Yan Lianke 阎连科: Das Verlöschen der Sonne日熄.


(Amanda Kwan & Ulrich Neininger, Rezensionen chinesischer Literatur). Die Menschen in Gaotian sind mitten im Hochsommer mit dem Einholen der Ernte beschäftigt, und da bald ein Gewitter aufziehen soll, drängt die Zeit.  Vor Erschöpfung schlafen einige Bauern  auf dem Feld ein und werden plötzlich zu Schlafwandlern. Sie ernten ihr Getreide im Traum. Der Somnambulismus, der sich wie eine Seuche ausbreitet, setzt das Verdrängte und Unterbewusste frei. Bewusst werden Traumata, Ängste und Wünsche. Es kommt zu Selbstmorden, Morden, Raubzügen und Plünderungen.

Die Ereignisse eines halben Tages und einer Nacht werden von dem Dummkopf Nian Nian erzählt. Nian Nians Eltern betreiben die Neue Welt, ein Fachgeschäft für Opfergaben. Um die Toten in der neuen Welt pflichtgemäß zu versorgen, verbrennen die Familien für sie papierne Blumenkränze und Totengeld, aber auch aus Papier gefertigte Häuser, Kleidung, Autos, Schmuck, Computer und Telefone.  

Der chinesische Ahnenkult schreibt eine aufwendige Erdbestattung vor. Da die Grabstätten oft auf fruchtbarem Ackerland liegen, prangert die kommunistische Führung  den Brauch als verschwenderischen, feudalen Aberglauben an. Nun wollen die lokalen Behörden die Bauern zwingen, ihre Toten einäschern zu lassen. Die Bauern aber widersetzen sich und begraben ihre Toten heimlich weiter.

Der Krematoriumsdirektor Shao setzt die Anordnungen der Regierung rigide um. Wenn er ein heimlich angelegtes Grab findet, lässt er die Leiche ausgraben und verbrennen.

Nian Nians Vater, der Ladenbesitzer Li Tianbao, hat in seiner Jugend gegen Bezahlung die illegalen Begräbnisstätten verraten. Nachdem er aber einmal mitansehen musste, wie Shao eine Leiche aus dem Grab sprengen ließ, verzichtete er auf diese Einkommensquelle, die eigentlich dazu dienen sollte, seine Hochzeit und ein Ziegelhaus zu finanzieren.  Sein Wunsch soll dennoch in Erfüllung gehen. Die hinkende Schwester des Direktors macht ihm ein Angebot: Für die Heirat mit ihr bietet sie Li den Bau eines Hauses an. Zögernd stimmt er zu und gemeinsam eröffnen sie den Laden Neue Welt.

Beim Tod seiner Mutter muss Li Tianbao, so sehr es ihm auch widerstrebt, die Verstorbene einäschern lassen. Als Schwager des Direktors Shao kann er eine heimliche Erdbestattung, wie sie sich die Mutter gewünscht hat, nicht riskieren. Bei der Einäscherung bemerkt er, dass Öl aus dem Brennofen austritt und aufgefangen wird. Es ist Leichenöl. Als er wissen will, was damit geschieht, erklärt ihm Shao:

Verdammt, du bist mein Schwager, deshalb sage ich dir die Wahrheit. Das Öl ist sehr wertvoll, weißt du das? Falls du möchtest, kannst du es auch essen. Knoblauch und Erdnüsse, darin angebraten, schmecken sicher sehr gut. Ich verkaufe es dorthin, wo es Nachfrage gibt, nach Luoyang, nach Zhengzhou, Fabriken in allen Städten möchten das Öl kaufen. Um Seife herzustellen. Um Gummi herzustellen. Für Schmieröl. Das ist ein erstklassiges Industrieöl. Wer weiß, vielleicht ist es auch für den menschlichen Verzehr geeignet. Während der drei bitteren Hungerjahre war Kannibalismus ja auch an der Tagesordnung.

Li Tianbao bittet nun seinen Schwager, ihm künftig das wertvolle Leichenöl zu verkaufen. Doch statt das Öl gewinnbringend weiterzuverkaufen, hortete Li es in einem leerstehenden Stollen.

