(Nina Richter & Ulrich Neininger, Rezensionen chinesischer Literatur). Die Melonenesser, für gewöhnlich in grellen Farben als großköpfige, breitmäulige Schar von Strichmännchen gezeichnet, haben im chinesischen Internet viele Freunde. Sie repräsentieren die User, das „Melonenesser-Publikum“ 吃瓜 群众, die passiv, aber ungemein interessiert, die im Netz ausgebreiteten Skandale verfolgen und sich an den Kommentaren und Diskussionen erfreuen. Der Begriff „Melonenesser-Publikum“ ist dabei so bekannt geworden, dass er 2016 in die Top-Ten-Liste der beliebtesten Internet-Neologismen in China schaffte.
Für die Melonenesser gibt es immer neue aufregende Ereignisse. Manche der Fälle erlangen durch eine Flut von Kommentaren Berühmtheit, andere werden ziemlich rasch durch eine um Harmonie und Stabilität besorgte Zensur der Vergessenheit anheim gegeben.
Der Autor Liu Zhenyun hat nun die Melonenesser zu Helden eines unterhaltsamen Romans gemacht.
Am meisten interessiert die Melonenesser die Korruption und ihr sichtbarer Ausdruck, der protzige Lebensstil der Funktionäre und ihrer Entourage. Finden die Behörden bei einem verhafteten Kader zwanzig Rolex-Uhren und bei der Frau Gemahlin fünfzig Louis-Vuitton-Taschen, beschäftigt der Fund das Netz für eine ganze Weile. Manche Fälle werden zur Legende, wie die Geschichte der neunzehnjährige Provinzschönheit Guo Meimei, die sich im Netz den falschen Titel „Generaldirektorin des chinesischen Roten Kreuzes“ zulegte und einen Maserati fuhr. Als Geliebte eines Politikers gehörte sie zum Heer der Xiaolaopo, die nach alter chinesischer Tradition, das Prestige des reichen und mächtigen Mannes erhöhen. Zur Tradition gehört aber auch, dass die Konkubinen sich im Hintergrund halten. Guo Meimei hingegen wurde durch ihr vorwitziges Auftreten berühmt. Als Mikro-Bloggerin brachte sie es auf zwei Millionen Follower, bis sie wegen der Ausrichtung illegaler Glücksspiele für fünf Jahre ins Gefängnis musste.
Aus diesem Milieu der Kader und Konkubinen erzählt der Roman von einem gewissen Li Anbang, der es einst eben noch zur Universität geschafft hatte. „Das Studium brachte ihm nur eine Brille ein, so kehrte er vom Dorf ins Dorf zurück.“ Mit Glück und Durchtriebenheit, steigt er, ungeachtet seiner nur bescheidenen Fähigkeiten, Sprosse um Sprosse auf der Karriereleiter nach oben und bringt es vom kleinen Dorfkader zum Vizegouverneur einer Provinz. Verheiratet mit der Tochter eines Krämers, die nach ihrer Gewohnheit über alle erhaltenen Bestechungsgeschenke akribisch Buch führt, bleibt er, was seinen Geschmack und seinen Lebensstil angeht, doch der einfache Dörfler. Sein Sohn freilich wächst zu einem der Prinzen heran, für den nichts zu teuer ist.
Gerade als der Vater zu einem weiteren Karrieresprung ansetzt und Gouverneur werden will, hat der Sohn einen Unfall. Der Siebzehnjährige rast mit dem Auto gegen einen Bagger. Er überlebt, aber seine Beifahrerin, eine nackte Prostituierte, die aus dem Wrack geschleudert wird, stirbt bei dem Unfall.
Wenngleich sich alles ein wenig reißerisch anhört, ist es doch eine Geschichte aus dem wahren Leben: Der Funktionärssohn Ling Gu raste 2012 nachts in Peking mit einem Ferrari gegen eine Betonwand. Im Unterschied zur Romanhandlung fuhren real gleich zwei nackte Frauen mit. Auch der Sohn war nackt, aber er war auch schon dreiundzwanzig. Die beiden Frauen überlebten, der Sohn hingegen starb. Es hieß, die drei wären beim Liebesspiel verunglückt.
Der Unfall gab nun viel Stoff für die Melonenesser her. Wie, fragten sie sich, konnte der Vater mit seinem bescheidenen Beamtengehalt dem Sohn einen Ferrari zum Preis von einer halben Million Euro finanzieren? Vorhersehbarerweise verdarb die Zensur den Melonenessern schnell den Spaß, indem sie die Suche nach einer eine Reihe von Eigennamen blockte. Auch der Name Ferrari blieb für eine Weile im chinesischen Internet unauffindbar.
Im Roman versucht der Vizegouverneur Li mit Hilfe eines Vertrauten im staatlichen Sicherheitsapparat, den Unfall zu vertuschen. Als er den Kampf um das Gouverneursamt dennoch zu verlieren scheint, wendet er sich an einen Menschen mit besonderen Eigenschaften: Der Meister Yizhong gilt als großer Kenner des Buchs der Wandlungen. Er hat eine Farbentheorie entwickelt mit der er seinen Klienten einen Weg aus allen Schwierigkeiten weisen kann. Bei Li Anbang erkennt er ein „Rotproblem“ und rät ihm Rot (die Farbe der Kommunistischen Partei), durch Rot zu durchbrechen und sich für dieses Unterfangen eine Jungfrau zu suchen. Auf der Suche gerät er an die Gelegenheitsprostituierte Niu Xiaoli, die darin geübt ist, den Männern als Unschuld vom Land mal um mal vorzugaukeln, sie hätten sie gerade entjungfert.
