Beide Seiten hatten früh voneinander gehört: die Chinesen von Europa, repräsentiert durch das römische Reich, das sie Da Qin nannten, und die Europäer von den Chinesen, die sie als die Serer, das Seidenvolk, bezeichneten. Über das Seidenland This heißt es in einem griechischen Text vom Anfang der Zeitenwende: „Das Land This ist nicht einfach zu erreichen, und nur selten kommen Menschen von dort.” Als im Jahr 166 n. Chr. eine Gesandtschaft des Andun (Antonius) am Kaiserhof in Chang’an erscheint, erklärt der chinesische Hofhistoriker, warum es für die Römer so schwierig war nach China zu reisen: „Ihre Könige wollten immer Gesandtschaften nach China schicken, aber die Anxi (Parther) ließen das nicht zu, weil sie um ihren Handel mit chinesischer Seide fürchteten.“ Die Völker an der Seidenstraße fürchteten um ihren Zwischenhandel und verteidigten ihr Monopol mit allen Mitteln. Manchmal brauchte es freilich nur eine List. Ein chinesischer Gesandter, der nach Da Qin reisen sollte, ließ sich von den Parthern am Kaspischen Meer einreden, dass es drei Monate, bei ungünstigem Wind aber zwei Jahre dauere, das Meer zu überqueren. Schlimmer noch: Das Wasser enthielte einen Stoff, der die Seefahrer heimwehkrank werden lasse. Daran seien schon einige gestorben. Der Gesandte kehrte erschrocken wieder um.
So lieferten die Chinesen einen beträchtlichen Teil ihrer Seidenproduktion in ein Land, das sie nicht kannten. Von ihrer exotischen Kundschaft machten sie sich dabei ein Bild, das überraschend freundlich ausfiel: „Die Einwohner sind aufrichtig und von großer Gestalt. Ihre Art sich zu kleiden, ihre Wagen und Banner gleichen denen der Chinesen, andere ausländische Völker nennen sie daher Da Qin.” (Qin, wie das alte Königreich im Westen Chinas). Ein überraschender Satz, widerspricht er doch klassischen chinesischen Denkmustern. Danach ist das Reich der Mitte an seiner Peripherie von Barbaren besiedelt, deren Wildheit zunimmt, je weiter sie von der Mitte und vom kultivierenden Einfluss des Kaisers entfernt sind. Die Seide war aber Zeichen einer hohen Kultur. Nun schlossen die Chinesen wohl aus dem Seidenverbrauch, dass die Römer ihnen, obwohl sie am Rand der Welt leben, ähnlich sind.
Den Römern hingegen, soweit sie als Fürsprecher der alten römischen Tugenden auftraten, galt der Seidenverbrauch keineswegs als Ausdruck einer hohen Kultur. Die chinesische Seide, hieß es, korrumpiere die römische Gesellschaft. Sie galt als Luxusgut, das die Sitten verderbe und die Staatsfinanzen zerrütte. So versuchte Kaiser Tiberius die Mode durch Verbote einzudämmen. Dekadente Kaiser aber gingen mit der Mode. Berühmt wurden die Auftritte des Caligula, der seinem Volk als Venus erschien und sich dazu in Seidengewänder hüllte. Auch Kaiser Elagabal, der den römischen Historikern als Inbegriff der Sittenlosigkeit galt, hatte eine Vorliebe für Seide, und es hieß, er kleide sich nach Art der Barbaren. Seneca und andere Anhänger des einfachen Lebens beklagten die immensen Kosten – verschwendetes Geld, das an die Serer fließe.
Chinesische Seide blieb auch in den folgenden Jahrhunderten ein wichtiges Handelsgut in Europa. Direkte Handelsverbindungen gab es aber weiter keine, zumal in Rom wie in China sich die politischen Verhältnisse zusehends destabilisierten, bis schließlich das Entstehen der islamischen Großreiche einen direkten Austausch zwischen Europa und China in wahrhaft weite Ferne rückte. Zudem verlor sich mit dem Niedergang der antiken Kulturen und der Verbreitung des Christentums das europäische Interesse an einer rationalen Erklärung der Welt. Im unbekannten Asien war Raum für die seltsamsten biblischen Geschichten. Man vermutete dort die Pforten der Hölle oder auch das Tor zum Paradies. Hinter einer großen Mauer würden sich die zehn Verlorenen Stämme Israels finden. Auch säßen dort die Völker Gog und Magog gefangen, um am Tag der Apokalypse aus ihrem asiatischen Gefängnis herzuvorbrechen.