„Eure Familie“, sagte der Onkel, „ist die allerreichste im Ort. Würdet ihr das Leichenöl im Stollen verkaufen, so bekämt ihr ein oder zwei, vielleicht sogar zig Millionen dafür. Die Industrie kann das Öl brauchen. Sein Preis steigt so wie der Goldpreis.“ Doch mein Vater und meine Mutter wollten das Öl nicht verkaufen. Es war, als würden sie Geld in eine Bank einzahlen und es niemals wieder abheben. „Lassen wir es im Stollen“, sagte mein Vater, „uns fehlt es ja nicht an Geld. – „Lassen wir es im Stollen“, sagte meine Mutter, „es fehlt uns ja nicht an Geld.“

Damit ist Li Tianbao ein Gegenbild zu seinem profitorientierten, kühlen Schwager, dem Krematoriumsdirektor.

Das Leichenöl wird als Rest des leiblichen Daseins wertvoll. Es ist wertvoll, wie die Erinnerung an den Verstorbenen.  Li Tianbao schließt das Öl weg, um es zu bewahren. Allem Anschein nach ist sein Handeln sinnlos und grotesk. Doch das Leichenöl wird schließlich zum Heilmittel, das die Menschen rettet und das Schlafwandeln und das Morden beendet.

In China wird die Erinnerung an die Kulturrevolution und die von furchtbaren Hungersnöten gefolgte Kampagne des Großen Sprungs weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt. Die Erinnerung aber ist das Heilmittel, das die Gesellschaft braucht, um gegen den politischen Wahn immun zu werden. Das Leichenöl wird so zur Metapher für die heilsame Erinnerung des Menschen.

Als im Ort die „Schlafwandelepidemie“ ausbricht, fürchtet Li Tianbao, die Epidemie könnte eine Vergeltung  für die frevelhaften Exhumierungen und Feuerbestattungen sein. So versucht er alles, um die Menschen wach zu halten. Doch ohne Erfolg. Auch die Vertreter der örtlichen Regierung, an die er sich in seiner Verzweiflung wendet, sind selbst längst dem Schlafwandel verfallen. So träumt der Ortsvorsteher davon, der Kaiser zu sein.

Yan Lianke macht sich auch zu einer Figur des Romans. Onkel Yan, wie ihn Nian Nian nennt, ist ein von Ängsten geplagter Schriftsteller, der fürchtet, dass ihm keine Geschichten mehr einfallen. Auch er verfällt der Somnambulie, und plötzlich sprudelt wieder die Quelle seiner Inspirationen.

Schlafwandler aus den Nachbardörfern ziehen plündernd und mordend durch den Ort und kämpfen mit den einheimischen Schlafwandlern. Es sind Kämpfe wie zu Zeiten der Kulturrevolution als feindliche Fraktionen der Roten Garden einander umbrachten. Der Kampf der Rotgardisten wiederholt sich als Kampf der Schlafwandler. Dazu geht morgens die Sonne nicht mehr auf. Die Radionachrichten melden ein seltenes Wetterphänomen,  das ähnlich einer Sonnenfinsternis, das Land verdunkle.

Erschöpft schläft auch Li Tianbao ein und wird zum Schlafwandler, der davon träumt, die Welt zu retten, indem er die Sonne aufgehen lässt, um so die Menschen aus ihrem Schlaf zu reißen und dem Morden ein Ende zu setzen.

Er verspricht den vorüberziehenden Schlafwandlern lauthals eine großzügige Entlohnung, wenn sie die Fässer aus der Höhle auf eine Anhöhe im Osten des Ortes rollen und das Leichenöl in eine Mulde kippen.  Auf der Anhöhe übergießt er sich mit einem Rest Öl und springt als menschliche Fackel in den Öltümpel. Sein Handeln begreift er als eine Art Katharsis, durch die er sich von seiner Schuld reinigt:

Nian Nian, hiermit wird unsere Familie all ihre Schuld  zurückzahlen. Wenn du erwachsen bist, wirst du niemandem mehr etwas für deinem Vater  schuldig sein. Seine Stimme war heiser, glücklich wie ein weißes Blatt Papier auf einem Gräberfeld, das im Nachtwind munter in der Luft flog und tanzte.

Die Feuerlohe täuscht einen Sonnenaufgang vor, der die Menschen aufwachen und wieder zur Besinnung kommen lässt. „Die Sonne ist wieder hervorgekommen. Schreib von mir als einem guten Menschen!“ Das sind die letzten Worte, die Li Tianbao dem Schriftsteller Yan Lianke zuruft, bevor er bei lebendigem Leib verbrennt. Und wirklich geht die Sonne wieder auf und die Schlafwandelepidemie findet ein Ende.

Im Ort beginnen die Aufräumarbeiten, die Behörden nehmen den Schaden für ihre Statistik auf. In aller Stille werden die Toten begraben (das Krematorium wurde in der besagten Nacht zerstört) und Alltag und Normalität kehren wieder zurück.

