Das Prinzip der großen Zahl im tibetischen Buddhismus


Die tibetischen Buddhisten glauben, daß der Mensch ein in früheren Leben erworbenes Guthaben an frommen Werken auf die Welt mitbringe, denn die „Ansammlung“ (tshogs bsags pa), so sagen sie, entscheide im Kreislauf der Wiedergeburten über die nächste Existenz einer Seele. Der abgeschiedenen Seele sind sechs Formen künftigen Daseins möglich, drei gelten als leidlich gut, drei als schlecht. Zur guten Seite zählen die Menschen, die Götter und Halbgötter, zur schlechten die Tiere, die umherschweifenden, immer von Hunger gepeinigten Gespenster und die Verdammten in den acht heißen und den acht kalten Höllen. Welchen Platz genau eine Seele schließlich einnimmt, darüber entscheidet allein das Maß ihrer Verdienste oder, nach der negativen Seite hin, das Maß ihrer Verbrechen. Kein Richter hat an der Entscheidung teil. Vielmehr schlüpft die Seele ganz zwangsläufig in die Existenz, die dem Stande ihres Guthabens oder ihrer Schuld entspricht. Gebietet sie endlich über einen unermeßlichen Hort guter Werke, hat sie ein Anrecht auf die Buddhaschaft und kann dem Kreislauf der Wiedergeburten entfliehen.

Erklärlich also, daß der lamaistische Gläubige vor allem wünscht, im Laufe seines Lebens eine möglichst große Zahl guter Werke für sich zu verbuchen. Dabei leitet ihn oft weniger der Gedanke an das abstrakte Nirvana, als vielmehr die Hoffnung, auf der nächsten Etappe der Seelenwanderung eine günstigere irdische Existenz zu erreichen oder gar in das „Land der Glückseligkeit“ (bde ba can) zu finden, von dem die buddhistischen Traktate so viel Erbauliches zu berichten wissen. Auch die Furcht, aus dem Haben ins Soll zu geraten und dann als Tier, Hungergespenst oder Höllenwesen aufs Rad des Lebens geflochten zu werden, peinigt ihn und läßt ihn nach religiösen Verdiensten streben.

Um zu messen, wie das eigene religiöse Kapital wächst, greift der Gläubige zum Rosenkranz. Die tibetischen Rosenkränze unterscheiden sich voneinander durch ihre Perlen, die aus Glas, rotem Sandelholz, Korallen, Bernstein, Muschelschalen oder auch aus menschlichen Schädelknochen gefertigt sein können. Meist sind 108 solcher Perlen auf eine Schnur gereiht, an die zwei „Zahlhüter“ (grangs ‚dzin) geknüpft werden1. Die Zahlhüter, Schnüre mit jeweils zehn kleinen Metallringen, ermöglichen es, am Rosenkranz 10.800 (108 x 10 x 10) Gebete mitzuzählen, ohne daß die ständige Addition in der Ausübung des frommen Werkes zu stören vermag. Sind 108 Gebete gesprochen, registriert man das durch einen ans Ende der Schnur gestreiften Ring. Nach 10 x 108 Rezitationen schiebt man die Ringe des ersten Zahlhüters wieder zurück und ersetzt sie durch einen Ring am zweiten Zahlhüter. Auch ein eifriger, geübter Lama wird das numerische Volumen seines Rosenkranzes selten ganz ausschöpfen; aber Tag für Tag fünftausendmal das Mani-Mantra an den Kranzperlen abzubeten, ist schon üblich unter Mönchen, wo doch selbst der buddhistische Laie es schafft, das eigene Guthaben wenigstens um ein paar hundert Gebete täglich zu vermehren. Das Mani-Mantra gilt als besonders heilswirksam, daher seine weite Verbreitung: „Om mani padme hum“ (Oh, du Kleinod in der Lotosblume) heißt es millionenfach gedruckt auf Gebetsfahnen, in den Fels gemeißelt oder auch eingraviert in Steinbrocken, die zu massigen Mauern aufeinandergeschichtet sind. Je nach Vermögen tragen die Gläubigen dazu bei, die heiligen Signale in der Landschaft zu vermehren, sei es durch einen einzigen Mani-Stein, den der arme Hirte bei einem Lama erwirbt, oder sei es durch weithin sichtbare Felsinschriften, die der reiche Viehzüchter in Auftrag gibt. Von den Mani-Mauern, die im westlichen Tibet lange Wegstrecken begleiten, sind viele das Werk lokaler Herrscher. Ein gewisser König Seng ge rnam rgyal zeichnete sich hier in erster Reihe als Stifter aus. Über ihn berichtet die Chronik von Ladakh, er habe etliche Konventikel zu je 108 Mönchen verpflichtet, an verschiedenen Orten seines Reiches hundertmillionemnal im Jahr die Formel „Om mani padme hum“ zu beten. Auch habe er drei Mauern mit insgesamt hundert Millionen Mani-Steinen errichten lassen2.