So vergingen nach den ersten vereinzelten Begegnungen im Altertum an die tausend Jahre bis unter der Pax Mongolica der Weg in den Fernen Osten frei wurde. Nun nutzte eine Reihe europäischer Reisender die neue Freiheit des mongolischen Reiches, das die Ränder Europas beherrschte und sich bis nach Südchina ausdehnte. Wilhelm von Rubruk, ein flämischer Mönch im Dienste des französischen Königs, erreichte 1253 die mongolische Hauptstadt Karakorum und schrieb auf Latein einen Bericht, der die ersten konkreten Nachrichten über das Land Catai (China) enthielt. Die Chinesen, so berichtet er, die in Karakorum ein eigenes Stadtviertel bewohnten, hätten eine Zeichenschrift, schrieben mit Pinseln und verteilten beschriebene Blätter als Zaubermittel an die Wände ihrer Tempel. Er berichtet auch von dem Papiergeld, dass in ihrem Lande im Umlauf sei. Auch ein erstes Wunderwerk war zu vermelden: Es gäbe ein Götzenbild, so groß, dass man es aus einer Entfernung von zwei Tagesreisen sehen könne.
Die große Menge an Informationen erreichte Europa dann mit dem Bericht des Marco Polo. Nach siebzehn Jahren im Land verfasste er eine Beschreibung des chinesischen Reiches, die für die nächsten Jahrhunderte das europäische Chinabild bestimmen sollte. Dabei stand er von Anfang an im Verdacht ein Aufschneider, ein Messer Milione zu sein.
Marco Polo erklärte China zum Land der Wunder. Doch auch die wundergläubigen Menschen des Spätmittelalters hegten gelegentlich Zweifel, ob das mit den Wundern seine Richtigkeit hat. Oderico von Pordenone, der um das Jahr 1325 Hangzhou besucht hatte, versichert seinen Lesern, dass das alles schwer zu glauben, aber doch wahr sei: „Es ist die größte Stadt der Welt, so groß, dass ich kaum davon zu sprechen wagte, gäbe es in Venedig nicht so viele Leute, die dagewesen sind.“ Bei aller Klarsicht wähnt Pater Oderico bei den Heiden im Zweifelsfall den Teufel am Werk. Als er am Kaiserhof beobachtete, wie die Höflinge durch ein Händeklatschen die Flügel der Goldenen Pfauen in der Thronhalle bewegen, um so ihren Herrn erheitern, hält er es zwar für möglich, dass der Zauber – im Mittelhochdeutsch seines ersten Übersetzers gesprochen, „mit verpórgn snurn“ bewirkt wird. Um dann zum Schluss zu kommen: „Doch sicherlich die phaben lebnt nicht, ez sind gemachte pild von menschlichn sinn mit des pósen geisteß krafft.“
China blieb eingewoben ins spätmittelalterliche Mythengeflecht. Erst die Jesuitenmission, die sich 1563 zunächst in Macao und 1601 in Peking etablierte, befreite das europäische Chinabild von den mythischen Überlagerungen. Als Vorstufe zum Christentum stellten die Jesuiten den Konfuzianismus ins denkbar günstigste Licht: Sie verglichen Konfuzius mit den bedeutenden Philosophen der griechisch-römischen Antike und rühmten die Auswirkung seiner Prinzipien auf Staat und Gesellschaft: der chinesische Kaiser herrsche gütig und gerecht, assistiert von Beamten, die ein gewissenhaft angewandtes Prüfungsverfahren unter den Fähigsten und Tugendhaftesten des Reiches ermittelt habe. Das Volk entgelte seine Fürsorge durch Edelmut, Gemeinsinn und Friedfertigkeit. So sei die Wohlfahrt der Nation allenthalben vorbildlich gesichert.