Niu Xiaoli, war, nachdem ihr Bruder durch eine vorgebliche Braut um sein Brautgeld betrogen worden ist, losgezogen, die Betrügerin zu stellen. Als ihr das nicht gelingt, entschließt sie sich, unter dem Namen ihrer Feindin als Prostituierte zu arbeiten. Die Kupplerin Su Shuang, die Bauaufträge ebenso zuverlässig wie Frauen vermittelt, verschafft ihr Kontakte zu Politikern und reichen Geschäftsleuten. Li Anbang ist nur einer davon.
Eine andere zentrale Romanfigur ist als Direktor eines Straßenbauamtes mit der Vergabe von Bauaufträgen und der Unterschlagung von staatlichen Fördermitteln in seiner Kreisstadt reich geworden. Reich, aber impotent will er seine sexuellen Probleme durch das Beschlafen einer Jungfrau lösen. Su Shuang, die sich schon als Vermittlerin zwischen ihm und den lokalen Bauunternehmern bewährt hat, empfiehlt ihm Niu Xiaoli. In der manchmal schwer zu überschauenden Romanhandlung stellt die berufsmäßige Jungfrau Niu eine Verbindung zwischen den korrupten Politikern her.
Der Direktor gerät in Schwierigkeiten, als bei einem Busunfall eine Brücke einstürzt. Ein Foto vom Unglücksort, das ihn mit einem verlegenen Grinsen und einer teuren Uhr zeigt, kursiert bald im Netz: „Der Verantwortliche lacht über das Schicksal der Verunglückten.“ Der Autor greift hier einmal mehr reale Ereignisse auf und bleibt dabei ziemlich nahe am Geschehen. Das Foto des Direktors einer Behörde für Unfallsicherheit, der lächelnd einen ausgebrannten Bus betrachtet, setzt die „Menschenfleisch-Suchmaschine“ in Gang. Millionen Nutzer suchen nach Bildern, die nachweisen, dass der Direktor, wie im Roman der „Uhrenbruder“ (biaoge 表哥) genannt, eine ganze Reihe von exzessiv teuren Luxusuhren besitzt. Der „Uhrenbruder“ etablierte sich in der Internet-Sprache als Begriff für die Reichen, Mächtigen und Korrupten, die eine Vorliebe für ausländische Luxusgegenstände haben.
Niu Xiaoli eröffnet in ihrem Heimatort mit dem Geld, das sie als „Jungfrau“ verdient hat, ein kleines Restaurant. Sie heiratet, führt aber eine unglückliche Ehe. Gerade als sie die Scheidung einreichen will, wird sie verhaftet. Durch ihre Verhaftung aber wird sie zu einer Berühmtheit. Auf sie wird eine Hymne gedichtet und sie erhält einen Heiligenpreis. In der Laudatio heißt es:
„Sie ist eine Jungfrau und hat dennoch mit 12 Kadern geschlafen. Ein Bettlaken war der Vorhang, der gehoben wurde, um die Bühne für den Antikorruptionskampf frei zu geben. Sie erhielt lediglich den Lohn für ihre Arbeit, aber die korrupten Kader verloren zig Millionen an Vermögen. Sie ist ein James Bond, sie wagte sich tief in die Höhle des feindlichen Tigers. Sie steht alleine und kämpft, aber wir, Tausende und Zehntausende stehen tatenlos hinter ihr und schwingen große Reden. Sie ist eine Heilige.“
In einem etwas willkürlich angehängten Schlusskapitel wird ein kleiner Beamter, ein Vizedirektor, bei einer Razzia im Massagesalon mit einer Prostituierten angetroffen. Nachdem er, um seiner Verhaftung zu entgehen, die Polizei mit 2000 Yuan bestochen hat, begegnet er noch einmal dem Zuhälter der Prostituierten. Der Zuhälter, der zugibt, dass er mit der Polizei zusammenarbeitet, entschädigt den Geprellten mit der Enthüllung eines Geheimnisses. Der Vizedirektor könne sich glücklich schätzen. Er habe nämlich Sex mit der Frau des ehemaligen Provinzgouverneurs Li Anbang gehabt, die seit ihr Mann im Gefängnis sitzt, im Massagesalon arbeitet. „Der Vizedirektor eines städtischen Umweltamtes, der nur im Rang eines Vizereferatsleiters ist, bekommt niemals in seinem Leben den Provinzgouverneur zu Gesicht, ganz zu schweigen davon, jemals mit der Frau des Provinzgouverneurs so eng in Kontakt zu treten.“ Dafür waren 2000 Yuan wirklich nicht zu viel. Zufrieden begibt sich der Vizedirektor auf die Heimreise.
Die einzelnen Episoden sind oberflächlich miteinander verknüpft, und es ist nicht einfach ,die oft zusammenhanglose und manchmal langatmige Handlung zu überblicken. Anfangs scheint es, als habe der Autor einen Erzählband vorgelegt. Dann zeigt sich aber, dass ein kompliziertes Beziehungsgeflecht die vermeintlich einander unbekannten Personen miteinander verbindet. Diese vermeintliche Zufälligkeit hat der Autor schon in früheren Werken zum Prinzip erhoben. Und bei den Melonenessern heißt es nun: „Betrachte das, was als Zufall erscheint, nicht als Zufall“. Es sind Geschichten für Melonenesser, die der Autor hier erzählt oder auch einfach nur kolportiert.
Liu Zhenyun 刘震云: Das Zeitalter der Melonenesser 吃瓜时代的儿女们, Wuhan 2017.