Selbst unbearbeitete Steine können zu einem Monument der Verdienstlichkeit zusammengetragen werden. Auf den Paßhöhen, an Quellen und Brücken wölben sich Hügel, „Hunderttausend Steine“ (rdo ‚bum) genannt, in denen hölzerne Stangen stecken. Reisende bringen Steine von weit her, um sie an einer bestimmten Stelle abzulegen, und so finden sich unter den „Hunderttausend Steinen“ auf einer Paßhöhe viele weiße Bachkiesel, die aus einem Gewässer im Tal stammen. An den Stangen befestigen die Passanten einfache Tücher und Gebetsfahnen.

Zu den Baulichkeiten, die in großer Zahl entstanden, um Wünsche nach frommen Werken zu erfüllen, gehören schließlich noch die Chörten (mchod rten)3. Sie gelten als Symbole der kosmischen Ordnung, und in ihnen werden etwa die Asche eines Heiligen oder Dinge aus seinem Besitz aufbewahrt. Meistens jedoch besteht der Inhalt solcher Reliquiare aus buddhistischen Schriften, Tontafeln oder geweihten Gerätschaften. Im Laufe eines Jahrtausends überzogen die Tibeter ihr Felsenland mit einer Myriade von Heiligtümern. So schufen sie sich eine Landschaft, in der die Einförmigkeit der kargen Hochebene von mannigfaltigen Ornamenten durchbrochen wird.

Der Gläubige kann, auch wenn er nicht über Reichtümer verfügt, in kurzer Zeit millionenfach religiöse Verdienste erwerben. Die Gebetsmühle hilft ihm dabei; üblich ist ein handliches Gerät, auf dessen Griff ein geschlossener bosselierter Zylinder steckt, gefüllt mit einem langen, beschrifteten Papierstreifen. Auf dem Streifen steht so oft wie nur möglich das Mani-Mantra. In den Klöstern gibt es fest verankerte Vorrichtungen, hohe drehbare Tonnen, die mächtige Schriftrollen enthalten. Hundertmillionenfach finden sich die sechs mystischen Silben auf Schriftrollen, die gut dreißig Zentner wiegen können. Selbst ganze Bibliotheken buddhistischer Literatur werden gelegentlich in Gebetstonnen gestapelt; eine sinnreiche Mechanik erleichtert den Antrieb und ein Glöckchen assistiert beim Zählen. Mit jeder Drehung, in die der Gläubige die Trommel versetzt, darf er die Summe der darin bewahrten Gebetsformeln als Gewinn für seine Seele verbuchen. Er kann dazu auch wind- oder wassergetriebene Gebetsmühlen unterhalten, oder er zündet eine Butterlampe an, deren aufsteigende Wärme einen mit Mani-Mantras bedruckten Papierschirm antreiben soll. Noch bauen die Tibeter in ihre Gebetsmühlen keine Motoren ein, wie Filchner das einst halb spöttisch, halb im Ernst vorauszusehen behauptete, doch sieht man heute zuweilen unter den rotierenden Papierschirmen anstelle eines Butterlämpchens eine bemalte Glühbirne brennen4.

Daß die so erworbene „Ansammlung“ als durchaus persönliches Eigentum begriffen wird, illustriert eine Anekdote, die Evariste Régis Huc berichtet. Huc beobachtete einmal zwei Lamas, von denen der erste mühsam eine Gebetstonne in Bewegung gesetzt und sich dann in seine Zelle verfügt hatte. Der zweite Lama kam hinzu und stoppte die kreisende Tonne, um sie dann auf eigene Rechnung wieder anzuschieben. Nun wäre daraus fast ein böser Streit zwischen den frommen Männern entstanden, hätte nicht ein alter Lama eingegriffen und den Zwist geschlichtet, indem er die Tonne zu Gunsten beider Kontrahenten in Schwung brachte5.