Die Toten der Schlafwandelepidemie werden in einem Epilog einzeln mit Name, Alter und Todesursache aufgeführt. Li Tianbao trägt die Nummer 19:

Li Tianbao, mein Vater,  40 Jahre alt. Während des Schlafwandelns zündete er sich selbst an, damit die Sonne in der dunklen Nacht wieder hervorkommt.

Vom magischen Realismus der lateinamerikanischen Literatur beeinflusst, schafft der Autor eine unheimliche Welt voller verstörender, schöner Bilder. So beschreibt er eine schlafwandelnde Waise, die im Krematorium die Aufgabe hat, die Asche vor dem Verbrennungsofen wegzufegen und die nun im Traum das triste, furchterregende Krematorium in einen zauberhaften Ort verwandelt. Nian Nian  begegnet ihr, als er eines Abends wieder Fässer mit Leichenöl abholen will:

Als ich zum Eingang kam, sah ich, dass sie in die Ritzen neben der eisernen Tür des Verbrennungsofens Blumen und Gräser gesteckt hatte. Im ganzen Raum waren Blumen gesteckt und ausgelegt. Überall im Ofenraum hatte sie Blumen aufgehängt und ausgelegt. Die Blumen an der Wand glichen einer hängende Blumenwiese. Dort, von man am Verbrennungsofen Blumen befestigten konnte, hingen Blumensträuße. Rote, gelbe und grüne. Wilde Kamelien und Chrysanthemen. Violette Glyzinien und rote Blumea fistulosa. Dann auch Celosien und kleine Orchideen. Überall draußen vor dem Krematorium sah man die Blumen. Außerdem rosafarbene Rhaphiolepis  und kleine gelbe Blumen, deren Namen ich nicht kenne. Im Hof des Krematoriums gepflanzte Monatsrosen und chinesische Pfingstrosen. In voller Blüte stehende Zierrosen. Der Raum glich einem Blumengewächshaus. Der halb liegende, halb stehende Verbrennungsofen sah aus wie ein halb liegendes halb stehendes Blumengesteck. So war aus dem Verbrennungsraum ein Blumenraum geworden. Als ich dort auftauchte, war sie gerade dabei, in die Spalten neben den Fässern mit dem Leichenöl kleine gelbe und rote Blumen zu stecken. So als wüchsen die Blumen aus den Fässern heraus. Als wären sie aus den Fässern heraus erblüht. Ich dachte, dass mein plötzliches Auftauchen sie erschrecken würde. Doch als sie den Kopf wandte und mich erblickte, war sie weder erschrocken noch erstarrt, sondern es war, als sähe sie einen Baum. Wortlos war sie im Nu wieder damit beschäftigt, Blumen zu stecken und zu drapieren. Ich war erschrocken. Ich war erstarrt. Ich wusste, warum sie den Verbrennungsraum in ein paradiesisches Blütenzimmer verwandelte.

Der Somnambulismus ist eine Allegorie auf den Gemütszustand der Menschen unter einer autoritären Herrschaft. Die Freisetzung der verdrängten Ängste und Wünsche beim Schlafwandeln führt dazu, dass Menschen sich an eine frühere Schuld erinnern. Zugleich bekommen sie die Freiheit über sich selbst zu bestimmen. So gesteht Li Tianbao seinen Nachbarn, dass er die Gräber ihrer Verwandten verraten hat. Eine Frau träumt davon, die Geliebte des Ehemannes zu zerstückeln und dem Mann zum Essen vorzusetzen. Kollektive Träume lösen sich ab mit individuellen Träumen. Die Schlafwandler aus den Dörfern drängen in die Stadt, um sich den Besitz der Städter durch Plündern und Morden anzueignen. Es könnte ein Traum der Wanderarbeiter sein,  der hier erzählt wird. Die Ausgebeuteten und Rechtlosen aus den Dörfern holen sich mit Gewalt von dem städtischen Reichtum, von dem sie nie etwas abbekommen.

Als Li Tianbao sich verzweifelt an die Kreisregierung wendet, damit diese dem Wahn ein Ende setzt, muss er feststellen, dass auch der  Kreisrat und seine Beamtenschaft dem Schlafwandeln verfallen sind. Die Kreisregierung tritt in den Kostümen einer umherziehenden Operntruppe auf, und der Kreisrat spielt den Kaiser, der Audienzen gibt und seine Beamten empfängt. Eine Szene wie in den chinesischen Fernsehserien, die am kaiserlichen Hof spielen und  in einer antiquierten höfischen Sprache verfasst sind.  Hier wird die Szene zur Parabel auf die Lokalpolitiker, die sich in ihrem Amtsbezirk gerne als kleine Kaiser feiern lassen.

