Amanda Kwan & Ulrich Neininger, Notizen zur Politik, Gesellschaft und Kultur im Grenzgebiet von China, Birma und Laos (6).
Deutsche Universitätslektoren in China, die in den neunziger Jahren mit ihren Studenten den in Deutschland populär gewordenen Satz „Wir sind alle Ausländer – fast überall“ diskutierten, erzählen von erstaunten Reaktionen. Die Studenten verstanden nicht wie ein Chinese im Ausland zum Ausländer werden kann, waren sie doch der Meinung, dass ein Chinese immer Chinese und ein Ausländer immer Ausländer bleibt. Wer heute (den chinesischen Messenger-Dienst) Weixin aufruft und in die Flut der Urlaubsbilder eintaucht, wird immer wieder auf (aus europäischer Sicht) seltsame Bildlegenden stoßen. Fotos aus London beim Warten auf die U-Bahn: „Am Bahnsteig ist es sehr voll. Wir fahren zum Trafalgar Square. Die Ausländer fahren spät zur Arbeit.“ Fotos aus einem chinesischen Restaurant in Berlin: „Auch die Ausländer essen mit Stäbchen.“ Ausländer sind eben auch dann Ausländer, wenn sie sich im eigenen Land aufhalten. Chinesen hingegen sind überall Chinesen und bleiben es nach der chinesischen Konvention auch dann, wenn sie aus einer Familie kommen, die seit Generationen im Ausland lebt. So wie es praktisch unmöglich ist, sich als Chinese in einen Ausländer zu verwandeln, ist es fast ausgeschlossen vom Ausländer zum Chinesen zu werden, obwohl es sich bei der letzten Volkszählung (2010) herausgestellt hat, dass es im Lauf der Zeit 1148 Ausländern gelungen ist, (wohl meist durch Heirat) die chinesische Staatsangehörigkeit zu erwerben.1
Die birmanische Idee von der Volkszugehörigkeit ist wie die chinesische strikt an die Abstammung gebunden. Also wie kann man Chinesen (die doch immer Chinesen bleiben) in Birmanen (die schon immer Birmanen sind) verwandeln? Ausgerechnet das nationalistische birmanische Militär versuchte sich nun an dem scheinbar Unmöglichen. Kurz vor ihrer Ablösung erließ die von Thein Sein geführte Militärregierung im März 2016 ein Dekret, das einige zehntausend im Distrikt Tarmoenye (Schan-Staat) angesiedelte Chinesen unter dem Namen Mone-Wun-Birmanen (chin: Mengwen Boma 勐稳帛玛) einbürgerte.
Die Mone Wun zählen, anders als die große Mehrheit der Kokang-Chinesen, stets zur verlässlichen Gefolgschaft des Militärs. So kämpfte ihre Miliz in den achtziger Jahren an der Seite birmanischen Armee im Grenzgebiet gegen die von der Kommunistischen Partei Birmas geführte Aufstandsbewegung. Kommandiert wird die Miliz seit dieser Zeit von U Myint Lwin (chin. Wang Guoda, 王国达), der als Abgeordneter der Union Solidarity and Development Party (USDP) zur Militärfraktion im birmanischen Parlament gehört und ansonsten im Holzhandel und im Drogengeschäft erfolgreich ist.
