(Nachträge zu einem Schluss-Satz).
Die Erwartung, dass „das China der Europäer dem China der Chinesen allmählich ähnlicher wird“, war vor dreißig Jahren, 1981, als dieser Aufsatz in einem Sammelband erschien, durchaus realistisch. Es war am Anfang der Öffnungspolitik: Die chinesische Regierung knüpfte Geschäftsbeziehungen mit dem Westen an; europäische Journalisten wurden in größerer Zahl in Peking akkreditiert; Austauschstudenten und Tausende von Touristen nutzten die neue Reisefreiheit.
Das Wissen über das zeitgenössische China ist in den vergangenen dreißig Jahren beträchtlich angewachsen. Dennoch ist das europäische Chinabild diffus wie eh und je. Das liegt nicht zuletzt an der chinesischen Zensur, die journalistische Recherche und sozialwissenschaftliche Forschung nur stark eingeschränkt zulässt. Vieles von dem was wir über das heutige China wissen, ist daher spekulativ. Die Spekulationen finden großen Widerhall in einer europäischen Öffentlichkeit, die sich gerne berichten lässt, was in ihr eigenes Chinabild passt. So entstand das China der Unternehmer, das China der Gewerkschaften, das China der Reiseagenturen, das China der TCM-Industrie, das China der Menschenrechtsgruppen, das China der Altlinken, das China der ehemaligen Ostblock-Dissidenten und das China der Esoteriker. Sogar die Verwaltung der Berliner S-Bahn schuf sich, um die ständigen Verspätungen zu entschuldigen, ein eigenes China, das, so hieß es, den ganzen Spezialstahl, der zur Wartung ihrer Züge notwendig ist, aufgekauft hat.
Über das instrumentalisierte China werde ich noch weiterberichten. Hier ein Abschnitt über das China der Demographen:
China in der Theorie vom Raum ohne Volk
Der Hinweis auf die große Zahl von Chinesen wirkte im Westen immer beunruhigend. Das Schlagwort „Gelbe Gefahr“ verband sich in erster Reihe mit Begriffen wie „Flut, anfluten, überfluten“ und ließ den Bürger befürchten, die Flut könnte jederzeit über seine Kleinstadt hinwegschwappen: Eines Morgens würde er aufwachen und eine vierzehnköpfige chinesische Familie hätte seine Ikea-Gartenmöbel okkupiert, um dann mit dem hintergründigen Lächeln, das den Chinesen eigen ist, höflich die Hausschlüssel zu fordern.
Dazu wird es nicht kommen.
Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung teilte unlängst mit, dass die Chinesen „einen Rückgang von etwa 6 Kindern je Frau auf 1,5 zu verkraften“ haben. Zwar werden die Chinesen auf absehbare Zeit nicht aussterben, aber die Flutwarnung hat sich damit wohl erledigt.
Nun könnten die Deutschen, sollte man meinen, erlöst vom Menetekel der Gelben Gefahr, es sich auf ihrer Gartenbank gemütlich machen und zuschauen, wie die Chinesen immer weniger werden. Reiner Klingholz, der Direktor des Berlin-Instituts, das sich die Aufgabe gestellt hat „die öffentliche Wahrnehmung der weltweiten demografischen Veränderungen zu verbessern“ warnt uns aber im Spiegel (30. Aug. 2010) vor Fahrlässigkeit. Die wirklichen Gefahren stehen uns nämlich erst bevor: Bald müssten wir mit den Chinesen um Menschen konkurrieren.
Hier hat sich eine bemerkenswerte Wende vollzogen: Die Warnung vor der chinesischen Flut war traditionell mit der Klage verbunden, für die vielen Deutschen sei Deutschland zu klein. Die Deutschen ließen sich einreden, ein Volk ohne Raum zu sein. Freilich, nachdem die Unternehmen zur Raumerweiterung zweimal gründlich missglückten, arrangierte sich das Volk ganz komfortabel in dem verbliebenen Kleindeutschland.
Neuerdings gewinnen die Raum-Volk-Theorien wieder zunehmend Anhänger. Der Theorie „Volk ohne Raum“ folgt nun die Theorie vom „Raum ohne Volk“. Klingholz verweist auf die abnehmende Bevölkerung in Ostdeutschland: „Schon sind Luchs und Wolf zum Demografiefolger der Deutschen geworden.“ Und er fragt sich, was aus den „aufgehübschten Altstädten, den sanierten Schlössern und Burgen, dem restaurierten Unesco-Weltkulturerbe in den neuen Bundesländern werden soll.“
Um das weitere Vordringen der Wolfsrudel in den menschenleeren Raum abzuwehren, fordert Klingholz eine „Besiedlungspolitik“. Ohne diese Politik würde es schlimm enden: „Das Durchschnittsalter in Deutschland würde bis 2050 Richtung 60 Jahre steigen, über 15 Prozent der Bürger wären über 80 und von diesen ein Drittel dement. Eine solche Gesellschaft wäre nicht mehr in der Lage, in der globalen Wirtschaft eine Rolle zu spielen.“
Man mag es sich gar nicht vorstellen: Im Jahr 2050 durch einen tiefen, von Wolfsrudeln bewohnten Wald zu einem der sanierten und nun wieder verfallenden Schlösser aus dem Unesco-Weltkulturerbe zu stapfen und dabei sorgenvoll an Deutschland zu denken, das, bevölkert von Alzheimer-Patienten in der globalen Wirtschaft keine Rolle mehr spielt. Man könnte dann, heißt es, „Begriffe wie Grenzsicherung getrost aus dem Duden streichen“. Der Duden erklärt den Begriff Grenzsicherung unter dem Stichwort Grenztruppe. „Grenztruppe: Teil einer Armee, dessen Aufgabe die Grenzsicherung sowie die Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung im Grenzgebiet ist.“ Deutschland ist von Schengen-Staaten umgeben. Was gibt es da zu sichern? Wo muss an der Grenze Ordnung geschaffen werden? Zumal die Gelbe Flut doch gerade abgesagt worden ist. Fürchtet der Autor die arbeitslosen spanischen und griechischen Jugendlichen, die zu Millionen in unseren „aufgehübschten Altstädten“ leerstehende Wohnungen besetzen könnten?