Freilich resultiert der Wert einer „Ansammlung“ nicht nur aus der Menge, sondern auch aus der Beschaffenheit der Verdienste. Da gibt es präzise Vorstellungen. So entwickelte sich ein abgestuftes Ritual der Demut, nach Schwierigkeit in einfacher Verbeugung, Kniefall und Fußfall unterteilt. Die Verbeugung: der Gläubige neigt mit ausgestreckten Armen den Kopf, bis Stirn und Hände ein Sims berühren (die drei Berührungen). Der Kniefall: der Gläubige fällt auf die Knie und berührt mit Stirn und Händen den Boden (die fünf Berührungen). Und der Fußfall: der Gläubige wirft sich nieder, so daß er flach daliegt und mit Stirn, Mund, den Händen, Brust, Bauch und den Knien die Erde berührt (die acht Berührungen)6. Vor manchen Klosterhallen sind niedere Holzbühnen errichtet; die tiefen, in die Bretter eingeschliffenen Mulden zeugen vom frommen Eifer jener Mönche und Pilger, die sich hier einige tausendmal täglich den mühseligen Fußfällen unterzogen haben.

In Lhasa war es üblich (und neuerdings lebt dieser Brauch wieder auf), daß die ankommenden Pilger die Straße, die um den Stadtkern führt und die alte „Kathedrale“ (Jo khang) einfaßt, der Länge nach mit dem Körper ausmessen und im Tempelhof die Fußfälle bis zur Erschöpfung wiederholen. Der Weg um die Kathedrale ist eine populäre, wenn auch nicht die einzige im Ritual vorgesehene „Umkreisung“ (bskor ba). Alles Heilige eignet sich zum Rundgang: schlichte Dorfschreine, weitläufige Klosteranlagen, Statuen, Schriften, Opfergaben, Berge und Seen, auch Mönche können dabei Mitte sein; umrundet werden vor allem die Chörten. Das Heiligtum zur Rechten, den Rosenkranz, vielleicht auch eine Gebetsmühle, in der Hand zieht der Gläubige seine Kreise. Es kommt vor, daß er dabei ein Pferd oder ein anderes Tier, dem er zu frommen Werken verhelfen will, mitführt. Da die Objekte der Verehrung so zahlreich sind, bieten sich den Tag über genug Gelegenheiten, ein paar Runden zu drehen und die „Ansammlung“ geschwind zu vermehren. Die korrekte Buchhaltung der Seele erfordert, daß der Gläubige wie üblich sein Gebet am Rosenkranz registriert, die Umkreisungen jedoch zählt er mit Kieselsteinen, die er nach jeder vollendeten Runde auf einen Haufen wirft.

Obwohl er das Schicksal seiner Seele der eigenen Verdienstlichkeit zuschreibt, rechnet der Gläubige doch auch fest mit der Gnade der Bodhisattvas, die ihn im Kreislauf der Wiedergeburten vor Unheil bewahren möge. So richten sich seine Hoffnungen namentlich auf Spyan ras gzigs. Spyan ras gzigs, heißt es in der lamaistischen Literatur, ist der mächtigste Bodhisattva. Einst habe er vor 11 x 10,000.000 Buddhas geschworen, alle Geschöpfe zu erlösen, mit dem Eid, der Schädel möge ihm zerspringen, wenn er in seinem Plan scheitere. Wie aus einern eisernen Kasten befreit, seien die Seelen daraufhin ins Nirvana entronnen. Doch als der Retter schließlich sein Erlösungswerk für vollbracht hielt, merkte er, wie immer neue Seelen nachdrängten, und er begriff, daß das Leiden ewig währt. Da barst sein Schädel in hundert Stücke. Der Buddha ‚Od dpag med schritt freilich ein und formte aus den Schädelfragmenten elf Köpfe, die er dem Rumpf des Spyan ras gzigs aufsetzte. Und Spyan ras gzigs sprach: „Darf ich, der ich nicht fähig war alle Geschöpfe aus dem Kreislauf der Wiedergeburten herauszulösen, um tausend Hände und tausend Augen bitten, tausend Hände wie von tausend Weltherrschern und tausend Augen wie die der tausend Buddhas unserer Epoche, um so allen Geschöpfen dienen zu können7.“ ‚Od dpag med erfüllte ihm diesen Wunsch.