Die Mone Wun traten zum ersten Mal zur Zeit des Königs Hsinbyushin (reg. 1763-1776) in Erscheinung, als sie im Krieg gegen Siam ein Truppenkontingent stellten. Da sie nun seit mindestens zweihundertfünfzig Jahren in Birma beheimatet sind, kam die Entscheidung ihnen die birmanische Staatsbürgerschaft zu verleihen, gewiss nicht überstürzt. Dennoch wurde der Vorgang zu beiden Seiten der Grenze, in China mehr noch als in Birma, aufgeregt kommentiert. Die Einbürgerung, meldete die Pekinger Parteizeitung Huanqiu Shibao habe in Birma und in China zu großen Protesten geführt.2
In Birma ist nun der Vorwurf zu hören, hier sei eine Volksgruppe für ihre Loyalität zur Militärregierung mit dem Rosa Ausweis belohnt worden. Auch gab es Verwirrung darüber, dass sie Bamar (Birmanen) benannt werden, „wo sie doch so offenkundig chinesischer Herkunft sind.“3
1981 hatte die Militärregierung ihr Volk in naturalisierte, assoziierte und originäre Staatsbürger eingeteilt und diese Einteilung durch farbige Ausweise dokumentiert: grün für die naturalisierten, blau für die assoziierten und rosa für die echten Birmanen. So gelten die in Birma ansässigen Chinesen als assoziierte Bürger, „die beim Besuch einer weiterführenden Schule oder bei der Bewerbung um einen Arbeitsplatzes anders behandelt werden und auch nicht über die vollen Bürgerrechte verfügen.“4 Dabei stellen sie sich noch immer besser als die Inhaber eines grünen Ausweises oder jene Bewohner des Landes, deren Status ungeklärt ist und die nur einen weißen Ausweis besitzen oder denen ein Ausweis ganz verweigert wird.5
In China kam mit der Einbürgerung der Mone Wun sogleich die Frage auf: kann ein Mensch „aufhören Chinese zu sein und sich in einen Birmanen verwandeln (弃汉改缅)“? Für die korrekte Antwort fühlte sich in erster Reihe die lebhafte nationalistische Bloggerszene zuständig, die hier Verräter am Werk sah „die China im Stich lassen und ihre Ahnen verleugnen.“
Die Huanqiu shibao, die sich in ihrem Nationalismus sonst nicht gerne übertreffen lässt, sich aber auch um die guten Beziehungen zu Birma sorgen muss, äußerte sich zurückhaltend über die Konvertiten: „Zuvorderst sind sie Birmanen und nicht Chinesen.“6 Den Bloggern warf die Zeitung vor, sie würden die „Fahne der Ahnen hochhalten“, dabei aber den Amerikanern folgen, die, wie es ihre Gewohnheit ist, falsche, die Welt verwirrende Ansichten verbreiten.
Der Vorwurf, die chinesischen Nationalisten ließen sich von den Amerikanern manipulieren, ist zumindest interessant. Wie üblich bei solchen Konflikten, erteilt die Zeitung verschiedenen Experten das Wort. So wird Zhuang Guotu, ein „Mitglied des Expertenausschusses zur Beratung des Büros für Auslandschinesen im Staatsrat“ mit der Behauptung zitiert, die Mone Wun hätten sich keineswegs in Birmanen verwandelt. Die ganze Aufregung sei durch Übersetzungsfehler verursacht, für die das „Ausland“ verantwortlich sei.7 Tatsächlich genössen sie nur einen Sonderstatus, der sie von den übrigen Chinesen unterscheide. Dass sie die birmanische Staatsangehörigkeit angenommen hätten, sei „keine Schande. Wenn die anderen Gruppen von Auslandschinesen im Norden nach demselben Rezept vorgehen könnten, wäre das eine gute Nachricht für die Chinesen. Wäre nämlich ihr Status in Birma legalisiert, könnten sie die chinesische Kultur und ihre Identität besser bewahren.“ Zum Schluss entschied der Experte weise, es sei doch egal, wie sich die Mone-Wun bezeichnen, entscheidend sei, dass sie als Freunde Chinas handelten.8
Der Konflikt zwischen den westlichen und den traditionalen Ideen von Volk und Territorium zeigt sich bei der Einbürgerung der Mone Wun im wenn auch kleinen Maßstab, beispielhaft. Nach traditionaler Vorstellung waren die „Minderheiten“ (so der moderne Ausdruck) autonome Völker, repräsentiert durch einen Fürsten, einen Stammesältesten oder einen religiösen Führer. Ihr Verhältnis zur Mehrheit des Staatsvolkes war nach altem Brauch und seltener durch schriftlich festgehaltene Verträge geregelt. Der Mehrheitssouverän erwartete dabei von den Minderheiten, dass sie einen wenigstens nominellen Tribut entrichten, den Warenhandel und die Handelswege auf seinem Territorium schützen und vor allem, dass sie Frieden halten.
Das westliche Staatsmodell, das die Einheit von Volk und Territorium voraussetzt, nimmt eine Gesamheit der Staatsbürger an, in der die verschiedenen nationalen Identitäten aufgehoben sind. In der Realität definieren sich die Staatsbürger aber noch immer in erster Reihe über ihr Volk. Sie sind also Lisu, Akha, Wa oder Lahu oder Chinesen. Zu den skurrileren Versuchen den Widerspruch zu lösen, gehört die Einteilung der Staatsbürger von Birma in Menschen mit grünem, blauem, weißem und rosa Ausweis. Sie haben einen Ausweis, also sind sie Staatsbürger. Das Farbenspiel der Papiere zeigt dann freilich, dass es zwischen Staatsbürgern und Staatsbürgern beträchtliche Unterschiede gibt.
Kanton, im Mai 2017