An diesem Punkt ist auf eine Unterscheidung hinzuweisen, die der Raum-ohne-Volk-Theorie heilig ist: Es gibt gute Demografiefolger und schlechte Demografiefolger. Schlechte Demografiefolger sind der Luchs und der Wolf (tun nichts für das Bruttosozialprodukt), junge Südeuropäer (tun zu wenig für das Bruttosozialprodukt, sind dabei nicht billig und lassen sich nur schwer ausbeuten), kurdische Taglöhner, Sinti und Roma und andere Menschen, die sich nicht unter die Rubrik „Fachkräfte“ einordnen lassen. Die denkbar schlechtesten Demografiefolger sind freilich die Schwarzafrikaner, von denen es, wie der Spiegel-Artikel schaudernd anmerkt, im Jahr 2050 gleich zwei Milliarden geben wird. So bedroht uns die Schwarze Flut.
Wer nun meint, die Chinesen seien, weil die Gelbe Flut ausbleibt, keine Gefahr mehr für uns, versteht nichts von Demografie. Tatsächlich gehen nämlich im Jahr 2050 unverhältnismäßig viele Chinesen in Rente. Aber nichts ist gefährlicher als eine Flut chinesischer Rentner. Um diese nämlich in der Arbeitswelt zu ersetzen, könnten die Chinesen alle Computer-Inder, die dann noch, weil die europäischen Regierungen die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben, unbeschäftigt sind, anwerben. „Und“, so warnt uns der Artikel, „wenn China erst beginnt zu rekrutieren, bleibt für das gute alte Europa nichts mehr übrig.“
Der Autor sagt von sich, er vertrete die Meinung einer Minderheit. Freilich hätten inzwischen auch andere „Minderheiten wie der Wirtschaftsminister, die Arbeitgeberverbände, der DIHK oder der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau“ das Problem erkannt.
Ausländer in China arbeiten für westliche Firmen oder an den Botschaften. Ausländer, die Englisch unterrichten, gibt es auch viele. Und in den ganz teuren Bars von Shanghai und Peking soll, so heißt es, eine kleine Schar Osteuropäerinnen arbeiten. Als nennenswerte Gruppe von Arbeitsmigranten können aber eigentlich nur die Afrikaner gelten, die in Kanton hauptsächlich im Textilhandel tätig und von den Behörden aus alter Freundschaft zu Afrika und als Abnehmer von Billigwaren geduldet sind. Im Stadtbild bemerkbar machen sich Ausländer sonst nur im Pekinger Studentenviertel Wudaokou und im Diplomatenviertel Sanlitun, dem Treffpunkt der Pekinger Prada-Porsche-Szene. Insgesamt aber liegt der Ausländeranteil in China unter 0,01 Promille. Dennoch befinden wir uns derzeit mitten in der „Drei Illegal“ – Kampagne, die den Eindruck erweckt, als würde China von arbeitslosen Amerikanern und Europäern überrannt. Wie immer bei solchen Kampagnen melden sich auch sogleich die schrilleren Stimmen zu Wort. So schreibt Yang Rui, Moderator des englischsprachigen Kanals des staatlichen Fernsehens in einem Mikro-Blog: „Das Amt für Öffentliche Sicherheit will den ausländischen Müll hinauskehren: Um ausländische Gauner festzunehmen und unschuldige Mädchen zu beschützen, muss es seine Wachsamkeit auf die Gefahrenherde in Wudaokou und Sanlitun richten. Schlagt die ausländischen Schlangenköpfe ab! Leute, die in den USA und in Europa keine Arbeit finden, kommen nach China, um uns das Geld aus der Tasche zu ziehen ….“ Der Eintrag wurde, vielleicht weil das Wall Street Journal (18. Mai 2012) darüber berichtet hat und wohl auch weil der Verfasser im selben Blog eine Journalistin des arabischen Fernsehsenders Al-Jazeera ein Flittchen genannt hat, gelöscht.
Der Spiegel und seine Publizisten sagen voraus, dass China eines Tages aller Welt die Fachkräfte abwerben wird. Die Chinesen wissen davon noch nichts und scheinen auf eine Masseneinwanderung nicht so richtig vorbereitet zu sein. Das Jahr 2050 wird interessant werden.
Lesen Sie den ersten Aufsatz unter: Das China der Europäer
Peking, im Juni 2012 © 2012 Ulrich Neininger (u.neininger@hotmail.com)