Weite Publizität erhielt China durch den „Ritenstreit“, der für ein Jahrhundert die europäische Öffentlichkeit so beschäftigte, dass noch Voltaire dazu schreiben konnte, dieser Zwist sei „bekannter als der Trojanische Krieg“. Der Ritenstreit war unter den Angriffen der Franziskaner und Dominikaner auf die jesuitische Missionsstrategie ausgebrochen. Die Mendikanten forderten einen päpstlichen Bannbrief, der christliche Religion und konfuzianischen Ritus für miteinander unvereinbar erklären sollte. Die Jesuiten verteidigten ihren Standpunkt durch eine umfangreiche Korrespondenz, etliche gelehrte Abhandlungen und einige annotierte Übersetzungen konfuzianischer Schriften. Die lateinisch oder französisch abgefassten Originalwerke wurden meist in die wichtigsten Sprachen übertragen; derart verbreitete sich ein teils grotesk idealisiertes, aber um eine Fülle von philosophischen, religionsgeschichtlichen und volkskundlichen Einzelheiten bereichertes Chinabild.
Mit dem 1615 in Amsterdam verlegten De Christiana Expeditione apud Sinas, in dem Nicolas Trigault die nachgelassenen Aufzeichnungen Matteo Riccis zu einem „wolgegründten bericht von beschaffenhaitt deß Landts und volcks, auch desselbigen gesatzen, Sitten und gewonhaitten“ verwertete, beginnt die literarische Wirksamkeit der Pekinger Mission. Während Trigault sich gelegentlich auch durchaus kritisch äußert und sein Lob dahin einschränkt, dass „die Menschliche boßheit bißweilen einen riß inn dise gute Ordnung“ mache, verzichten spätere Autoren auf jeden Tadel, der die Vorstellung vom mustergültig geordneten chinesischen Staat im mindesten hätte trüben können.
Die Darlegungen der Jesuiten fanden höchst aufmerksame Leser: „Wer hätte ehedem geglaubt“, kommentiert Leibniz überrascht, „dass es auf unserer Erde ein Volk gibt, das, obwohl wir uns auf allen Gebieten so erhaben dünken, die Gesetzmäßigkeiten staatlichen Lebens noch besser versteht als wir?“ (Novissima Sinica, Vorwort, Hannover 1697). Die moralische Vollkommenheit der Chinesen wurzle in ihrer „natürlichen Theologie“, erklärt Leibniz weiter. Ihnen gebühre eigentlich der goldene Apfel im Vergleich der Nationen, wären sie nur im Besitz der christlichen Offenbarung. Und: es sei zu überlegen, ob man nicht konfuzianische Missionare zu Hilfe rufe, um die abendländische Sittenverderbnis einzudämmen.
Große Hoffnungen richteten sich also auf China. Den deutschen Fürsten rät Leibniz feste Verbindungen mit dem östlichen „Anti-Europa“ zu knüpfen. Deutlich hat er dabei die Vision einer Welt vor Augen, die von zwei geistigen Drehpunkten aus zur Einheit geführt wird. Er empfiehlt, Akademien in China und Europa zu gründen, um das gesammelte Wissen beider Kulturkreise auszutauschen und zu verbreiten. Die gelehrte Korrespondenz sei auf Chinesisch abzufassen, das sich wegen seiner lautunabhängigen Bilderschrift zur internationalen Verständigung vorzüglich eigne.
Die Flut der erstaunlichen Nachrichten aus dem Reich der Mitte versuchte der vernunftorientierte Zeitgeist auf seine Weise zu bewältigen: die Vermutung, dass das chinesische Denken von einer verborgenen Rationale bestimmt sei, die es herauszufinden gelte, gab der frühesten sinologischen Forschung ihre besondere Ausrichtung. Dafür ist die verbissene Suche nach dem clavis sinica, dem Schlüssel, der die verwirrende chinesische Piktographie mit einem Mal zugänglich machen sollte, ebenso kennzeichnend, wie das eifrige Bemühen, im urtümlichen Buch der Wandlungen (Yi jing) den göttlichen Schöpfungsplan zu entdecken, den man hier in vierundsechzig Hexagrammen aufgezeichnet glaubte.
