und brüllte, dass die Erde erzitterte.
Als die Menschen das Brüllen des Tigers hörten, fürchteten sie sich vor seinen scharfen Zähnen und seinen mächtigen Tatzen. Sie kehrten schnell um, rannten zurück in ihre Dörfer, flüchteten in ihre Hütten und versperrten die Türen.
„Siehst du“, sagte der Tiger, „sie fürchten mich. Dich aber fürchten sie nicht. Du hast verloren! Und jetzt kann ich dich auffressen!“
Dem Elefanten blieb nichts übrig als seine Niederlage einzugestehen. Er bat sich aber drei Tage Zeit aus, um zu Hause seine Angelegenheiten zu regeln. Der Tiger war damit einverstanden.
Auf dem Heimweg vergoss der Elefant Tränen in Strömen über sein schreckliches Schicksal. So tropfte eine dicke, große Träne auf einen Frosch, der am Wegrand saß. Der Frosch schaute hoch, sah den Elefanten und fragte: „Bruder Elefant, warum bist du denn so traurig?“
Der Elefant erzählte ihm in allen Einzelheiten von seinem Wettstreit mit dem Tiger und sagte auch, dass er in drei Tagen sterben müsse.
„Hab keine Angst“, tröstete ihn der Frosch, „ich werde dir da schon heraushelfen.“
Das konnte der Elefant freilich gar nicht glauben: „Ich bin so stark, und dann schau mal, was für eine langen Rüssel ich habe! Trotzdem hat mich der Tiger besiegt. Wie solltest du mir da helfen können!“
Nachdem die drei Tage abgelaufen waren, suchte der Elefant aber doch den Frosch auf. Der Frosch sprach: „Senk mal den Kopf und streck deinen Rüssel vor.“ Dann hüpfte er mit ein paar Sprüngen auf den breiten Elefantenschädel. Dort blieb er sitzen, und so gingen sie zum Tiger.
Als sie ankamen lag der Tiger vor seiner Höhle. Da bewegte der Frosch genießerisch sein Maul, wie einer der gerade etwas Gutes gegessen hat, schnalzte mit der Zunge und sprach: „Elefantengehirn schmeckt sehr gut. Wirklich gut! Aber ein bisschen anders als das Gehirn des Tigers.“
„Unterschätz mich mal nicht! Schließlich habe ich eben den Elefanten gezwungen, mich zu dir zu tragen, damit ich mich bei dir zu Gast laden und an deiner Mahlzeit teilnehmen kann.“
Der Tiger war nun schon recht gereizt, und so sagte er verächtlich: „Du willst wohl mit mir einen Wettkampf austragen?“
„Wenn du dich traust“, sagte der Frosch und fügte hinzu: „Mach einen Vorschlag. Ich bin mit allem einverstanden.“
Die Tigerhöhle lag nicht weit vom Flussufer. Der Tiger deutete aufs andere Ufer und sagte: „Also gut. Tragen wir einen Wettkampf im Springen aus.“
Der Frosch war einverstanden. Der Tiger, vereinbarten sie, solle als Erster springen. Der Tiger duckte sich, spannte seinen Körper an, presste die Pfoten auf die Erde, nahm all seine Kraft zusammen, um mit einem gewaltigen Satz über den Fluss zu springen.
Wie der Tiger so zum Sprung ansetzte, hüpfte der Frosch nach hinten, klammerte sich am Tigerschwanz fest und sauste mit seinem Tragetier durch die Luft. Bevor der Tiger, noch taumelnd von der Anstrengung, wieder fest auf den Beinen stand, war der Frosch schon weitergehüpft.
Erschrocken hörte der Tiger nun die Stimme des Froschs. Der hockte auf einem Stein, tat so als ob er schwer atme und rief: „Schau her, wie weit ich gekommen bin!“ Dann hüpfte er auf den Tiger zu und sagte: „Da bist du wohl ein ganzes Stück zu kurz gesprungen!“
Wütend fauchte der Tiger: „Das machen wir noch mal! Jetzt springen wir zurück!“
„Wie du willst“, sagte der Frosch, und klammerte sich, als der Tiger geduckt zum Sprung ansetzte, wieder am Tigerschwanz fest. Der Tiger sprang hoch, sauste mit dem Frosch durch die Luft, sprang weiter als je zuvor, überschlug sich fast beim Aufsprung und lag dann völlig erschöpft, platt auf dem Bauch. Da hörte er den Frosch rufen: „Weiter schaffst du es wohl nicht?“
Der Tiger hatte kaum noch genug Kraft den Kopf zu heben, um den Frosch zu sehen, der aus ein paar Schritten Entfernung ihm zurief: „Schau her, wie weit ich diesmal gekommen bin!“
Der Frosch hatte im Sprung dem Tiger drei Schwanzhaare ausgerissen. Mit diesen Haaren im Maul ging er nahe an den Tiger heran, spuckte die Haare aus, deutete auf das erste Haar und sagte: „Ich habe deinen Urgroßvater aufgefressen. Nur dieses Haar ist von ihm übrig geblieben. Von deinem Großvater“, er deutete auf das zweite Haar, „ist nur das übrig.“ Und auf das dritte Haar deutend, sagte er: „Das ist von deinem Vater.“
Als der Frosch nun aber sagte: „Und jetzt bist du dran!“, flehte der Tiger um Gnade. Der Frosch überlegte, gab sich dann milde gestimmt und sprach: „Na ja, dann lasse ich dich laufen! Aber eines sag ich dir: „Lass von nun an meinen Freund, den Elefanten, in Ruhe.“
Der Tiger stimmte eilig zu, und seither greifen der Tiger und der Elefant einander nicht an.
© 2012 Ulrich Neininger