In den Mythos des tausendarmigen, tausendäugigen Schutzheiligen sind alle Vorstellungen verwoben, die unser Prinzip begründen. Spyan ras gzigs verkündete das Mani-Mantra als eine Formel, die Silbe um Silbe die Aufenthalte der Seele im Kreislauf der Wiedergeburten verschließe8. Heilwirksam wie das „Om mani padme hum“ sein mag, soll es doch auch unaufhörlich daran erinnern, daß selbst der Mächtigste unter den Erleuchteten das eiserne Gesetz der Seelenwanderung nicht aufheben kann. Freilich heftet der Gläubige seine Erwartungen nicht nur an den einen Bodhisattva; Spyan ras gzigs ragt aus einer Heerschar von Schutzheiligen hervor, die allesamt mithelfen, die leidende Kreatur zu erlösen. Der lamaistische Kultraum widerspiegelt das für gewöhnlich in der Fülle seiner dicht an dicht stehenden Statuen, die eine geschlossene Formation im Kampf um die Rettung der Seelen zu bilden scheinen. Die vielen Statuen beieinander, ihr Guß, manche reichen in den hohen Tempelhallen bis unter die Decke, andere hingegen exzellieren durch Vielarmigkeit oder auch durch mehrere Häupter, verleihen der tibetischen buddhistischen Skulptur ihr eigentümliches Gepräge9. Auch die Malerei steht im Bann der großen Zahl und versammelt auf den Rollbildern (thang ka) und Wandgemälden manchmal ein ganzes Pantheon von Schutzheiligen, auf Rollbildern gelegentlich, deren Abmessungen die fünfzig Meter im Geviert überschreiten.

Das Prinzip der großen Zahl gilt für Mönche und Laien. Während sich aber die Mönche ganz der „Ansammlung“ widmen können, müssen die Laien ihr frommes Tun dem Broterwerb unterordnen. Der Lamaismus weist nun den Laien einen Weg, ihr karges religiöses Verdienst doch noch aufzubessern: sie sollen „Gabenherren“ (sbyin bdag) sein. „Gabenherr“ sein heißt, die Mönchsgemeinde nach Kräften wirtschaftlich zu unterstützen, für ihren Erhalt zu sorgen und Kinder, Söhne vor allem, zum Klosterleben zu bestimmen, (Töchter stehen dabei weniger hoch im Kurs; Nonnen gab es in Tibet immer nur wenige). In der traditionellen lamaistischen Gesellschaft war es wohl die Regel, daß die mit mehreren Söhnen gesegnete Familie nur einen Knaben bei sich großzog, die anderen aber einem Kloster überantwortete. Zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts beobachtete der erste europäische Reisende in Tibet, der katholische Missionar Andrade: „Lambas seynd ihre Pfaffen, deren haben sie eine große Anzahl … ein Vatter der zween Söhn hat, macht den einen zu einem Lamba10.“ Ein genaueres Bild davon, wie sich Geistlichkeit und Laien statistisch aufteilten, zeigt eine im Jahre 1737 von der chinesischen Regierung veranstaltete Volkszählung. Man zählte in Tibet 127.190 weltliche Haushalte und 316.200 Lamas, ein Verhältnis also von zehn Haushalten zu fünfundzwanzig Mönchen11. Diese eigenartige Bevölkerungsstruktur blieb bis zur kommunistischen Machtübernahme im wesentlichen erhalten.

Nur wenige Mönche sorgten selbst für ihren Unterhalt. Die meisten verließen sich völlig auf die „Gabenherren“, welche nicht bloß die nötige Nahrung, sondern auch alle Kostbarkeiten herbeischafften, die das Land zu bieten hatte. In den älteren Berichten aus Tibet erwähnen die Verfasser immer wieder erstaunt, daß die Bauern und Hirten einen Gutteil ihrer kargen Einkünfte freiwillig in die Klöster tragen. Ippolito Desideri notierte sich die reichen Gaben, die während einer Festlichkeit in Lhasa ausgestellt und dann an die Lamas verteilt wurden. Er merkte dazu an: „Was das alles kostet, kann nur jemand wissen, der in Tibet gewesen ist; ich aber will keine Summe nennen, damit man mich nicht der Übertreibung beschuldige12.“ Pater Huc wiederum nannte die tibetischen Klöster „ungeheure Aufnahmebecken, in welche alle Reichthümer der großen mittelasiatischen Länder aus tausend Kanälen einmünden13.“ Zweifach also unterwarf sich der fromme Laie dem Prinzip der großen Zahl: einmal durch religiöse Übungen, dann aber vor allem durch Arbeit, von deren Ertrag möglichst viel der Mönchsgemeinde zugute kommen sollte.