Der leibnizsche Aufruf, die konfuzianische Sittenlehre auch für Europa zum Richtmaß zu erklären, fand in der Aufklärung ein Echo: Voltaire, der schon als Jesuitenzögling von der Sinomanie erfasst worden war, glaubte das aufklärerische Gesellschaftsideal seit Jahrtausenden in China verwirklicht, wo die natürliche, von kirchlichen Dogmen unverfälschte Religion die Menschen vor Priesterherrschaft, Ketzerverfolgungen und Konfessionskriegen schütze und die Toleranz die eigentliche nationale Tugend darstelle. Auch das chinesische Regierungssystem schien den Idealen der Aufklärung genau zu entsprechen. Hatte nicht schon Trigault versichert: „Obwol die König in China nicht gelehrt oder Philosophi seind, so werden doch alle ämpter mit denselbigen besetzt, dermassen, das man sagen mag, die Philosophi besitzen zwar das Königreich nicht, regiern aber den König.“ Eine Übereinstimmung mit aufklärerischen Grundsätzen wollte man desgleichen im konfuzianischen Erziehungswesen erkennen, das jedem Bauernburschen den Aufstieg in die höchsten Staatsämter offenhalte.
Für den französischen Physiokraten François Quesnais, den seine Anhänger „le Confucius européen“ nannten, war die chinesische Agrarverfassung, mit dem Kaiser als ersten Bauern des Reiches, der reine Ausdruck des Naturrechts. Im Kampf gegen den Merkantilismus forderte er, die Welt nach dem Vorbild Chinas umzugestalten, mithin die Landwirtschaft als einzige Grundlage des gesellschaftlichen Wohlstands anzuerkennen, Handel und Gewerbe auf das Notwendige einzuschränken und jeden Luxus zu meiden. Eine kuriose Begebenheit verdeutlicht den zeitweiligen Einfluss dieser Theorien auf die bourbonische Politik: Ludwig XV. eröffnete 1756 die Frühjahrsbestellung nach konfuzianischem Ritual, das dem Monarchen vorschreibt, eigenhändig den Pflug zu führen.
Die Aristokratie fasste eine besondere Vorliebe für exotische Dinge: man schwärmte für Porzellan, Lackarbeiten und Seidenstoffe, richtete in den fürstlichen Residenzen „chinesische Zimmer“ ein und gestaltete Gärten und Pavillons nach chinesischem Geschmack. Versailles war auch in der China-Mode tonangebend; als Ludwig XIV. ein Lusthaus im Pagodenstil erbauen ließ (Trianon de porcelaine, 1671), taten es ihm seine ausländischen Bewunderer eifrig nach, so der bairische Kurfürst mit der Pagodenburg (1719). Im Rokoko rückte der China-Kult ganz in den Mittelpunkt der höfischen Kultur. Es wurde nun üblich, die barocken, streng symmetrischen Grünflächen aus der Zeit des Sonnenkönigs einzuebnen und der Natur nachempfundene, durch Pagoden, Tempel und Brücken verschönerte chinesische Gärten anzulegen. Die gaben die Kulisse ab für Maskeraden und theatralische Unternehmungen im Zeichen des gelben Drachen. Eine weitläufige Anlage, in die das chinoise Dorf Moulang mit etlichen Wohnhäusern, Stallungen und einem „Tantze Sahl“ gestellt wurde, entstand 1781 auf Weisung des hessischen Landgrafen. Moulang verfiel allmählich; unversehrt erhalten dagegen ist der Garten von Oranienbaum (bei Dessau, 1795) mit fünfstöckiger Pagode, Inselteehaus und hochgewölbten Brücken.
Auch auf der Bühne kam die Sinomanie zum Ausbruch. Voltaire bearbeitete für das empfindsame Publikum ein Drama aus der Yuan-Zeit: L’Orphelin de la Chine, ein pathetisches Preislied auf die konfuzianische Ethik. Es entwickelte sich zu einem Zugstück, das in etlichen Fassungen, auch als Oper und Ballett, die fühlsamen Seelen anrührte. In Venedig brachte Carlo Gozzi sein tragikomisches Märchen von der chinesischen Prinzessin Turandot zur Uraufführung, das ebenfalls einige Nachdichtungen und zwei große Opern inspirierte. Gozzi, der noch ganz im Stil der Commedia dell’arte schrieb, versetzte die obligaten Harlekine in die Verbotene Stadt. Den Truffaldino, der in keiner Stegreifkomödie fehlen darf, beförderte er zum Obereunuchen im kaiserlichen Serail: der mit Fistelstimme radebrechende Zopfchinese etablierte sich auf Dauer in der europäischen Folklore.