Der Romanfigur Yan Lianke gelingt es nicht, Li Tianbaos  Geschichte aufzuschreiben. Verzweifelt sucht er dessen Familie auf und verbrennt all seine Romane vor dem Totenbild von Li Tianbao. Liebevoll tätschelt er Wange und Schopf des jungen Nian Nian:

Ich schaffe es nicht, das Buch zu schreiben, das dein Vater sich gewünscht hat. Ich schaffe es nicht, von einem wärmenden Ofen im Winter und von einem kühlenden Ventilator im Sommer zu schreiben. Ich werde nie wieder an diesen Ort zurückkommen.

Mit seinem Rollkoffer verschwindet Yan Lianke spurlos.

Die Straßen waren voller Menschen. Die Sonne schien. Die Herbstsonne ließ alle Häuser und Mauern an der Straße erstrahlen. Die Bäume leuchteten, die Fenster, Türen und die Waren in den Läden leuchteten. Die Menschen, die auf der Straße Gemüse, Kleidung, Besen, Pflüge und Eggen verkauften, sie alle, alles glänzte. Die Köpfe und Schultern der Menschen, die vom und zum Markt eilten, waren durchsichtig und glänzten wie Jade und Achat. Mit einem Mal konnte man durch ihre Kleidung und durch ihre Haut ihre Adern und ihre Herzen sehen. (…)  In dieser durch das warme Sonnenlicht verwandelten Welt von Gaotian sah ich einen Mönch in gelber Robe und mit kahlrasiertem Schädel, etwas füllig, ruhig und gelassen. Irgendwie sah er ganz so aus, wie Yan Lianke, irgendwie sah er gar nicht so aus wie Yan Lianke. Doch ich kümmerte mich nicht darum und rief in die Menschenmenge auf dem Markt: „Yan Lianke, Yan Lianke! Yan Lianke, Yan Lianke!“ Kaum hatte  ich das gerufen merkte ich, dass ich ihn nicht Onkel Yan, sondern direkt beim Namen genannt hatte.

Der Gelehrte, der aus Verzweiflung über die politischen Zustände die Einsamkeit wählt, gehört seit dem Altertum zu den etablierten Figuren der chinesischen Literatur. Wenn der Autor sich aus einer schlafwandelnden Welt mit dem Rollkoffer verabschiedet, beschreibt er einen Rückzug, der mit den alten Elementen des Eskapismus spielt. Der Rückzug wird zum surrealen Spiel, nur die Verzweiflung ist echt.

Am Schluss ist es Nian Nian, der Ich-Erzähler des Romans, den Yan Lianke die Geschichte erzählen lässt.

Der Roman ist stark von der mündlichen Erzähltradition beeinflusst, mit vielen Wiederholungen und mit Worten aus dem Dialekt des Autors:

Hey, sei ihr alle da? Wer kann kommen und hören, was ich zu fabulieren habe? Hey, ihr Götter! Wenn ihr nicht beschäftigt seid, dann kommt her und hört mir zu. Wenn ich hier auf dem höchsten Gipfel des Funiu Berges knie, dann könnt ihr mich wohl hören. Ihr werdet euch wohl nicht wegen des Geschreis eines dummen Kindes genervt fühlen.

Im Chinesischen steht das Dialektwort fánfán 烦烦 für genervt und in Klammern für den nicht des Henan-Dialektes kundigen Leser der entsprechende hochchinesische Ausdruck yànfán 厌烦. An anderer Stelle heißt es:

Hey, ich bin wegen eines Dorfes hier. Wegen eines kleinen Ortes. Wegen einer Gebirgskette, für die Welt bin ich hier her gekommen. Ich knie hier vor dem Himmel, um euch von etwas zu erzählen. Ich hoffe, dass ihr geduldig meinem Geschwätz, meinem Geschrei zuhören könnt. Seid nicht genervt und ungeduldig, es handelt sich um eine große Sache!

Für ungeduldig steht das Dialektwort jífán 急烦 und in Klammern jízào 急躁, die Entsprechung in der Hochsprache .

 Als unerwünschtes Leichenöl der Erinnerung ist „Das Verlöschen der Sonne“ in den Buchhandlungen der Volksrepublik China nicht erhältlich.

Yan Lianke 阎连科 Das Verlöschen der Sonne, 日熄,  Taipei 2015.