Die Vorstellung vom Gläubigen, der bei seinem Tode über ein bestimmtes Guthaben frommer Werke gebiete, woran seine Seele gemessen werde, zeichnet nicht nur den Lamaismus aus, sie findet sich ebenso in den übrigen buddhistischen Schulen, auch im Hinduismus, im Islam und im Katholizismus, in allen Religionen nämlich, die zum Kult den Rosenkranz verwenden. Das Bekenntnis zur Werkheiligkeit ist also weit verbreitet. Und doch konnte nur die lamaistische Lehre dem Prinzip der großen Zahl uneingeschränkt Geltung verschaffen. Zum Unterschied: im zwölften Jahrhundert führte die römische Kirche den Rosenkranz ein, zu einer Zeit, als sie die Werkheiligkeit hervorzuheben und den Ablaßhandel einzurichten begann. Fraglos gelang es dem Klerus damals, das Volk zu größerer Verdienstlichkeit anzuspornen. Daß aber der Eifer gewisse Grenzen einhielt, ergab sich aus einem Glauben, der die guten Werke als ein Abtragen von Sünde begreift; ist die Schuld erst einmal getilgt, braucht der Mensch nicht mehr um sein Seelenheil zu fürchten. Die günstigen Angebote im Ablaßhandel, vor allem die preiswerten Generalablässe, versetzten den Christen des späten Mittelalters in eine behagliche Lage, verglichen mit dem Los des Buddhisten, der unentwegt Verdienste auftürmen muß, um für künftige Wiedergeburten gerüstet zu sein.
Wo immer auch in bäuerlichen Gesellschaften die Werkheiligkeit gepredigt wurde, keimte ein Konflikt zwischen Religion und Staat. Der Staat widersetzte sich einer Lehre, die das Volk durch fromme Übungen von der Arbeit abhielt und ihm Bauern, Hirten, Handwerker und Soldaten entzog, Männer, die dann in Beschaulichkeit als Mönche lebten. Wenn der Zwiespalt offen ausbrach, versuchte der Staat die religiösen Wucherungen durch eine Säkularisation zu beschneiden, in buddhistischen Ländern oft durch die Entfernung „unwürdiger“ Mönche aus den Konventen und Enteignung der Klostergüter, des Grundbesitzes zumal und der metallenen Statuen, Glocken und Opfergefäße. Diese wurden eingeschmolzen, um einer Verknappung von Silber, Gold, Kupfer und Zinn auf dem Markt entgegenzuwirken.

In Tibet blieben solche staatlichen Eingriffe aus, weil hier der Konflikt zwischen den „beiden Ordnungen“ (lugs gnyis), Religion und Staat, zugunsten der Religion gelöst war. So konnte sich die lamaistische Religiosität im Zeichen der großen Zahl entfalten, ohne durch das „Gesetz des Königs“ (rgyal khrims) eingeschränkt zu werden. Nur auf der Seite der Kloster gab es eine gewisse Begrenzung. Die allgemeine Frömmigkeit sollte nämlich nicht dahin führen, daß sich mehr Menschen in die klösterlichen Gemeinschaften drängten, als die übrig gebliebenen „Gabenherrn“ zu ernähren vermochten. So regelte die geistliche Hierarchie die Aufnahme ins Noviziat, auch mit der Absicht, den Zulauf aus der Dorfarmut in die Kloster einzudämmen.