Als die Französische Revolution das Ancien Régime zerschlug, war auch der China-Kult getroffen. Mit dem Absterben der höfischen Theaterkultur verschwanden die edlen, sentimentalen Exoten, der Orphelin und die Seinen, von der Bühne, der bezopfte Truffaldino indes begann auf den Jahrmärkten eine zähe Existenz zu führen. Einesteils brachte die Ästhetik des bürgerlichen Zeitalters das freundliche Chinabild zum Verblassen, vielmehr aber wirkte sich aus, dass China seine im Abendland beredtesten Fürsprecher verlor, als die Gesellschaft Jesu 1773 durch päpstliches Dekret aufgelöst wurde. Von nun an bestimmten weniger wohlgesonnene Beobachter, zumeist aus der wachsenden Schar der europäischen Kaufleute, den Akzent der Berichterstattung. Wie vor ihnen die Jesuiten, so urteilten auch die Händler durchaus einseitig über ihr Gastland, doch mit umgekehrten Vorzeichen: eine Nation von abgefeimten, starrsinnigen Betrügern, das seien die Chinesen.
Dem fortschrittsgläubigen neunzehnten Jahrhundert erschien China als unbeweglich rückständiger Koloss, dem der progressive Westen die moderne Zivilisation aufzwingen müsse. Das konfuzianische Dogma einer idealen Einheit von Gegenwart und Altertum wurde, zunächst von J. G. Herder, als Beschreibung der realen Verhältnisse missverstanden und dahin ausgelegt, das chinesische Reich sei eine hieroglyphenbemalte, seidenumwundene, balsamierte Mumie, deren innerer Kreislauf dem Leben der schlafenden Wintertiere gleiche. Ähnlich äußerte sich Hegel: „das Statarische, das ewig wiedererscheint“, ersetze hier das Geschichtliche; und Ranke fügte hinzu, das Vordringen des englischen Kolonialismus durchbreche den „ewigen Stillstand“, so unterwerfe sich China gleichsam dem europäischen Geiste. Selbst Karl Marx begrüßte den wachsenden imperialistischen Druck auf das „lebende Fossil“: nur Gewalt von außen könne die hermetische Abriegelung des chinesischen Reiches sprengen und seine Entwicklung zur modernen Industriegesellschaft einleiten.
In der schönen Literatur geriet „China“ zur Metapher für die geistige und soziale Erstarrung konservativer Gesellschaften. So spottet Heine in seinen „Zeitgedichten“ über den preußischen „Kaiser von China“ (Friedrich Wilhelm IV.), dessen „Hofweltweisen Confusius“ (Schelling) und die „Mandarinenritterschaft“, die dem Traum nachhingen:
Es schwindet der Geist der Revolution,
Und es rufen die edelsten Mandschu:
„Wir wollen keine Konstitution,
Wir wollen den Stock, den Kantschu!“
Und Theodor Fontane setzt das preußisch-militaristische, dünkelhafte Gehabe gleich mit dem öden konfuzianischen Zeremoniell; er will darin den Keim des gesellschaftlichen Verfalls erkennen, „weil alles Geschraubte zur Lüge führt und alle Lüge zum Tod“ (Schach von Wuthenow).
Trotz der Geringschätzigkeit, mit der China als morbide und schwach von seinen Kritikern abgetan wurde, konnte in Europa ein dumpfes kollektives Angstgefühl entstehen, das gegen 1890 in den Beschwörungen einer „gelben Gefahr“ sich schrill zu äußern begann. Ausgelöst durch die Nachrichten vom raschen wirtschaftlichen Aufschwung Japans seit der Meiji-Restauration von 1868, griff eine Hysterie um sich, die den Untergang des Abendlandes in einer Menschenflut aus Ostasien vorauszusehen glaubte. Zunächst galt Japan als am bedrohlichsten, dann aber, während des Boxeraufstandes, wurde China zum eigentlichen fernöstlichen Schreckgespenst der sozialdarwinistisch und rassistisch ausgerichteten öffentlichen Meinung in Europa.
Die Vision, es drohten genügsame, fühllose Arbeitstiere ameisengleich sich über die Erde auszubreiten, verblasste nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die europäische Abkehr von der Politik territorialer Expansion erlaubte ein freundlicheres Chinabild: es erschien nun nicht länger notwendig, China so ungut wie irgend möglich darzustellen, um koloniale Raubzüge als zivilisatorische Großtaten feiern zu können. Hinzu kam, dass der abendländische Dünkel in den Erschütterungen des Weltkrieges beschädigt worden war und viele Zweifler an der „modernen Gesellschaft“ sich den fernöstlichen Kulturen zuwandten. Englische, französische und deutsche Übertragungen des konfuzianischen Kanons und wesentlicher taoistischer und mohistischer Schriften (vorgenommen unter anderem von J. Legge, S. Couvreur, R. Wilhelm und A. Forke) erschlossen das chinesische Denken einem breiten Publikum. Auch Romane, Erzählungen und Gedichte aus dem alten China fanden eine dem Exotischen zugeneigte Leserschaft. Die Wirkung der übersetzten Literatur wurde noch verstärkt durch Schriftsteller wie Bertolt Brecht, Döblin, Hesse und Ezra Pound, die in ihren Werken chinesische Motive popularisierten, wobei die Nennung von Brecht und Döblin nicht darüber hinwegtäuschen soll, dass der zwischenkriegszeitliche Reich-der-Mitte-Kult fast nur esoterische und ästhetische Bereiche berührte, die Angelegenheiten der jungen chinesischen Republik dagegen auf wenig Verständnis trafen.
1949, mit der Gründung der Volksrepublik, erhielten die antichinesischen Ressentiments frische Nahrung. Zum Instrumentarium des kalten Krieges zählte auf westlicher Seite die unentwegt wiederholte Warnung, ein gewaltiges Chinesenheer stehe bereit, um als Hauptmacht einer bolschewistischen Invasion über das Abendland hereinzubrechen. So wurden in den fünfziger Jahren zahlreiche Schauergeschichten nach der Formel verfertigt: chinesischer Kommunismus ist gleich gelbe Gefahr plus rote Gefahr. Erst nachdem sich China mit der Sowjetunion überwarf, bekam es im Westen wieder wohlwollendere Beurteilungen.
Während Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit noch alle Mächte der Finsternis in China versammelt glaubten, behauptete die Neue Linke dort eine „konkrete Utopie“ entdeckt zu haben, die es allenthalben nachzuahmen gelte. So avancierte die maoistische Kulturrevolution zum gefeierten Vorbild der antiautoritären Studentenbewegung von 1968. Die Ausgewählten Werke des Vorsitzenden Mao, eine Sammlung seiner Worte und die wöchentlich erscheinende Peking Rundschau wurden zu den wichtigsten Informationsquellen über China. Unzählige meist kritiklos auf chinesische Materialien gestützte Veröffentlichungen westlicher Autoren ließen die chinesische Entwicklung, namentlich der „Massendemokratie“, der Wirtschaftsorganisation und des Erziehungswesens, als richtungsweisend auch für Europa erscheinen. Die maoistische Apologetik wirkte weit über den Kreis der Neuen Linken hinaus, sodass China nun auch in bürgerlichen Schichten freundliche Aufmerksamkeit zuteil wurde. Als im Oktober 1976, mit dem Sturz der „Viererbande“, die kulturrevolutionäre Fiktion endgültig zusammenbrach, verflüchtigte sich allerdings die China-Euphorie der europäischen Linken sehr schnell. Nachdem gegenwärtig (1981) weder die „gelbe Gefahr“ noch die „konkrete Utopie“ die öffentliche Meinung besonders beeindrucken, bleibt zu hoffen, dass das China der Europäer dem China der Chinesen allmählich ähnlicher wird.
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Erweiterte Fassung aus: China. Geschichte, Probleme, Perspektiven, Hg. Peter J. Opitz, Freiburg 1981.
Abb.: Der Kaiser in China zieht die erste Furche zur Ehre des Ackerbaues. Gemälde von Bernhard Rode um 1770. Gemäldegalerie Berlin.
Weiter zum Nachtrag : „Das instrumentalisierte China“