Die Sorge um die Buchhaltung der Seele entfernt die Menschen von profanen Dingen. „Die Tibeter sind nur mit frommen Werken beschäftigt und daher leicht zu beherrschen“, unterrichtet ein chinesisches Handbuch aus dem Jahre 1792 seine Leser und erinnert an die Zeit, wo der Buddhismus in dem Bergvolk noch nicht verwurzelt und tibetische Heere bis in die kaiserliche Hauptstadt vorgedrungen waren14. Erst als die Tibeter alle Anstrengungen auf das religiöse Leben richteten und sich darin erschöpften, führte ihr Weg in die gegenwärtige Abhängigkeit. Noch im Sterben soll der Gläubige um seine Verdienstlichkeit bangen und hoffen, daß sich möglichst viele Geier auf dem Totenacker versammeln, wenn sein Leichnam zerstückelt und über das Feld zerstreut wird.

Zuerst veröffentlicht in: Der Weg zum Dach der Welt, Hg. Claudius C. Müller und Walter Raunig, Innsbruck 1982 :308 – 314.

  1. Laien und Mönche sind auf verschiedene Weise dem Prinzip der großen Zahl verbunden, nur mechanistisch die einen, die anderen durch eine verästelte mystische Spekulation. Schon beim Abbeten des Rosenkranzes scheiden sich die Auffassungen: die Laien und die schlichteren Köpfe unter den Mönchen erklären, daß sie um hundert Gebete zu sammeln, hundertacht Perlen bewegen; die acht Perlen mehr sollen eventuelle Zählfehler ausgleichen. Für die Schriftgelehrten hingegen hat der Numerus 108 eine mystische Qualität, die sich aus 1 x 2 x 2 x 3 x 3 x 3 oder auch aus 9 x 12 herleitet, wobei die Neun for die Planeten, die Zwölf for die Tierkreiszeichen steht. Zum Gebrauch des Rosenkranzes: L. A. Waddell, Lamaic Rosaries: their Kinds and Uses, in Journal of the Asiatic Society of Bengal, Bd. 61 (1892): 24 ff. und Willibald Kirfel, Der Rosenkranz, Ursprung und Ausbreitung, Walldorf 1949.
  2. La dvags rgyal rabs in A. H. Francke, Antiquities of Indian Tibet, Bd. 2, New Delhi 1972 (1926): 108 ff.
  3. Über diese Bauwerke: Gisbert Combaz, L’évolution du Stupa en Asie, in Mélanges chinois et bouddhiques publiés par l’Institut Belge des Hautes Etudes Chinoises, Bd. 11: 163 ff., Bd. 111: 93 ff. und Guiseppe Tucci, Tibet, München 1973: 114 ff.
  4. Nur in der Science Fiction betreiben tibetische Mönche ihre Gebetsmühlen mit einem Dieselgenerator: Arthur C. Clarke, Die neun Milliarden Namen Gottes, in Heyne Science Fiction Jahresband 1982: 454.
  5. Evariste Régis Huc, Wanderungen durch die Mongolei nach Thibet zur Hauptstadt des Tale Lama, Leipzig 1855: 149 f.
  6. Vgl. Robert B. Ekvall, Religious Observances in Tibet: Patterns and Function, Chicago 1964: 213 ff.
  7. Mani bka‘ ‚bum, 4. Kapitel, in: William W. Rockhill, Notes on Tibet, New Delhi 1977: 17.
  8. Om versperrt das Tor zur Götterwelt; die Aufnahme unter die Halbgötter verhindert mani schirmt gegen die Menschenwelt ab, pad gegen das Tierreich; vor den Hungergespenstern bewahrt mehum aber versperrt die Pforten zur Hölle.
  9. Dazu auch: P. H. Pott, Plural Forms of Buddhist Iconography, in India AntiquaFestschrift für Jean Philippe Vogel, Leiden 1947: 284 ff.
  10. Antonius de Andrade, Beschreibung einer weiten und gefährlichen Raiß, Augsburg 1627, o. S.
  11. Wei Yuan, Sheng wu ji (Si bu bei yao), 5. Kapitel: 20b. Weitere statistische Angaben in William W. Rockhill, Tibet. A Sketch derived from Chinese Sources, in Journal of the Royal Asiatic Society, 1891: 13 f., und R. A. Stein, La civilisation tibétaine, Paris 1962: 84.
  12. Filippo de Filippi (Hg.), An Account of Tibet. The Travels of Ippolito Desideri of Pistoia, S. J., 17121727, London 1932: 207.
  13. Huc, ibid: 262.
  14. Ma Shaoyun, Sheng Meiqi, Weizang tuzhi (Qianlong 57. Jahr), Zhilüe A: 7b.